Die Befleckten

Von Gesine Palmer

Lesedauer: ca.  12 min

Introlog


»Todos, sagt es alle laut, alle gehören dazu!« Und alle jubelten. War es ein Wunder, war es eine raffinierte Inszenierung? Zum Weltjugendtag 2023 zeigte sich die sonst so befleckte katholische Kirche in Lissabon strahlend, festlich, feierlich, fröhlich und voller Hoffnung. Gerissen hatte es mal wieder Maria, die Unbefleckte, unter deren Mantel alle ihren Platz gefunden haben. Sie »machte sich eilends auf« und gab dem Festival das Motto vor; auf ihren allesbergenden Mantel hatte der Papst schon im Vorfeld seine Hoffnungen gesetzt. Und sie wirkte. Als wäre durch ein Wunder alle Kritik am Marienkult und den Kirchen, die ihn betreiben, fortgewaschen. Wie ist das möglich?

Da saß er (Szenenwechsel 1)


Da saß er. Ein Mann kurz vor seinen Achtzigern. Elegant gekleidet. Eher zierlich. Feines Gesicht. Schütteres Haar. Hinter ihm die in gedeckten Farben ondulierte Seidentapete des Literatursalons. Es war eine dieser Serien von Lesungen und Diskussionen in eleganter Hauptstadtumgebung, bei denen alle versuchen, ihr Wahrstes auszusprechen. Manchmal wollen sie sogar das Wahrste der anderen hören. Der ältere Herr – ich bestehe auf diesem Titel – trug einen Titel, nein zwei: einen Herkunftstitel und einen erarbeiteten. Er hatte aus seinem beeindruckenden Berufsleben gesprochen. Eine Dame – ich bestehe auf dieser Ehrung – stellte die unvermeidliche – zu Recht unvermeidliche – feministische Frage. »Verstehen Sie doch bitte unser Leiden«, sagte der liebenswürdige Herr,

»wie könnten wir nicht neidisch sein? Sie als Frauen, Sie können nicht nur alles, was wir können. Sie haben nicht nur die Begabung zur Verführung – die haben wir mitunter auch –, Sie können dazu noch etwas, das wir nie können werden: Sie können Kinder austragen, gebären und stillen.« 

 

Ich wunderte mich über meine Erschütterung. Natürlich hatten wir seit Jahrzehnten vom Gebärneid der Männer gesprochen, in tausenden von Büchern die Anmaßung kirchlicher und universitärer Institutionen auf wahre, nämlich geistige Mutterschaft besprochen, herausgearbeitet, wie der Huldigung einer vermeintlich unbefleckten Mutter Maria oder Mutter Kirche immer der schrankenlose Hass auf die vermeintlich befleckten »Huren« entspricht, und uns und der Welt versprochen, dass wir damit Schluss machen würden. Nun saß da dieser freundliche weiße alte Mann und sprach einfach als eine selbstverständliche Wahrheit aus, was also nie irgendeiner Durchschauerei bedurft hatte? 

Da haben Sie es, sagte ich zu mir selbst, denn manchmal bestehe ich in dem inneren Dialog, den wir »Denken«nennen, darauf, mich zu siezen. Da denken Sie, Sie haben alles getan, um die besoffenen Lehren der anderen ein wenig auszunüchtern, und dann kommt so ein kleiner feiner alter Herr daher und macht Ihnen in wenigen schlichten Bekenntnissätzen klar, dass Sie womöglich selbst sich in besoffenen Lehren eingerichtet hatten, ohne deren Voraussetzungen wirklich zu bedenken? 

Besoffene Lehren (Fenster 1)


Vermutlich werden alle Lehren, die alles aus einer Sache erklären wollen, irgendwann verrückt. Und zwar ernsthaft. Leicht ist es zu lachen, wenn im Rausch der Feierlichkeiten eines Weltjugendtags ein Priester aus dem Orden der Oblaten der Maria Immaculata ernsthaft in die Kameras spricht, der Heilige Antonius von Padua/Lissabon helfe auch bei der Parkplatzsuche. Trunken geborgen in einer mitfeiernden Menschenmasse – wer wollte da nicht einmal fröhlichen Unsinn plappern, als wäre der sein Wahrstes? Oft genug wird er doch gefragt werden, ob wirklich ein so großer, so plastischer Gekreuzigter vor der weiß gewandeten Brust baumeln muss, was es mit dem Erbsündenstatus der Corredemptrix ernstlich auf sich habe, und wieso ausgerechnet Männer, die sich selbst auf ein Leben ohne aktive Sexualität verpflichtet haben und das für eine moralische Errungenschaft halten, dekretweise verfügen, wie andere bitte ihre Sexualität, ihre Liebe und ihre Familien zu gestalten haben. Derartige Fragen drohen täglich. Seit dem Missbrauchsskandal wird lauter nach einer Reform der katholischen Sexualmoral gerufen. Für Feministinnen wiederum hat es des Missbrauchsskandals nicht bedurft, um die offenkundigen Verrücktheiten mariologischer Spekulationen abzuweisen. Je reiner die Maria, desto sicherer unser Verdikt: »Das asexuelle Mutterbild … bezeugt, dass auch der Mann Mutter werden kann. Deshalb – und eben nicht aus Verehrung für die Frau – wird 1854 das Dogma von der unbefleckten Empfängnis verkündet und sind fast alle Wallfahrtsorte, die seit dem Beginn der Industrialisierung entstehen, dem Marienkult gewidmet.« Das schreibt Christina von Braun in ihrem Buch »Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido«. Durchschaut dort ferner: »Der Logos bedient sich der Mutter als Sexual-Ideal, um das Sexualwesen Frau, das Sexualwesen überhaupt zu vernichten.“ Hart boxen sich die besoffenen Lehren.

Nüchterne Befunde (Fenster 2)


Angst und Wut sind real. Was gelehrte katholische Ethiker als den »Normierungsbedarf« des Sexuellen bezeichnen, springt uns aus allen Kulturen an. Ob mit der augustinischen Erbsündenlehre und dem daraus folgenden Ideal sexueller Abstinenz, ob mit psychoanalytischen Lehren, ob mit der Verhüllung der Frauen oder der Austreibung der Homosexuellen, ob mit chemischer Stimmungsregulierung bis zur Kastration oder mit gewaltsamer Verstümmelung der Sexualorgane: Überall und zu allen Zeiten versuchen Menschen, dieses »andere Gesetz in meinen Gliedern« (Brief des Paulus an die Römer 7,23) unter die Kontrolle ihres »Logos« oder ihre Herrschaft zu bringen. Oft sind diese Ordnungen aber sehr schlecht. Dem Pater Familias des römischen Imperiums standen viele Sklav:innen für sexuelle Dienste rechtlich zu. Verzicht auf gelebte Sexualität konnte in diesem Kontext befreiend wirken. So war es das Alleinstellungsmerkmal der christlichen Gemeinschaften, für ihr »Erlösungswerk« auch die Männer auf Keuschheitsregeln zu verpflichten, auch den Frauen öffentliche Gestaltung in ihren eigenen Orden zu ermöglichen. Das war ihr Beitrag zur Entwicklung von Gesellschaften, in denen rechtliche Gleichstellung der Geschlechter gedacht werden konnte. 

Die Mariologie hatte in diesem Prozess eine höchst ambivalente Rolle. Heute muss man schon sehr kindlich sein, um ernsthaft zu glauben, dass ein Mensch, der aktiver Sexualität abschwört, fortan zwanglos seine libidinöse Energie allein auf geistige Gegenstände richten kann. Andererseits ist es auch töricht, den jeweiligen theoretischen Gegner:innen seelische oder geistige Reife generell abzusprechen, weil sie sich auf eine »keusche« oder eine »libertäre« Haltung zur Sexualität versteift haben. 

 

Da hing sie (Szenenwechsel 2)


Ein Tisch. Menschen saßen und diskutierten. Bilder hingen an der Wand, viele, gute. Es ging um talmudische Texte. Spätantike Texte, in denen für unrein erklärt wird, was den christlichen Zeitgenossen als rein galt. Predigten die Christen die geschlechtsbereinigt zölibatäre spirituelle Lebensweise als die höchste Lebensform, so hielten die Rabbinen Ehe und ein entwickeltes Geschlechtsleben für die ideale menschliche Lebensart. Nachzulesen in dem Buch »Carnal Israel. Reading Sex in Talmudic Culture« von Daniel Boyarin. Arbeiteten die einen eher an der Herstellung eines geschlossenen Systems reiner Begriffe und Dogmen, zu denen sich zu bekennen hatte, wer dabei sein wollte, so schienen die anderen eher am Sprung im System zu arbeiten, der ihnen erlaubte, anders zu bleiben, und gerade so dann und wann einen Blick auf die ohnehin immer andere Wirklichkeit zu erhaschen. Über allen anderen Bildern hing eine eigenartige Madonna. Aus einem körnigen Schwarz-Weiß-Foto der jungen Rosario Castellanos schien mit schwarzen Augen die Mutter Gottes höchstselbst in den Raum zu blicken und sich zu wundern, während sie selbst rückhaltlos bewundert zu werden schien von der iranischen Künstlerin Raha Rastifard, die ein Foto ihres eigenen Antlitzes in das Bild montiert hatte. Mehr Wunder als eine solche Inszenierung muss für mich eigentlich nicht sein.

Exolog


Mit dem Dogma, nach dem Maria nicht nur ihr eigenes Kind, Jesus, jungfräulich empfangen habe, sondern selbst von ihrer Zeugung an von der Erbsünde ausgenommen war, sollte ein Gedankengebäude weiter abgestützt werden, unter dessen Dach alle Menschen sich sollten bergen können. Schwer fällt es den Gläubigen dieser Lehre zu akzeptieren, dass manche lieber draußen bleiben und eigene Dächer bauen. Denen draußen fällt es – nach allem – schwer zu glauben, dass diese gebärneidgetriebenen Männerhierarchien wirklich allen gut wollen.

Ob man aber dogmatisch bekennt, dass Christus den Tod und Maria die Geburt und ihre sexuelle Vorbereitung besiegt habe, oder ob man dergleichen Spekulationen für müßig bis verwerflich hält: Zu einer gewissen Reife wird auch der Marienglaube nur da kommen, wo er die Reinheit noch der begrifflichen Konstruktionen als Gefährdung erkennt und sich eher an Sprüngen und Flecken orientiert.

Vielleicht ist der verrückte Überschuss der Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens selbst der Fleck auf ihrer Reinheitsimago, der sie stark macht? Vielleicht hilft uns gerade der freimütig bekannte Sprung in der Geschlossenheit unserer Theorien zu neuen Anfängen und realistischeren Umgangsweisen mit unserer bleibend gestaltungsbedürftigen leiblichen Natur?

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