Du bist am Ende – was du bist.
Setz’ dir Perrücken auf von Millionen Locken,
Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer was du bist.
(Mephistopheles in »Faust: Der Tragödie erster Teil«
von Johann Wolfgang von Goethe)

Es ist leicht, dem Irrglauben zu verfallen, dass wir als Gesellschaft heute peak Dress to Impress betreiben, uns so sehr verkleiden und verstellen wie noch nie. Natürlich: Heute haben wir zwei Leben, das richtige (sogenannte IRL, »in real life«) und das andere, das dank Filtern einen völlig anderen, manchmal grotesk besseren Blick auf uns erlaubt. Es ist schon vorgekommen, dass man Menschen, die man nur aus den sozialen Medien kennt, IRL nicht erkennt, was umso befremdlicher ist, weil man weiß, was sie zum Frühstück gegessen haben. »Aha, so sieht der/die also wirklich aus«, ist eine Erkenntnis mit psychologischem Add-on, denn die Masken, die wir aufsetzen, decken viel auf: Während sie die physische Realität verbergen oder verstellen, geben sie sehr viel Aufschluss darüber, wie die Person gesehen werden möchte. »Eine Maske sagt uns mehr als ein Gesicht«, wusste schon Oscar Wilde.

Heute kann man sich dank des technologischen Fortschritts in einem Schwups die Augenbrauen dichter, das Haar voller, die Lippen praller und das Näschen kleiner ziehen. Man kann ohne Risiko eine neue Haarfarbe oder Frisur probieren. Man kann auch IRL-Filter draufpacken, frei nach dem Motto »you’re not ugly, you’re just poor« chirurgisch und nichtinvasiv Gesichts- und Körperteile umformen sowie nach Gusto gestalten lassen. Das alles bedeutet nicht, dass wir so eitel sind wie nie zuvor, sondern nur, dass wir bessere Möglichkeiten haben, diese Eitelkeit auszuleben.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts starben allein in England mindestens dreitausend Frauen, weil ihre Krinolinen in Brand geraten waren. Oscar Wildes Halbschwestern kamen so ums Leben: Auf einem Ball fing Marys Krinoline Feuer und entfachte das Kleid der zu Hilfe eilenden Emily gleich mit. Beide erlagen ihren Verletzungen. Die riesigen Unterrockgestelle mit Saumumfängen von bis zu acht Metern konnten sich auch in Kutschenrädern oder Maschinen verfangen.
Korsetts wurden so eng geschnürt, dass sie Ohnmachtsanfälle, Übelkeit und Verlagerungen von Organen verursachten. Im Humpelrock – nomen est omen: ein langer, Richtung Knöcheln eng zulaufender Rock – kamen Frauen nur in Trippelschritten vorwärts, fielen reihenweise die Treppen hinunter und konnten nicht in Züge einsteigen. Und das alles nur, weil sich alle einig waren darin, eine ausladende Hüfte sowie eine besonders schmale Taille und Silhouette haben zu wollen.
Heutzutage gibt es vielleicht nicht eine ganz so einheitliche Mode, doch natürlich helfen wir alle auf irgendeine Art und Weise nach, um unser Äußeres zu optimieren. Das lässt sich nach aktuellem Stand in vier menschlichen Wünschen und Zielen zusammenfassen:

SICH GRÖSSER MACHEN

Wir beginnen mit einer Ungerechtigkeit im Sinne der Gleichberechtigung: Frauen dürfen heute so hohe Absätze tragen, wie sie wollen, und bis 1730 war das auch bei Männern okay (im weitesten Sinne okay ist es immer noch, aber nicht so gängig wie zum Beispiel zu Zeiten des High-Heel-Königs Louis XIV.) Wie andere Männer damals stand der Sonnenkönig darauf, seine Beine zu betonen, und zwar in weißen Strumpfhosen und mit hohen Hacken: Er und die Adeligen, deren exklusives Recht es war, Absätze zu tragen – je röter und höher, umso adliger –, posierten auch tagelang darin, damit auf den Gemälden die wohlgeformten Waden gut rüberkamen. Da soll bitte noch eine:r über die heutige Jugend und ihren Filterwahn schimpfen!

Von der persischen Kavallerie im 10. Jahrhundert angefangen trugen Männer Absätze. Doch wenn man heute Tom Cruise in Elevator Shoes oder Emmanuel Macron in Cuban Heels sieht, wird das mit einer Mischung aus Spott und Schadenfreude belächelt: Wenn Männer, die mit so viel Macht beziehungsweise Ruhm ausgestattet sind, sich durch ihre Schuhwahl dennoch im Innersten klein und verletzlich zeigen, wirft das ein höchst menschliches Licht auf sie, wenn auch nicht das schmeichelhafteste. Beide wollen größer wirken: Bei Cruise und seinen Elevator Shoes kommt ein Element des Tricksens hinzu, denn die Absätze darin sind nicht sichtbar. Was Macron und seine Cuban Heels angeht: Als die Beatles die Chelsea Boots mit kubanischem Absatz in den späten 60er Jahren populär machten, waren die an Coolness nicht zu übertreffen. Klar, weil es um Style ging und nicht darum, sich ein paar Zentimeter dazuzuschummeln.
Deshalb gilt: Absatz gern, unabhängig vom Geschlecht, aber nur weil man Lust darauf hat und nicht Angst, neben der Partnerin oder dem turmhohen Außenminister klein zu wirken.

SICH SCHLANKER (UND/ODER RUNDER) MACHEN

Ja, beides fällt unter die gleiche Kategorie, denn hier kann man mit figurformender Unterwäsche Erstaunliches erreichen. Spanx ist inzwischen von keinem roten Teppich wegzudenken und eine echte Erfolgsgeschichte: Die Firma wurde im Jahr 2000 mit einem Startkapital von fünftausend US-Dollar gegründet und 2019 mit etwa einer Milliarde Dollar bewertet. Spanx – es gibt inzwischen etliche Nachahmer – ist eine Art fester Strumpfhosenstoff, in den man sich winden und pressen muss, und der dann nicht nur physisch, sondern auch psychisch wirkt: Alles wird ausbügelt und »snatched«, man fühlt sich, als hätte man alles unter Kontrolle und muss nicht den Bauch einziehen, weil das die Unterwäsche schon übernimmt. Auch die Sängerin Adele, die seit ihrem sechzehnten Lebensjahr Spanx trägt, ist ein Fan: »Ich weiß, dass sie nicht sexy sind. Ich möchte mich eben in all meinen Kleidern sicher fühlen«, sagte sie einmal auf einem roten Teppich, während sie ihr Kleid hochzog und ihre Shapewear enthüllte. Das wiederum wirkt sexy und gelassen: einfach zugeben, dass man gespanxt ist.

Wer hingegen Rundungen zaubern will, wo gar keine sind, kann dies auch mit verschiedenen Paddings erreichen: in BHs oder Butt-Lift-Höschen. Ist auf jeden Fall sicherer, billiger und nicht so final wie eine OP.

SICH VOLLEREN HAARES MACHEN

Der Anblick von Donald Trump wirft immer noch Fragen auf: Warum ist er so orange? Was macht er da nur mit seinen Haaren? Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass das sogenannte Comb-over in hundert Prozent der Fälle schiefgeht! (Womöglich hat Mr. President aber seine eigenen Wissenschaftler auf die Sache angesetzt und die kommen dann vermutlich zu einem alternativen Ergebnis.) Das Comb-over, das Überkämmen, ist eine Art groteske Herrenfrisur, bei der länger gewachsenes Haar über den haarlosen Bereich gelegt wird, um die Kopfhaut weniger sichtbar zu machen. Manchmal wird der Scheitel extra tiefer gelegt, damit mehr Haare den Kopf bedecken können. Wie gesagt: Noch nie hat jemand beim Anblick eines Comb-overs gedacht: »Sieh an, welch volles Haupthaar!«, sondern allerhöchstens, und das ist schon der zugewandteste Fall einer Reaktion: »Sieh an, ein Comb-over!«

Inzwischen gibt es auch die neue Variante: die unnatürlich gerade, wie mit dem Lineal gezogene Haarlinie nach einer Haartransplantation, und/oder sichtbare Plugs. Eitelkeit in Sachen Haare ist nachvollziehbar, tatsächlich setzen auch die meisten weiblichen Stars auf Haarteile, Bondings und Hairtapes, die wunderbar wirken, weil man sie – Achtung, wichtig – nicht sieht! Man darf also schummeln, aber wie IRL gilt auch: nicht erwischt werden.

SICH JÜNGER MACHEN

Ach ja, in Würde altern. So ein stumpfer Allgemeinplatz. Hört sich gut an, sagt aber eigentlich: aufgeben. Ist jetzt eh schon alles egal. Dem Verfall entgegenzuwirken ist ein natürlicher Instinkt, oder, um es mit Goethe zu sagen: »Was ist der Mensch für eine elende Kreatur, wenn er alle Eitelkeit abgelegt hat!« Wenn Eitelkeit die Hauptmotivation ist, auf sich zu achten und nicht aufzugeben, was gibt es denn überhaupt dagegen einzuwenden?

In den sozialen Medien kann man einfach einen Filter drüberlegen: Falten weg, Glow an. Das ist verführerisch, birgt aber auch Gefahren, denn diese Version, die man da sieht, hat nichts mit der im Spiegel oder gar mit der zu tun, wenn man aus Versehen die Frontkamera anmacht und sich von unten sieht. Das kann zu viel Diskrepanz darstellen für ein herkömmliches menschliches Gehirn.

Vielleicht vergleicht man sich sogar mit anderen, und das kann eigentlich nur miserabel enden, denn »Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit«, warnte Søren Kierkegaard schon lange vor Instagram und Co. Am besten lässt sich diese Falle umgehen, indem man die so angesagte »beste Version von sich« anstrebt: Wenn die nicht jung ist, ist sie es eben nicht. Wenn ihr ein harmloser Filter gut zu Gesicht steht: na und?
»Nicht einmal ich wache auf und sehe aus wie Cindy Crawford«, sagte mal Cindy Crawford, und wenn es ums Aussehen geht, haben Supermodels häufig recht. Vielleicht ist es kein Wunder, dass das angesagteste Videospiel des Jahres 2024 »Dress to Impress« heißt: ein Spiel, das eben auch IRL Spaß macht.

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