Eigentlich wollte man doch nur einen Spiegel kaufen. Möglichst billig, möglichst umweltfreundlich – gebraucht. Lokal. Man besucht die lokalen Online-Marktplätze. Und dort wollten sie doch nur einen Spiegel verkaufen. Aber mit dem Privatverkauf von Spiegeln wird viel mehr zur Schau gestellt als das, was verkauft wird. Den meisten Verkäufer:innen scheint ihre Privatsphäre doch ein Anliegen zu sein, was sie zu gymnastischen Verrenkungen und improvisierten Verkleidungen verleitet. Andere, scheinbar gelangweilt, gewähren missmutig ihren neugierigen Handys einen Blick. Verkaufende Künstler:innen geben sich wiederum große Mühe, mit ihrem Spiegel surreale Landschaften zu erschaffen, in denen man als potenzielle Käufer:in nach dem Objekt suchen muss. Manche der Verkäufer:innen vervielfältigen hierbei ihre Gesichter in einem Kaleidoskop von Spiegelungen. Exhibitionistisch Veranlagte stellen dabei nicht nur den Spiegel, sondern auch ganz ungeniert ihre Vorzüge zur Schau. Alles für einen schnellen Umsatz. Dies sind die Schnappschüsse, die wirklich tiefe Einblicke gewähren. Vieles lässt sich aus der Spiegelwelt erahnen, und dabei kann man als Käufer:in schnell eine Backstory zu den jeweiligen Verkäufer:innen bauen: Der tätowierte, oberkörperfreie Kerl, dessen Zigarette lässig an seiner Unterlippe baumelt, während er auf seinem Handy spielt, bemerkt wohl schon lange die Sorgen seiner Partnerin nicht mehr. Diese, frisch geduscht, hat plötzlich erkannt, dass der Verkauf des runden Spiegels, der eh nie aufgehängt wurde, seitdem sie zusammengezogen sind, der erste Schritt zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit sein könnte. In einem anderen Leben scheint nur der Hund bemerkt zu haben, dass der Teppich, auf dem der angebotene Spiegel steht, von Hundekot übersät ist. Das zeigt sein überraschter Blick. Aber ihm ist es weniger peinlich, dass er es war (hoffentlich), sondern eher, dass der Typ im Spiegelbild sich nicht die Zeit genommen hat, das Drecksloch aufzuräumen. Zumindest hätte er das tun können, bevor er anfing zu fotografieren, denn jetzt darf der Hund nicht durchs Bild laufen, und auch wenn – der Boden ist voller Scheiße. Man verkauft nicht nur ein Produkt, sondern einen Einblick in das chaotische Geflecht des eigenen Lebens. Und das macht den Privatverkauf von Spiegeln für die Käufer:innen wirklich attraktiver gegenüber den üblichen Marktführern unter den Anbietern. Auf diese Weise kann man nicht nur etwas für die Umwelt, sondern auch für seine Mitmenschen tun – und für seine Neugierde.

 

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