In love with rAIner

Immer mehr Menschen machen sich lieber Illusionen, als sich an die Realität zu halten – warum eigentlich?


T Ella Carina Werner
K Jul Quanouai

 

Dass es im 21. Jahrhundert immer noch Menschen gibt, die ernsthaft die runde Form der Erde anzweifeln, hielt ich bislang für einen süßen Witz, aber dann las ich eine Studie: Ein Sechstel der US-amerikanischen Bevölkerung ist auch heute »nicht völlig von der Kugelform der Erde überzeugt«. Darunter befinden sich zahlreiche Hardliner, sogenannte Flatworlder, die sich unseren Planeten lieber als Scheibe vorstellen. Flatworlder gibt es natürlich auch in Deutschland, darunter der Sänger Xavier Naidoo. Der Wissenschaft zugeneigte Menschen finden dies natürlich seltsam und unverständlich, ja richtiggehend bekloppt – aber ich als Geschichtenerzählerin und Satirikerin kann das durchaus nachvollziehen und euch sagen, warum mehr und mehr Menschen solchen Mumpitz glauben: Weil es spannender ist! Wie aufregend ist denn bitte die Vorstellung, unsere Erde sei wirklich flach? Man denke nur an die Weltumsegelung. Wenn die Erde tatsächlich eine Art Pfannkuchen ist, irgendwo einen Außenrand hat und der Ozean wasserfallartig ins All stürzt, wie verrückt kann man dann bitte sein, beim großen »Vendée Globe«-Rennen mitzumachen? Da hisst der führende Skipper, wie die Fahrer heißen, sein Segel, hält geradewegs auf den Horizont zu und rauscht in seinem superteuren Segelboot, um das es dann am Ende natürlich schade ist, direkt auf den Abgrund zu. Näher kommt er dem Ozeanrand, und noch näher, ehe er mit einem Riesenwasserschwall für immer im Nichts verschwindet. Und auch der zweite, sein Verfolger, dem Weltranglisten-Ersten dicht auf den Fersen, hält mit seinem Boot geradewegs auf die Abbruchkante zu, stürzt und ward nie mehr gesehen, genau wie alle hundertfünfundsechzig weiteren Kandidat:innen des legendären Segelrennens ebenfalls. Das ist der Grund, warum Xavier Naidoo und fünfzig Millionen US-Amerikaner:innen nie an einer Weltumsegelung teilnehmen. Aber gelangt dieses traurige Massensterben je an die Öffentlichkeit? Wird dem lebensmüden Treiben ein Ende gesetzt? Natürlich nicht! Das grausige Schicksal der Segler:innen wird von der internationalen »Systempresse« vertuscht, um die Weltbevölkerung weiterhin im tumben Kugelglauben zu lassen. Vorstellbar für eingefleischte Flatworlder auch: Die Weltumsegelungsversuche finden gar nicht wirklich statt, sämtliche Touren werden auf dem Starnberger See oder gleich im Fernsehstudio gedreht, genau wie die Mondlandung.

Von der Kugelhaftigkeit der Erde überzeugt zu sein ist hingegen viel langweiliger, denn physikalisch und geographisch ist hier alles in sich stimmig: Die sichtbare Erdkrümmung, die Satellitenbilder aus dem All und dass die Sonne in China sieben Stunden früher als in Deutschland untergeht – alles passt astrein zusammen. Aber wer interessiert sich schon für Stimmigkeit? Was nicht »auserzählt«, was nicht beweisbar ist, ist geheimnisvoller. So viele schöne Fragen ranken sich um das Konzept der Erdscheibe: Wird sie beim Fracking in der Tiefsee eigentlich komplett durchbohrt? Da ohne einen Erdkern kaum Erdanziehungskraft existiert, warum tänzeln wir Menschen dann nicht wie schwerelos über die Erdoberfläche wie über den Mond? Und weil es auf einer flachen Erde keinerlei Zeitverschiebung gibt, warum wird dann das Silvesterfeuerwerk in China sieben Stunden eher im Fernsehen gezeigt als in Deutschland? Beziehungsweise anders und final gefragt: Wer steckt hinter dem ganzen Komplott? Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, irgendwelche gemeingefährlichen Demokraten oder gar die internationale Globus-Industrie, die mit ihren nutzlosen, überteuerten Weltkugeln dick Reibach machen und die Welt beherrschen will?

Auch die naseweisen Rückfragen von Flatworlder-Nachkommen mag man sich gern ausmalen. »Und was ist auf der Unterseite der Erde, Papa?« Der Vater – Impfgegner, Klimawandelleugner, fränkisches AfD-Mitglied – sitzt am Bett seiner siebenjährigen Tochter und denkt eine Weile nach. Natürlich weiß er die Antwort. »Vier große Elefanten, die wiederum auf dem Rücken einer Schildkröte stehen«. »Und was ist unter der Schildkröte, Papa?« »Ach, jetzt halt deinen Schnabel und schließ die Augen, du kleines Reptiloidchen! Aber wenn du magst, lese ich dir noch die schöne Geschichte vor, wie wir Menschen entstanden sind: von Gott geformt aus einem Klumpen Lehm.«

Auch mich als Komikproduzentin interessiert häufig das Irreale. Die spannendsten Dinge finden nun mal eher im Kopf statt als in der schnöden Außenwelt. Wäre ich Journalistin, ich würde genau wie Claas Relotius mir meine Spiegel-Reportagen komplett zusammenfabulieren, um sie aufregender, wilder zu machen. Nur gut, dass ich keine seriöse Journalistin bin!

Was mich ebenfalls fasziniert: Es gibt immer mehr »virtuelle Eskapisten«, zum Beispiel Menschen, die mittels der App »LoveGPT« oder sogenannten AI-Girlfriend-Apps virtuelle Liebesbeziehungen eingehen. Laut einer Umfrage kann sich bereits jeder vierte junge Mensch in Deutschland vorstellen, sich in eine künstliche Intelligenz zu verlieben. Ursprünglich gedacht, um in Gesprächen mit der KI das eigene Flirt- und Gesprächstalent einfach zu trainieren, gelten KI-Lover heute als »ideal für Personen mit begrenzten sozialen Interaktionen«, wie eine App es nennt, also als kompletter Partner:innen-Ersatz. Vorteil: Diesen kann man ganz nach eigenem Gusto eine makellose Optik verpassen, und alles, was sie antworten, ist zustimmend und wertschätzend. Nun ja, das mit der Optik kann ich durchaus verstehen, aber wie langweilig sind denn bitte notorisch nette Lover? Ich hätte lieber einen Bot, der zwar fantastisch aussieht, aber charakterlich ein störrischer Esel ist. »rAIner, machst du mir mal bitte ein schönes Kompliment?« »Och nee, jetzt gar keinen Bock drauf ... Wenn du Komplimente hören willst, schau dir einen schlechten Hugh-Grant-Film an. Ich will hier einfach in Ruhe ›Moby Dick‹ lesen und gut ist!« So einen widerspenstigen Bot würde auch ich sofort daten …

Was in Zeiten von immer umfangreicherem Einsatz von künstlicher Intelligenz, von Bildbearbeitungsprogrammen, VR-Brillen bis hin zu Geoengineering gilt: Wir Menschen können uns die Welt, wie Pippi Langstrumpf es fröhlich besang, immer mehr so machen, wie wir sie haben wollen. Und wenn wir wirklich eines Tages das Wetter verändern können, erschaffen wir uns damit nicht auch eine komplett neue Realität?

Am Ende halte ich es mit Woody Allen, der einmal sagte: »Ich hasse die Realität, aber sie ist immer noch der beste Ort, um ein gutes Steak zu bekommen.« Wobei gute Steaks, ob vegan aus Erbsenproteinen oder als Laborfleisch, zwar bislang nur in der Realität gegessen werden können, aber längst so artifiziell produziert werden können wie in Frankensteins Labor. Es bleibt also komplex. Prinzipiell spricht für mich ja gar nichts dagegen, wenn einzelne Menschen an die Scheibenwelt oder an die lustige christliche Schöpfungsgeschichte glauben. Aber wenn viele es tun, wird es problematisch, weil etwa die Leugnung der Evolution fast zwangsläufig auch die Leugnung biologischer Vielfalt und damit sexueller Diversität mit sich bringt – und die eigene Freiheit endet, wie phrasenhaft das auch immer klingen mag, ja bekanntlich dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.

 

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