Digitales Vergessen

Text: Adrian Lobe

 

 

 

Das Internet hat das Trauern verändert, weil der digitale Tod ein sehr öffentlicher ist und algorithmengetriebene Plattformen das Gedenken ständig triggern. Braucht es ein digitales Recht auf Sterben?

von Adrian Lobe

Als der Journalist Akin Olla eines Morgens auf sein Handy schaute, erschrak er – und brach in Tränen aus: Sein Freund hatte ihn in einem Facebook-Post markiert. Doch dieser Freund war vor einiger Zeit verstorben. Ein Scammer hatte sein Profil gekapert und dazu missbraucht, Abnehmpillen zu vertreiben. Für Olla, so beschrieb er es in seiner Guardian-Kolumne, fühlte sich das »ungeheuerlich« an, weil sein Freund vor seinem Tod massiv an Gewicht verloren hatte. Zynischer könnte der Datenkapitalismus kaum sein. Im Netz häufen sich makabre Geschichten von digitalen Grabräubern oder Tinder-Nutzern, die plötzlich ein Match mit ihrer verstorbenen Frau haben. Die Toten grüßen aus dem digitalen Jenseits. 

Die Begegnung mit verstorbenen Nutzern könnte im globalen elektronischen Dorf häufiger werden. Jeden Tag sterben rund achttausend Facebook-Nutzer. 2070 könnte die Zahl der toten Facebook-Nutzer erstmals die der lebenden übersteigen, prognostiziert eine Studie des Oxford Internet Institute. Facebook könnte zum größten digitalen Friedhof werden. Sofern es den Konzern bis dahin überhaupt noch gibt.

Facebook könnte zum größten digitalen Friedhof werden.

Die Netzgesellschaft hat ja schon viele Plattformen sterben sehen: Friendster, Myspace, Geocities. Auch die sozialen Netzwerke StudiVZ und SchülerVZ wurden abgeschaltet. Da waren die meisten registrierten User zwar ohnehin nur noch Karteileichen, trotzdem loggten sich Nostalgiker noch einmal ein, um am Gruschel-Grab die gute alte Zeit zu betrauern. 

Das Internet hat den Tod nie mitbedacht. Im Gegensatz zum analogen Leben, wo man nach dem Tod beigesetzt wird, gibt es in der Digitalität bislang keine allgemeine Bestattungskultur. Der Datenkörper ist immer noch präsent, wie aufgebahrt, auch wenn der biologische Körper längst verbrannt oder verwest ist. Menschen gehen, Daten bleiben. Und an der digitalen Haustür können immer noch ungebetene Gäste klingeln und dumme Kommentare hinterlassen. 

Facebook hat daher 2009 für Hinterbliebene die Option eingeführt, das Konto eines verstorbenen Nutzers in einen »Gedenkzustand« zu versetzen. Neben dem Profilfoto erscheint dann der Hinweis »In Gedenken an«. Die Nutzerseite wird zum Grabstein mit ausgelegtem Kondolenzbuch, wo sich Freunde und Familienangehörige verabschieden können. Der digitale Tod ist ein öffentlicher; Plattformen wie Facebook triggern algorithmisch das Gedenken: Geburtserinnerungen oder Fotorückblicke rufen ständig Erinnerungen an Verstorbene wach, was den Trennungsschmerz verstärken kann. Die Art, wie Menschen im digitalen Raum trauern, ist ganz unterschiedlich: Manche hinterlassen Emojis, andere posten Fotos und machen das Social-Media-Profil zu einem öffentlichen Schrein. 

Es haben sich – kulturell bedingt – spezifische Trauerrituale etabliert. So hat in Südkorea eine Mutter ihre verstorbene Tochter in der virtuellen Realität als Avatar »wiedergetroffen«. Es sind rührende Szenen, wie die Mutter mit Datenhandschuhen über die Wangen des Mädchens streicht und mit ihm Geburtstag feiert, als hätte es den Tod nie gegeben. Durch die Immersion der VR-Brille entsteht der Eindruck, dass man diesen – fiktiven – Moment jetzt gerade mit seinem Körper erlebt. Südkorea ist in der Trauerbewältigung deutlich experimentierfreudiger als westliche Kulturen. In dem ostasiatischen Land gibt es auch Cyber-Beerdigungen, bei denen digitale Existenzen feierlich zu Grabe getragen werden. Spezialisierte Firmen bieten gegen eine Gebühr die Löschung aller personenbezogenen Daten im Netz an. 

Das Problem: Der digitale Nachlass ist häufig nicht geregelt. Wohl kaum jemand verfügt in einem Testament, dass nach seinem Ableben alle Social-Media-Profile auf die Kinder oder Eltern übergehen, noch dazu, wenn man jung ist. Wer will schon ein altes Facebook-Profil vererben beziehungsweise erben? Doch manchmal bricht um das digitale Erbe Streit aus. 

So geschehen 2012 nach dem tragischen Unfalltod eines damals fünfzehnjährigen Mädchens, das an einem Berliner U-Bahnhof vor einen Zug gestürzt war. Von quälenden Selbstzweifeln geplagt, wollten die Eltern anhand der Chatprotokolle auf Facebook herausfinden, ob ihre Tochter möglicherweise Suizid begangen hatte. Sie verfügten sogar über das Passwort ihres Kontos. Weil Facebook aber das Profil in einen Gedenkzustand versetzt hatte, konnten die Eltern nicht auf die Nachrichten zugreifen. Sie verklagten daher den Internetkonzern. 

Der Bundesgerichtshof entschied 2020, dass Facebook vollständigen Zugriff auf den Account der verstorbenen Tochter gewähren müsse. Tenor des Urteils: Das Facebook-Konto gehört mit zum Erbe. So wie analoge Briefe oder Tagebücher auch. Nur: Schreibt man im scheinbar flüchtigen Medium Internet etwas in der Annahme, dass dies später von den Kindern oder sogar den eigenen Eltern gelesen werden könnte? Will man das überhaupt? Möchte man seine digitale Akte nach seinem Ableben nicht lieber unter Verschluss halten? Oder ist es sogar naiv zu glauben, dass die Nachrichten, Fotos und Sprachnachrichten, die irgendwo in der Cloud lagern, nicht irgendwann ausgelesen werden? 

Der österreichische Jurist Viktor Mayer-Schönberger erklärte in seinem Buch »Delete: Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten« bereits 2010, dass das Vergessen »eine zentrale Rolle für das menschliche Entscheidungsvermögen« spiele: »Es ermöglicht uns, in der Gegenwart zu handeln, indem wir vergangene Ereignisse berücksichtigen, ohne uns aber von ihnen lähmen zu lassen. Durch ein vollkommenes Gedächtnis könnten wir die grundlegende menschliche Fähigkeit einbüßen, in der Gegenwart zu leben und zu handeln.« Ein Mensch, der die Fähigkeit zum Vergessen verliert und jedes Details memorisiert wie Ireneo Funes, der traurige junge Held in Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte »Das unerbittliche Gedächtnis«, verliere seine Handlungsfähigkeit. Das allumfassende digitale Gedächtnis von Google oder den Geheimdiensten bedrohe daher auch unsere Autonomie, so Mayer-Schönberger.

Der Europäische Gerichtshof hat daher 2014 in einem aufsehenerregenden Urteil ein Recht auf Vergessenwerden entwickelt, das später auch in der Datenschutz-Grundverordnung verankert wurde. 2010 hatte ein spanischer Bürger bei der dortigen Datenschutzbehörde Beschwerde gegen Google und die Tageszeitung »La Vanguardia« erhoben, da bei der Google-Suche nach seinem Namen ein Link zum Online-Zeitungsarchiv mit einer aus dem Jahr 1998 datierenden amtlichen Bekanntmachung der Zwangsversteigerung seines Hauses auftauchte. Das Argument: Die Information sei nicht mehr aktuell und relevant, der Zweck mithin entfallen. Der Europäische Gerichtshof gab dem Kläger Recht: Google musste den Link zu dem Artikel löschen, die Anzeige selbst durfte im Archiv verbleiben. 

Man kann das Urteil auch als Recht auf selbstbestimmtes digitales Sterben lesen, schließlich wohnt dem Löschgedanken auch eine zeitliche Dimension inne, nämlich eine Absage an die Dauerhaftigkeit der Speicherung. Auch der digitale Zwilling muss in Würde sterben können. Doch die transhumanistischen Sozialingenieure im Silicon Valley, die den Tod durch Technik überwinden wollen, wollen den Datenkörper unsterblich machen: Sie bringen mit digitalen Reproduktionstechniken verstorbene Stars wie Tupac Shakur und Amy Winehouse als Hologramme auf die Bühne und reanimieren tote Filmstars wie Audrey Hepburn und Bruce Lee als Testimonials in Werbeclips. 

Klar, als Person des öffentlichen Lebens kann man nicht gänzlich verhindern, dass seine Filme weiter gezeigt oder die eigenen Songs gespielt werden. Aber möchte man mit seinem Gesicht für eine Kampagne herhalten, die man möglicherweise gar nicht unterstützt? Haben die Protagonisten zu Lebzeiten ihre Einwilligung erteilt? Der Avatar von Diego Maradona wurde aus der Computersimulation »Fifa« des kalifornischen Spieleentwicklers EA Sports entfernt, weil es nach Maradonas Tod Streit um dessen Bildrechte gab. Das Recht am eigenen Bild erstreckt sich auch auf den Avatar. Denn je realistischer die Simulationen, je detailgetreuer die 3D-Modelle werden, desto mehr persönliche und biometrische Daten stecken in den digitalen Doubles. 

Die radikalmaterialistischen Techgurus ficht das nicht an: Sie wollen den Menschen in seine Einzelteile zerlegen und am Computer neu zusammenbauen. So hat Amazon in einer morbiden Präsentation einen Stimmklon präsentiert, bei dem die Sprachassistentin Alexa mit der Stimme der verstorbenen Großmutter spricht. Dass die tote Oma dem Enkelkind Gute-Nacht-Geschichten vorliest, mag ja eine heitere Idee sein, aber wie erklärt man dem Kind den Tod, wenn der Stimmklon suggeriert, dass die Großmutter weiterlebt? Die Vorstellung, seine Stimme einer digitalen Dienstmagd zu vererben, die auf Kommando das Licht dimmt, klingt alles andere erbaulich. Wie war das nochmal mit der digitalen Souveränität? 

Der transhumanistische Imperativ des Lebenmüssens hat auch etwas Totalitäres, weil er den Tod als befreiende Exitoption ausschließt – einmal unterworfen, muss der Datenkörper auch nach dem Ableben der Person noch performen; die Datenarbeit wird perpetuiert. So ließ der US-Regisseur Morgan Neville in dem Dokumentarfilm »Roadrunner« (2021) mithilfe eines KI-generierten Stimmklons den Starkoch Anthony Bourdain, der sich 2018 in einem Hotel in Frankreich das Leben genommen hatte, eine von diesem verfasste E-Mail verlesen, obwohl es eine solche Tonaufnahme nie gegeben hat. Der tote Bourdain sprach also Sätze, die er zwar geschrieben, aber nie artikuliert hatte und vielleicht lieber für sich behalten hätte. In den USA brach daraufhin eine ethische Debatte los. Während Regisseur Neville die Nutzung von KI als »moderne Storytelling-Technik« verteidigte, wandten Kritiker ein, dass Bourdain nicht gefragt und das Publikum getäuscht worden sei. 

Darin offenbart sich nicht nur eine neue Biomacht, sondern auch die Ohnmacht gegenüber einer Technik, die frei von jeder Folgenabschätzung und Ethik in die Welt gesetzt wurde. Dass der Schauspieler Robin Williams, der als Sprecher von Dschinni in »Aladdin« bekannt wurde und 2014 Suizid beging, zu Lebzeiten in seinem Vertrag mit Disney die Nutzung seiner Stimme zu Werbezwecken untersagte, konnte nicht verhindern, dass seine Stimme nach seinem Tod im Netz für Audio-Fakes missbraucht wurde. Vielleicht bräuchte es so etwas wie Datenruhe und Bestattungsdienste für digitale Zwillinge. Sonst könnte die Pietät einen leisen Tod sterben. 

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