Das Motiv der Rache in der Architektur

Text von Gerhard Matzig

Lesedauer: ca. 7 Min.

»Ich denke, die Möglichkeiten sind endlos.« Das ist kein Versprechen, sondern eine Drohung. Sie stammt von Ron DeSantis, dem republikanischen Gouverneur von Florida, der sich in den USA als Trump 2.0 in Stellung bringt. Wozu ihm im Frühjahr 2023 ein Streit mit der Walt Disney Group dient. Auslöser ist das »Don’t Say Gay«-Gesetz, mit dem DeSantis Lehrkräften untersagen will, in höheren Klassen über sexuelle Orientierungen zu sprechen. Man fühlt sich an die bitterschwarze Filmkomödie »Dont’t Look Up« erinnert. Aber der Florida-Konflikt ist absolut real. Disney hat sich in diesem »Krieg gegen die woke Welt« (laut Nachrichtenportal Watson) kritisch über DeSantis geäußert und Spenden gestoppt. Weshalb der Gouverneur dem Film-und-Fun-Imperium gar mit dem Gefängnis droht.

Abgesehen davon, dass DeSantis den Freizeitpark in Orlando, Florida, künftig höher besteuern will, droht er auch – jetzt betreten wir das Reich der Rache-Architektur – mit dem Neubau eines Gefängnisses. Direkt neben dem familienfreundlichen Themenpark. Rechts geht es dann zum Dornröschenschloss, links zu den Schwerverbrechern. Die Möglichkeiten sind endlos.

Rache-Architektur ist keine amerikanische Erfindung. Neid, Missgunst und Obstruktion am Bau: Das können wir selbst. Schon aus Tradition. Im Stadtrecht von München gibt es den Begriff »neydpau« seit 1489. Also lange bevor die »Mayflower« nach Neuengland in See stach, mit den berühmten Pilgrim Fathers  an Bord. 

Tatsächlich ist »Neidbau« ein alter Begriff für ein Bauwerk, das nicht im eigenen Interesse, sondern deshalb errichtet wird, wie es im Baurecht heißt, »um Nachbarn zu schikanieren«. Etwa in Form eines Gefängnisses direkt neben dem Ausflugsziel. (Obschon es, so viel Spitzfindigkeit muss sein, auch woke wäre, würde man Gefängnisse nicht immer nur an den Rändern der Gesellschaft neben den Mülldeponien ansiedeln.) Rechtlich ist es hierzulande laut »Schikaneverbot« untersagt, zum Beispiel das Baurecht auszuüben, sofern dieses nur dazu dient, »einem anderen Schaden zuzufügen«. Wie im Fall Astor. 

 

Das Hotel überragte die Villa der Tante, verdunkelte ihr Grundstück – und hatte auf der Seite zur Nachbarin kein einziges Fenster. Nur eine große Wand

Im 19. Jahrhundert bewohnte William Waldorf Astor in New York dort, wo später das Empire State Building aufragte, ein Wohnhaus. Direkt neben der Villa der Tante. Wie es manchmal ist in Familien: Man mochte sich nicht. Weshalb Astor  auch deshalb seine Villa abreißen und durch das ursprüngliche Waldorf Hotel ersetzen ließ. Das Hotel überragte die Villa der Tante, verdunkelte ihr Grundstück – und hatte auf der Seite zur Nachbarin kein einziges Fenster. Nur eine große Wand. Ein solches »Spite House« ist ein Trotz-Haus, ein Turm der Tücke, kurz: ein Rache-Bau.

Die Baugeschichte ist voll davon. Ein Beispiel ist das Kavanagh-Hochhaus in Buenos Aires. Das imposante Gebäude, errichtet im Retiro-Viertel in den Dreißigerjahren, erinnert in seinem prägnanten Art-déco-Stil an die düstere Bat-Höhle im Comic. Zum Zeitpunkt des Baus war das Haus der höchste Wolkenkratzer Lateinamerikas und das größte Stahlbetongebäude der Welt. Der Legende zufolge entstand das Gebilde aus Rache. Corina Kavanagh, vermögende Nachfahrin irischer Einwanderer, soll in den Sohn der alteingesessenen Patrizier-Familie Anchorena verliebt gewesen sein, die aus Standesdünkel gegen die Verbindung war. Weshalb sich die verschmähte Schwiegertochter auf ihre Weise rächte. Der Bau, in den Corina Kavanagh ihr gesamtes Erbe investierte und worin sie später wohnte (in einer 700 Quadratmeter großen Wohnung im 14. Stock), wurde so errichtet, dass der Blick vom Palast der Anchorenas auf die Familienkirche nicht mehr möglich war. Wenn die Familie aus dem Fenster guckte, sollte sie eines sehen: die Rache einer ungeliebten Frau in Stahlbeton.

 

Die Rache eines ungeliebten Mannes mit Farbe und Pinsel gebührt Le Corbusier. Es geht um das in der Architekturmoderne berühmt gewordene Haus »E.1027«. Das ist die Chiffre für das grandiose Wohnhaus der Designerin Eileen Gray, das bis 1929 in Cap-Martin an der Riviera erbaut wurde. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gestaltete Le Corbusier, in der Moderne der Mann, von dem sich sagen ließe: Es kann nur einen geben, in Abwesenheit von Gray und gegen ihren Willen fünf große Wandgemälde im Haus. Das Motiv: abstrahierte nackte Frauenfiguren. Beim Malen der Fresken ließ sich Le Corbusier nackt fotografieren. In der Architekturgeschichte gilt dieser übergriffige Akt im Wortsinn als eine Art Schändung. Als Le Corbusier starb, 1965 in Cap-Martin, beim Schwimmen und infolge eines Herzinfarktes, könnte das letzte Bauwerk, das er in seinem Leben gesehen hat, das eigene Ferienhäuschen, Le Cabanon, gewesen sein – oder, direkt daneben, E.1027.

Als Le Corbusier starb, 1965 in Cap-Martin, beim Schwimmen und infolge eines Herzinfarktes, könnte das letzte Bauwerk, das er in seinem Leben gesehen hat, das eigene Ferienhäuschen, Le Cabanon, gewesen sein – oder, direkt daneben, E.1027.

Das Rache-Motiv, im Fall von Le Corbusier in einer bizarren Variante, ist mindestens so alt wie das Wissen um die Geschlechtertürme, die im Hochmittelalter in Oberitalien entstanden sind. Einflussreiche Familien ließen wehrhafte, fortifikatorische Bauten in den Städten errichten. Erst als Lager- und Schutzräume, später als Zeichen der Macht. Aus solchen Macht-Erektionen wurde eine Schwundstufe von heute. Gemeint ist die wechselseitige Aufrüstung dies- und jenseits der Gartenzäune mit den Mitteln der Baumärkte, also mit Kugelgrill, Trampolin, aufblasbarem Pool und Mähroboter. Und wer hat eigentlich die höchste Thuja-Hecke?

Hier ist aus einem etwas dämlichen Film zu zitieren, in dem es eine alle Dämlichkeit überstrahlende Szene gibt, die luzide das Wesen der Einfamilienhauswelt ausleuchtet. Im Film »Crocodile Dundee« wird Mick Dundee (Paul Hogan) als etwas robuster Hinterwäldler gezeigt, der ausnahmsweise mal die Stadt und ihre urbanen Seltsamheiten besucht. Prompt wird der Krokodiljäger im Großstadtdschungel von einem Ganoven bedroht. Der Ganove will die Brieftasche und fuchtelt mit einem Messer herum. Micks Begleiterin sagt ängstlich: »Geben Sie ihm die Brieftasche. Der hat ein Messer.« Mick lacht: »Das ist doch kein Messer. Das ist ein Messer.« Er zückt ein Messer von der Größe eines Baguettes. Der Ganove sagt »Scheiße« und flieht.

Oft steht man vor Häusern in Vororten, wo man den wahren Dschungel des Daseins vermuten kann, und fragt sich, den Fluchtinstinkt niederringend, wie das passieren konnte. Oft ist die Erklärung diese: »Das ist doch kein Balkon. Das ist ein Balkon.« Man kann an dieser Stelle alles Mögliche einsetzen – Garage, Terrasse, Kamin, Schornstein, egal. Bauen und Wohnen: Das kann auch abseits der Astor-Prominenz zum Akt der Rache werden. Der Niedertracht ist daher zuzurufen: Peace! Eine Welt ohne rachsüchtige Architektur ist möglich.

Woher man das weiß? Als man das Haus baute, in dem man jetzt seit anderthalb Jahrzehnten lebt, mit einer Frau und drei Kindern, bat man einen hervorragenden Architekten um den Entwurf. Andreas Meck, inzwischen viel zu früh verstorben, sollte ein kaum lösbares Problem lösen. Weil sich der Autor dieser Zeilen in München im Grunde kein Grundstück leisten kann, war man lange auf der Suche nach einem Schnäppchen-Baugrund. Gefunden wurde ein Areal, eingeklemmt zwischen zwei normal großen Grundstücken und so schmal wie ein Handtuch. Darauf ließ man ein enstprechend schmales, also wirklich sehr schmales Haus bauen. Schmal und schwarz. Aus Holz. Das schien die Nachbarn zu ärgern. Als sie die Pläne sahen, wurde es laut: »Das ist doch kein Haus.« Das Eigeheimglück des Autors: Es wurde geradezu verhöhnt. Rache! So beschloss man: Zur Straße hin wird es kein Fenster geben. Nur Wand. Eine schwarze Wand. Nimm das, Vorort.

Da sagte der hervorragende Architekt, der schon damals außerdem weise war: »Geben Sie Ihrer Nachbarschaft und der Straße doch ein Fenster. Ist besser so.« – »Warum sollte ich?« – »Aus Höflichkeit.« So tat man es. Heute ist man froh darüber, nicht in einer Rache-Architektur zu wohnen, sondern nur in einem Haus, das doch kein Haus ist. Peace, Leute.

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