Entschuldigt bitte, dass wir hier in der Mehrzahl, also quasi im Plu-ralis Majestatis zu euch sprechen, aber erstens sind wir deutlich mächtiger als ihr und zweitens ergeben wir im Singular, als Einzelnes also, schlichtweg keinen Sinn.

Entschuldigt bitte weiter, dass im Laufe dieses Plädoyers detailliert die Rede sein wird von Knötchen im menschlichen Atmungsorgan, ein Umstand, der sich in jene der zarteren Seelen, die das hier lesen, als Erinnerung regelrecht einfräsen kann, fast so, als wäre der Blick ungeschützt in die Sonne gefallen. Deshalb an dieser Stelle eine  – wie heißt das noch gleich? – Triggerwarnung, verbunden mit der Empfehlung, vielleicht besser nicht weiterzulesen.

Erlaubt, dass wir uns erst einmal vorstellen. Wir sind’s, der weiße Tod. Die tödlichste Infektionskrankheit aller Zeiten. Eine Geißel der Mensch-heit. Grund für das Ableben von eins Komma drei Millionen Menschen allein im vergangenen Jahr. Oder, falls Sie von großen Zahlen nicht genug bekommen können: Ursache von einer Milliarde vorzeitig be-endeter Menschenleben seit dem Jahr 1900. Darunter George Orwell, Simone Weil und Franz Kafka. Gestatten: Tuberkulose.

Die Wissenschaft kennt uns unter dem Namen Mycobacterium tu-berculosis. Wir sind Einzeller, die als Parasiten diffamiert werden, treten aber selbstverständlich nicht einzellend auf. Vielleicht liegt hier, wenn wir es recht bedenken, der eigentliche Unterschied zwi-schen euch und uns: dass wir uns des zellulär-kollektiven Aspekts unserer Existenz bewusst sind, während ihr das vergessen oder verdrängt habt und der Illusion nachhängt, Individuen zu sein, von der Außenwelt des restlichen Universums durch Schleim und Haut aseptisch getrennt. Vergessen habt ihr, dass das, was ihr Körper nennt, auch nur eine Ansammlung einzelner Zellen ist, also im Kern nichts anderes als wir. Zugegeben, das Zusammenspiel eurer kleins-ten Bausteine erscheint wohlorchestriert und ist ganz manierlich anzusehen, nur leider habt ihr trotz oder wegen eures großen Ge-hirns, das euch die ganze Zeit ein Ego vorgaukelt, vergessen, dass ihr bestimmt zur Hälfte gar nicht ihr selbst seid, weil ihr kolonisiert wurdet von Myriaden eigenständiger und manchmal auch eigen-sinniger Kleinstlebewesen wie uns, die an oder in euch eine kollek-tive gleichberechtigte Existenz führen.

Was ihr als Körper erlebt, ist bloß ein Kommen und Gehen von be­lebter und unbelebter Materie in allen verfügbaren Aggregatzustän­den. Ein Werden und Vergehen, denn das ist der Lauf der Dinge hier auf diesem Planeten, seit der Ursuppe, in der wir gemeinsam schwam­men vor Milliarden von Jahren. Wart ihr nicht die Mikrobe, die den Sex erfunden hat, indem sie auf die Idee kam, das soeben einver­leibte andere Mikröbchen nicht zu verdauen, sondern mit ihm zu kooperieren und sich erst nach Bildung eines gemeinsam gemisch­ten Erbgutes zu teilen? Coole Idee. Na ja, lange her.

Heute lebt ihr mit vielen mikrobiellen Begleitern harmonisch zusam­men, mit manchen sogar symbiotisch, sodass sie aus eurer Sicht friedlich erscheinen. Mit uns lebt ihr nicht so, denn mit uns seid ihr im Krieg. Ihr mit uns, wohlgemerkt, nicht wir mit euch. Denn uns geht es nicht ums Siegen oder Zerstören, um Vorherrschaft oder Macht. Das sind Konzepte, die durch eure Köpfe schwirren und sie vernebeln, während wir unbemerkt durch eure Körper schwimmen und uns vermehren. Uns käme es nicht in den Sinn, übereinander herzufallen. Oder uns, motiviert durch krude Ideologien, darüber zu streiten, wer nun welches Lungenbläschen besiedeln darf. Wir agieren als Kol­lektiv und Kooperation ist unsere Stärke. Nur mit euch kooperieren wir nicht. Wir mögen ein Erreger öffentlichen Ärgernisses sein, doch wir setzen keine moralische Agenda, wir verfolgen keinen Plan und wir bestrafen niemanden. Wer uns in sich trägt, trägt daran keine Schuld.

Aus unserer Sicht ähnelt ihr eher Ökosystemen und Lebensräumen, die wir besiedeln, die uns nähren, uns die kollektive Fortpflanzung erlauben und uns durch Raum und Zeit tragen. Für uns seid ihr das, was für euch die Erde ist, jeder Mensch ein eigener Planet. Hundert Milliarden Exemplare von euch haben im Lauf der Äonen diesen Planeten besiedelt, hundert Milliarden Exemplare von uns passen in die Tränen, die ihr vergießt, wenn die Besiedelung eines euch emotional nahestehenden Wesens durch uns außer Kontrolle ge­raten ist.

Der Kontrollverlust bewirkt einen Kollateralschaden. Vorsätzlich den eigenen Lebensraum zu zerstören? Geh, bitte. So etwas macht doch nur ihr, oder? Lebt ihr etwa in friedlicher Koexistenz mit dem euch ernährenden Ökosystem? Wir wollen nicht zu sehr schimpfen, denn auch in dieser Ambivalenz ähneln wir uns. Denn hin und wieder machen wir das Gleiche mit euch, was ihr mit dem Planeten macht: exponentielles Wachstum, bis das Gesamtsystem nicht mehr kann.

Aber anders als ihr Menschen, die ihr immer etwas sofort wollt und alles verzehrt und verbrennt, als ob es kein Morgen gäbe, weil ihr eure Triebe namens Hunger, Gier und Sex nicht mäßigen könnt, anders als ihr also, nehmen wir uns Zeit. Wir vermehren uns durch Teilung – schwupps, sind wir zu zweit – aber wir erlauben uns das nur einmal alle vierundzwanzig Stunden. Andere Mikroben mögen über unser gemächliches Tempo spotten. Wir finden: In der Ruhe liegt unsere Macht.

Sobald unsere Raumkapsel, dieses für euch unsichtbare Wasser­tröpfchen, an der Schleimhaut eurer Lunge landet, haben wir ge­wonnen. Hach ja, das Anlanden in einer gesunden Lunge. Bei uns löst dieser Gedanke vermutlich die gleiche Vorfreude aus wie bei euch die Fantasie von einem einsamen Sandstrand oder unberühr­ten Tiefschneehang. Aber wie das so ist mit dem Paradies: Lange bleibt man nicht allein. In unserem Fall treten Makrophagen auf den Plan, Riesenfresszellen eures Immunsystems, und sie tun, was ihnen aufgetragen und einprogrammiert wurde: uns fressen.

Doch uns macht das Gefressenwerden nichts aus. Von außen be­trachtet könnte man fast meinen, das sei Teil unseres Plans, denn unsere Außenhaut besteht aus einer wachsähnlichen Schicht, durch­setzt mit langfettigen Fettsäuren, die unseren Namen tragen, und beide Substanzen bewirken, dass eure Abwehrzellen uns zwar fres­sen, aber nicht verdauen können. Wir sind resistent gegen die Säu­re, in der eure Fresszellen Eindringlinge üblicherweise auflösen.

Während wir uns in aller Gelassenheit vermehren, eilen immer mehr weiße Blutkörperchen und Lymphozyten heran, schließen uns ein und kapseln uns ab. Mit der Zeit bilden wir im Kampf mit und gegen eure Fresszellen etwas, das ihr Granulom nennt, eine Art Gefange­nenlager für unliebsame Eindringlinge. Und im Kern eines Granuloms tobt eine Schlacht. Wer setzt sich durch? Eure hauseigene Immun­abwehr oder wir, die Eindringlinge?

In einem »soliden Granulom« behalten eure Zellen die Oberhand. Die Infektion endet mit einem Patt. Wir vermehren uns nicht weiter, weil uns der Sauerstoff ausgeht, und fallen in eine Art Winterschlaf, während eure Immunzellen uns gefangen halten.

Doch manchmal bilden wir im Lager einen unkontrollierbaren Kern aus, eine Nekrose. Das ist unser Friedhof, denn wir leben ja auch nicht ewig. »Verkäsende Nekrose« haben eure Mediziner diese Ker­ne in ihrem Endstadium genannt, ein recht bildhaft-saftiger Begriff, wie wir meinen, weil wir in diesem Zustand an Weichkäse erinnern. Wir haben uns in ein Potpourri aus toten Wirtszellen und abgestor­benen Keimen verwandelt. Ein hervorragender Nährboden für neue kleine Mycobakterien, süß.

Wie eingangs erwähnt, mag die Vorstellung einer Lunge, die von Knötchen durchsetzt ist, die mit weichkäsiger Masse gefüllt sind, recht ekelhaft erscheinen, aber so endet die Besiedelung durch uns in den allermeisten Fällen nun mal. Das ist die Natur.

Solide Gefangenenlager, die in einem Gleichgewicht des Schreckens verharren, existieren in jedem vierten Menschen. Ja, sie haben rich­tig gelesen: Zwei Milliarden Menschen auf diesem Planeten halten wir auf diese Weise besetzt. Ein Zustand, der Jahre anhalten kann oder Jahrzehnte. Wir haben es nicht eilig.

Doch hin und wieder brechen wir aus. Im Kollektiv reißen wir dann die Mauern unserer Gefangenenlager nieder, breiten uns explosions­artig aus und versetzen eure Körper in Alarm. Dann fühlt ihr euch krank. In diesem Zustand, den ihr »offene Tuberkulose« nennt, wer­den wir lebensbedrohlich für euch. Zwischen einer und zwei Millionen Menschen hauchen jedes Jahr ihr Leben aus wegen uns, weil wir ein Organ nach dem anderen besiedeln.

Flüssigkeit steht in der Lunge. Euer Immunsystem reagiert panisch. Und längst tut ihr das, was wir wollen: husten, manchmal mit Blut darin. Ihr hustet und hustet und hustet Myriaden kleiner Tröpfchen in die Welt hinaus. Tröpfchen, in denen wir zu Abertausenden sitzen und in denen wir durch die Luft schweben, in der nur selten erfüllten Hoffnung, von einem unbekannten Mund in eine neue Luftröhre ge­saugt zu werden und an einer gesunden Lunge anzulanden.

Es sind die Schwachen und Unterernährten unter euch, die auf engstem Raum leben müssen und sich keinen Arzt leisten können, deren geschwächte Immunsysteme uns nicht unter Kontrolle halten können. Vor allem in Asien und den Kontinenten des Südens be­siedeln wir die Menschen. Und weil die dort arm gehalten werden von den Stärkeren unter euch, können sie sich die Medikamente nicht leisten, mit deren Einnahme sie uns besiegen könnten.

In Nordamerika hat eines von achtundreißigtausend menschlichen Wesen eine offene Tuberkulose. In Deutschland eines von zwanzig­tausend. In Indien eines von fünfhundert. Und unter den Obdach­losen von Delhi eines von zwölf.

Ihr könnt Lungen durchleuchten lassen mit Geräten, die in einen Rucksack passen. Ihr habt intelligente Computer, welche die Bilder genauso gut deuten können wie ein Facharzt. Ihr habt neue Anti­biotika, die billiger sind und schneller wirken, sodass sie nicht länger über Monate täglich eingenommen werden müssen. Ihr habt Schnell­tests und bald sogar einen neuen Impfstoff. Ihr habt alle Waffen, die ihr braucht, in der Hand. Und ihr drückt nicht ab.

Anstelle eines kollektiven, globalen medizinischen Kraftaktes bezahlt ihr lieber Heerscharen von Schönheitschirurgen. Es gibt nicht genug Profit zu machen mit einem neuen Antibiotikum, das ist der un­menschliche Grund. Dabei sind wir es doch gewesen, die euch Frauen in den Augen von euch Männern schön gemacht haben: blasser Teint, eingefallene Wangen und große, traurige Augen. Schaut euch im Bahnhofskiosk die Titelbilder der Modemagazine an, dann könnt ihr uns sehen. Und wenn ihr das nicht glaubt, googelt mal »Schwindsucht und Schönheit«. Nein, tut es lieber nicht.

Wir entgehen eurer Aufmerksamkeit, weil wir keine Sensation sind wie Covid-19, das euch kollektiv in Panik versetzt hat. Ihr Angsthasen! Und der schwarze Tod, na ja. Wir hatten nie so einen großen Auftritt wie dieses Corona-Virus und stehen nicht so prominent im Ge­schichtsbuch wie die Pest. Wir begleiten euch, seit ihr das Feuer erfunden habt. Und doch seid ihr, bei all eurer technologischen Überlegenheit, nicht mitgewachsen. Weil ihr nicht kollektiv denken und handeln könnt. Ihr seid viele kleine Ichs. Wir sind noch kleiner, aber wir sind ein großes Wir.

Und? Wer ist jetzt stärker?

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