Sie schlief schon seit einer Weile nicht mehr.
Und wenn sie doch mal schlief, träumte sie von blöden Sachen, von kleinen Hunden, die zu hunderten in die Wohnung einfielen und wütend kläfften. Bald wurde sie selbst ein Tier, sie hörte auf, die Wohnung zu putzen. Nachts war das Tier hellwach, aber nicht besonders aktiv.
Sie lag auf einer Gymnastikmatte auf dem Boden, ein paar zerstreute Bauchmuskelübungen, das war alles. Eigentlich schaute sie die meiste Zeit an die Zimmerdecke. Ein Stuckrelief klebte da, mehrere konzentrische Kreise, auf denen Blüten schwebten. Sie waren so oft mit Farbe überstrichen, dass sie aussahen wie Planeten. Sie kreisten auf ihren Bahnen, Tag und Nacht. Es war ganz angenehm, die Planeten anzusehen und sonst nicht viel.
Manchmal hörte Juno den Motor des Pflegebetts in Jupiters Zimmer brummen, dann wusste sie, er war noch wach, er verstellte das Kopfteil. Er musste es mitbekommen, wenn sie zur Toilette ging oder in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Aber Jupiter stellte nie Fragen, und was hätte sie auch antworten können?
Ich kann nicht mehr schlafen, weil mir alles zu viel wird. So was in der Art. Das war erstens falsch und hätte zweitens überhaupt nichts erklärt.
Manchmal nahm sie das Handy und öffnete Instagram. In den Feed schaute sie gar nicht erst, der war meistens langweilig. Lieber gleich in die Direct Messages. Eine glitzernde, hüpfende Neugier. War wieder eine Nachricht von Unbekannt da? In diesem Fall war das Wort »Anfrage« fett und blau.
Es war eigentlich fast jede Nacht fett und blau.
Hi Schönste / Hallo Hübsche / Hi du Sonnenschein, wie geht’s?
Die ihr da schrieben, hießen Jimmy Taylor_354 oder Marcus DeBuonaventura. Sie hießen Phil Gibson1973. William_Smith und Dr. Antonio Alessandro. Braungebrannte Typen vor Segelyachten, weiße, grauhaarige Männer mit Basecap und Dreitagebart.
Ein Cowboy in Stiefeln, der vor einer Ranch posierte. Ein US-Army-General im Kadettenkostüm. Ein Witwer mit zwei Kindern, in einer luxuriösen Küche buken sie Pancakes.
In Wahrheit saßen jüngere Männer in einem Internetcafé irgendwo weit weg und tippten kitschige Lügen in den Rechner oder ins Handy. Juno hatte mal eine Doku auf Youtube gesehen, man nannte das »Love-Scamming«. Es schien ein gutes Geschäft zu sein. Man schrieb ältere, scheinbar alleinstehende Frauen unter einem Fake-Profil an.
Ich sah dein Profilbild und war sofort hingerissen von dir.
Dann begannen die Love-Scammer, eine Beziehung anzubahnen.
Guten Morgen, meine Liebe.
Was hast du heute gegessen? Gib gut auf dich acht.
I love you.
Sticker mit roten Rosen. Sticker mit Kaffeetassen, auf denen »Love« stand.
Ein junger Mann wurde gefilmt, wie er gerade in einem Buch über psychische Manipulation las.
Ich vermisse dich so. Ich träume davon,
mein Leben mit dir zu verbringen.
Irgendwann baten die Love-Scammer die Frauen um Geld.
Ich bin unterwegs auf Geschäftsreise und hatte einen Unfall,
jetzt sitze ich hier im Gefängnis und komm nicht an mein Konto,
kannst du mir kurz aushelfen?
Juno war geschockt und fasziniert zugleich, wie viele Frauen es gab, die so was glaubten. Die in der Doku freimütig erzählten, welche Summen sie am Ende per Western Union in ferne Länder überwiesen hatten.
Jetzt war also auch sie in ihren Radar geraten, ausgerechnet sie, Juno Isabella Flock. Juno, die Frau von Jupiter, aber davon wussten die Love-Scammer nichts. Unbeirrt ließen sie ihre Anfragen regnen. Und Juno sendete gern Antworten.
In der finsteren, glitzernden Euphorie des Wachseins, weit nach Mitternacht, aus ihrem Zimmer mit den Planeten an der Decke.
Hi schöne Frau.
Hi.
Wie geht es dir,
wie ist das Wetter bei euch da drüben?
Mir geht’s fantastisch, danke.
Wir haben 45 Grad, man bekommt eine
Matschbirne davon.
Was machst du so?
Ich arbeite in einer Konstruktionsfirma, ARCO,
aber ich bin auch Finanzberater, und was machst du?
Ich füttere meine Falken, ich besitze drei,
jeder zwanzigtausend Dollar wert.
Sie heißen Leo, Bubbo und Lucas.
Wow, das klingt interessant!
Mittelalter, weißer Mann, graue Haare, er trug Shorts, stand unter einer Palme. Weißer Mann, graue Haare, er lehnte an einem Cabrio. Sonnengeküsster weißer Mann, er umarmte einen weißen, wuscheligen Hund. Kalifornischer Segelbursche, leicht ergrauter Marine mit geklauter Identität. Kommt her zu Juno. Sie will mit euch spielen.
Hi, danke, mir geht’s gut.
In Deutschland wohne ich,
ein Land mit riesigen Robbenbecken in den Zoos.
Was ich mache? Lieg in der Badi, trink Likör,
wie alle in Deutschland.
Ich rauch Geldscheine, schon mal probiert?
Verheiratet? Nope, ich leb mit drei Dienern,
zwei Männer eine Frau, wir beschimpfen
einander und trinken dabei einen
Kasten Bier.
Und du?
Die Love-Scammer glaubten ihr für lange Zeit einfach alles. Zuerst machte das Spaß: Mit einem Typen lügen nach Mitternacht. Sie streckte die Hand aus: Komm.
Es war auf eine fiese Weise lustig. Manchmal zögerten sie.
Are you serious?
Wie sie strauchelten, unsicher wurden. Wie etwas in ihre Welt krachte, Trümmer von Juno Isabella Flock, die keine Geldscheine rauchte, sondern in einem Zimmer neben Jupiter lebte, der nachts in einem Pflegebett lag. Dieses Pflegebett sah aus wie ein Bett im Krankenhaus, nur war es mit einer Folie beklebt, die Holzfurnier imitieren sollte. Tagsüber saß Jupiter in einem Rollstuhl. Der Rollstuhl war rotmetallic lackiert, das hatte Jupiter sich damals ausgesucht. Mittlerweile gab’s ein paar Kratzer im Lack.
Jeden Morgen hieß es raus aus dem Bett und rein in den Rollstuhl, das dauerte fünf Minuten, Jupiter schob sich zur Bettkante, die Beine voran, ließ erst die eine, dann die andere Seite seines Körpers runter auf die Sitzfläche und stützte sich dabei mit den Händen auf den Armlehnen ab.
Man muss nur kurz die Erde anheben, sagte Jupiter mal, es ist nicht so schwer.
Vielleicht hatten die Männer, die ihr schrieben, es verdient, so leicht auf Juno reinzufallen. Wie die Frauen, die sie betrogen, auf ihren Mist reinfielen.
Ob sie vielleicht diese Frauen rächen wollte? Eher nein.
Sie konnte nachts nicht mehr schlafen, das war alles.
Die Love-Scammer in ihren Schwellenländern wussten rein gar nichts von ihr, sonst hätten sie ihr vielleicht nicht geschrieben. Ihr, die nachts wach lag und an die Decke schaute.
Hey, schöne Frau, was machst du so?
Juno antwortete schnell und effektiv. Wie es ihr ging und was sie machte. Dass sie zwei Mal verheiratet war und sich jetzt mit einem Internisten langweilte.
Dass sie Kampfhunde züchtete.
Dass sie Hunde liebte – halt, das war nicht gelogen.
Irgendwann hatte sie bemerkt, dass sich kleine Wahrheiten in ihre Lügen schlichen. Etwas, das stimmte. Es beunruhigte Juno weniger, als dass es sie erstaunte. Manchmal fühlte es sich gut an, die Wahrheit zu sagen.
Hallo Schönheit!
Wie ist das Wetter bei dir?
Das Wetter ist grau und kalt, November,
kein guter Monat.
Gestern sah ich einen Film, »Melancholia«,
kennst du den?
Ein Planet kracht in die Erde, es geht nicht gut aus.
Es gibt zwei Schwestern, Claire und Justine.
Einmal sagt Justine, es ist gut, wenn die Welt
untergeht, und Claire ist fassungslos deswegen.
Wie kannst du so kalt sein, Justine, ey,
wir sterben hier, und du sagst,
ist doch in Ordnung?
Oder als Claire merkt, sie kann John nicht vertrauen.
John ist Claires Mann, ein Hobby-Astronom.
John sagt, Melancholia wird an der
Erde vorbeiziehen, keine Angst.
John irrt, der Planet kommt zurück, dreht um.
Claires Panik, Justines Ruhe kurz vor dem
Aufprall des Planeten, Claire drückt im Garten
schützend ihren Jungen an sich.
Melancholia, ist das nicht ein schöner Name
für einen verirrten Planeten?
Ich hör die Filmmusik oft beim Spazierengehen.
Manchmal denke ich wie Justine,
so eine Kollision mit einem Planeten
oder Kometen, das wär’s.
Love-Scammer antwortete nicht.
Hey, meld dich mal, ja?
Es ist schön, dir das alles zu schreiben.
Love-Scammer las die Nachricht nicht.
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Love-Scammer antwortete nicht mehr. Nächster Typ, weiter ging’s.
Ich mag Liebesfilme, die kein Happy
End haben, zum Beispiel »Open Water«,
schon mal gesehen?
Ein Paar treibt im Wasser, sie buchten einen Trip
aufs offene Meer zum Tauchen,
mehrere Leute auf dem Boot,
die Crew verzählt sich, das Boot fährt zurück,
vergisst sie einzusammeln.
Sie treiben im Pazifik,
er wird von einem Hai angegriffen.
Sie muss stark sein, ihn trösten,
aber er stirbt in ihren Armen.
Sie holt noch mal Luft, köpft dann abwärts,
taucht nie wieder auf.
Ich hab das immer als brutal konsequente
Lovestory gesehen.
Wie sie sich beide haben, sich klammern,
sich tragen. Er hält sie, damit sie schlafen kann,
gerade da kommt der Hai.
Ich mag die Konsequenz und dass der Film
die Realität nicht bereinigt.
Nur dadurch wird es überhaupt erst
ein Liebesfilm.
Der Scammer war unwichtig geworden, während sie das schrieb, obwohl er zuerst einzusteigen versuchte.
Ja, meine Liebe, wahre Liebe ist etwas Wunderbares! <3
Ich find’s immer toll, wenn wahre Liebe
erst im Tod ihre Wahrheit zeigt.
Bitte sag nicht solche Sachen, Liebste!
Doch, genau solche Dinge will ich sagen.
Der Tod ist’s, der uns am Ende eint.
Ich freu mich, das mit dir zu teilen, übrigens.
Bitch.
So endeten die Chats jedes Mal.
Die Scammer antworteten irgendwann nicht mehr, und dieser eine hier wurde aggressiv. Juno war ihm nicht einmal böse. Sie sprach ja genauso in leiser Aggression, wenn sie ehrlich war.
Es kam ihr manchmal vor, als wäre es ihre aufrichtigste Haltung.
In den Chats war sie womöglich die echte Juno.