MEINE NARBEN

Andrej hat mich einmal gezeichnet – eine etwas verschwommene Silhouette, aber ziemlich genau getroffen. Er brachte mir das Bild, und ich verzierte es mit Pfeilen. Hinweise auf alle meine Narben – meine persönlichen Kennzeichen. Es sind fünf.

Die erste Narbe: Als sich in meinem elften Lebensjahr meine Brust leicht wölbte, nähte mir Großmutter Jelena, die zu der Zeit das Familienbudget mit dem Nähen von Miederwaren für vollbusige Sängerinnen aufbesserte, meinen ersten Büstenhalter, der ungefähr der kleinsten Größe entsprach, und lächelte dabei zärtlich und wohlwollend. Die Frauen mütterlicherseits hatten wundgescheuerte Haut unter ihren üppigen Brüsten und auf den Schultern tiefe Striemen von den harten BH-Trägern; das Fehlen dieser Busenlast betrachtete Großmutter als einen Vorzug. Sie war es wohl auch, die damals unter meiner linken Brust ein kleines Kügelchen entdeckte, das sich ein wenig hin und her schieben ließ. Mama brachte mich ins Institut für Pädiatrie, und ein befreundeter Chirurg, Stassik Dolezki, entfernte dieses Fettkügelchen, wissenschaftlich Lipom genannt. Dabei entstand eine zarte längliche Naht. 

Die nächste Naht entstand zwei Jahre später. Bei einer Blinddarmoperation. Es war eine chronische, milde Entzündung, aber meine Mutter war radikal gesinnt, also kam ich auf den Operationstisch und wurde aufgeschnitten – an der über den McBurney-Punkt verlaufenden gedachten Linie zwischen Bauchnabel und rechtem oberem Darmbeinstachel. Das lernte ich erst später, an der Universität; die Vorlesungsreihe in Anatomie war kurz, wurde aber von einem großartigen Professor gehalten – dem Anthropologen Jakow Jakowlewitsch Roginski. Operiert wurde ich in der Filatow-Klinik, von einem wunderbaren chinesischen Doktoranden, dessen Name mir entfallen ist, aber sein kleines Geschenk aus Papier habe ich lange aufbewahrt. Der Chinese verschwand während der chinesischen Säuberungen. Kulturrevolution! Seine Naht wurde Narbe Nummer zwei. Bei der Gelegenheit fällt mir noch etwas ein: Als Mama mich aus dem Krankenhaus abholte, hatte sie zwar meine Kleidung dabei, aber keine Schuhe. Also zog sie die Gummischuhe aus, die Frauen damals über ihren Absatzschuhen trugen, ich schlüpfte in diese Überzieher, die ebenfalls Absätze hatten, und wackelte, mit den leeren Absätzen umknickend, bis zu Papas Auto, einem buckligen Moskwitsch.

Die dritte Narbe ist klein, sie ziert bis heute meinen linken Unterarm – eine Schnittlinie und fünf kleine Punkte von den Klammern. Vor rund fünfzig Jahren begann ein Muttermal auf dem Arm plötzlich zu wachsen und überzog sich mit einer weißlichen Schicht. Meine Mutter arbeitete inzwischen nicht mehr im Institut für Pädiatrie, sondern im Institut für Radiologie und brachte mich gleich zu den dortigen Spezialisten. Eine Ärztin warf einen Blick auf die Stelle und sagte ein Wort, bei dem Mama fast in Ohnmacht fiel: Melanom. Genau daran war Mutters Großmutter einige Zeit vor meiner Geburt gestorben. Überhaupt ist unsere Familie onkologisch leider reich gesegnet, fast alle sterben an Krebs. Bei meiner Operation wurde ein Stück Haut entfernt und mir anschließend radioaktives Gold in den Arm injiziert, um weitere bösartige Geschwulstbildungen zu blockieren. Das ist, wie gesagt, fünfzig Jahre her. Zu Hause lachten alle und nannten mich Ljussja-Goldarm.

Ich war bereits in einem Alter, da junge Frauen ans Kinderkriegen denken, und die Ärzte rieten mir, wegen der Goldinfusion ein, zwei Jahre enthaltsam zu leben. Doch ich wurde prompt schwanger. Aus Angst, ein behindertes Kind zu bekommen, ließ ich eine Abtreibung vornehmen. Das war richtig, denn sonst wäre mein ältester Sohn ein anderer Mensch, nicht mein Aljoscha. Und mir gefällt Aljoscha … Ich habe nie erfahren, was die Biopsie nach der Operation ergeben hat, ob die Diagnose bestätigt wurde oder nicht. Die Narbe ist mir geblieben.

 

Die vierte Narbe, kreuzförmig, befindet sich auf dem Oberbauch. Bei einem Amerika-Aufenthalt hielt ich an einer Universität, an welcher, weiß ich nicht mehr, in der Slawistik-Sektion einen Vortrag und erlitt eine Kolik – wie sich herausstellte, war ein Gallenstein schuld. Doch aus irgendeinem Grund hatte ich keine Krankenversicherung. Ich bekam etwas Schmerzstillendes, der Schmerz ließ etwas nach, doch wieder in Moskau, wurde ich operiert, ohne großen Bauchschnitt, minimalinvasiv, per Laparoskopie, in einem Krankenhaus im Moskauer Südwesten. Seitdem sind die Gallensteine vergessen, geblieben ist nur die kreuzförmige Narbe.

Die fünfte, bedeutendste und komplizierteste Narbe ist die von der Mastektomie, der Operation zur Entfernung der Brustdrüse sowie mehrerer Lymphknoten in der Achselhöhle, wobei auch ein Brustmuskel leicht verletzt wurde, ob der kleine oder der große, weiß ich nicht genau. Seit zehn Jahren mache ich jeden Morgen diverse Übungen, damit der Arm weiter funktioniert, und das tut er bislang, der Gute … Hier endet die klare Arithmetik: Diese fünfte (und die anschließende sechste) Operation veränderte das Bild. Meine erste Narbe ist verschwunden, an ihrer Stelle entstand eine ganze Kolonie verschiedenster Narben: eine lange und krumme an der Stelle, wo sich die linke Brust befand, eine zweite, wie ein liegendes Komma, in der Achselhöhle – dort wurden die Lymphknoten entfernt – und eine dritte, eine Brandnarbe von der Bestrahlung, die nach der Operation durchgeführt wurde, um ein eventuelles Wachstum bösartiger Zellen zu unterbinden. Dazu diente auch die Chemotherapie, die keine Spuren hinterlassen hat. Ich glaube, das ist alles. Die Krebsoperation im Jahr 2000 kostete mich die linke Brust und einige Lymphknoten, aber das verkraftete mein Körper ohne großen Widerstand. Verändert hat sich nur eines: Manchmal trage ich einen BH und lege eine kleine Prothese hinein, um der Symmetrie willen. (Ich neige zu Symmetrie, was Andrej für ein Zeichen von Unvollkommenheit hält, er hat dazu diverse interessante Theorien.) Ich trage weite Kleidung. Und ich mache Gymnastik, weil ich meinen linken Arm etwas schlechter heben kann als den rechten, darum trainiere ich diese Muskeln jeden Morgen. Jetzt, da mein linker Arm nach den Begegnungen mit den beiden Quallen geschwollen ist, muss ich wieder an Andrejs Zeichnung mit meinen Pfeilen darauf denken, die bei mir zu Hause im großen Zimmer hängt, und sehe meinen Körper mit einem anderen Blick – mit allem, was ich an ihm mag, nicht mag oder sogar hasse. Seit einigen Jahren strebe ich danach, mich mit mir selbst zu versöhnen, die Feindseligkeit zu unterdrücken und mir wenigstens etwas zu gefallen, oder eher – mich zu akzeptieren, wie ich bin. Dabei hat mir Andrej mit seiner Liebe sehr geholfen. Mein Körper gefiel ihm so sehr, dass ich selbst ein besseres Verhältnis dazu fand.

Meinen Körper zu lieben habe ich bisher nicht geschafft, aber ich habe mich mit ihm ausgesöhnt, behandle ihn besser, und ich bin ihm dankbar: Er lässt mich bis jetzt nicht leiden. Selbst meine starke Migräne wurde mit den Jahren immer schwächer und ist nun im Alter ganz verschwunden. Seit einigen Jahren empfinde ich sogar etwas wie Schuld gegenüber meinem Körper, den ich so achtlos, so respektlos behandelt, auf den ich nicht gehört habe und den ich überdies ständig mit dem Rauchen peinige, das meinen Lungen gar nicht gefällt, was sie mir hin und wieder sanft und sehr taktvoll mitteilen. Die Vorstellung von gesunder Lebensweise spielte in meiner Kindheit und Jugend keine Rolle. Diät, Körpergewicht und Sport galten noch nicht als lebenswichtige Prinzipien. Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, hatte mit Sport nie etwas im Sinn. Nur eine Sportart – das Kartenspiel – wurde jeden Abend betrieben, Großvater spielte mit seinem Bruder Preference. Ein intellektueller Sport. Ich wurde in die Musikschule geschickt, dort sollte ich Klavier spielen lernen. Auch eine Art Sport. Ich nahm Unterricht, bis bei mir eine primäre Tuberkulose festgestellt wurde und die Ärzte meiner Mutter rieten, die Lebensweise des Kindes zu verändern: mehr frische Luft und Sport. Also brachte sie mich in die Kindersportgruppe im nahe gelegenen Maschinenbauer-Stadion. Meine Körpergröße und meine physischen Voraussetzungen verhießen keinerlei Erfolg, aber meine Mutter fand, wenn ich schon die Musikschule aufgab, sollte ich wenigstens regelmäßig eine Sportgruppe besuchen. Zusammen mit meiner Freundin Shenja ging ich zur »Maschinka«, wie die jungen Sportler das Stadion nannten. Dort wurde jeder genommen. Drei Jahre lang blieben Shenja und ich dabei, fuhren im Sommer sogar in eine Art Trainingslager. Meine physischen Voraussetzungen waren zwar allenfalls durchschnittlich, doch ich verfügte über eine gute Körperbeherrschung – das bescherte mir keine nennenswerten Erfolge, aber eine ausgezeichnete Technik. Unser Leichtathletik-Trainer Nowikow, ein älterer Mann mit dem sehr schönen, männlichen Gesicht eines amerikanischen Filmschauspielers, was niemand ahnte, auch er selbst nicht, ließ mich beim Training immer den Rollsprung oder den Wälzer vorführen oder die richtige Technik beim Hürdenlauf, die ich ebenfalls beherrschte. Ich sprang nie höher als 1,35 m – aber das elegant! Besonders schnell laufen konnte ich bei meiner Beinlänge auch nicht. Doch Schönheit ist wichtiger als das praktische Resultat! Und mein Körper mochte alle diese Übungen, wahrscheinlich verfüge ich deshalb noch heute über eine gute Körperbeherrschung. Zu Rock-’n’-Roll-Zeiten sprang ich munter zur Musik herum. Vor allem aber habe ich durch den Sport gelernt, mich beim Fallen einzurollen, die Hände zu schützen und weich auf den runden Schultern zu landen. Das kann ich noch heute. 

Insgesamt bin ich meinem Körper dankbar, mit der Zeit immer mehr. Ich bin relativ beweglich, kann gut laufen und recht schwere Rucksäcke mit Lebensmitteln tragen, ich habe noch eine gewisse Anzahl Zähne, und die fehlenden habe ich durch Implantate und Kronen ersetzt.

Allerdings ermüde ich schneller als früher, und mein Gedächtnis hat nachgelassen. Besonders gut war mein Gedächtnis jedoch nie – es wollte keine Fremdsprachen lernen, dafür behielt es hervorragend kleine Details und Einzelheiten, die normalerweise schnell vergessen werden. Und obwohl ich an meinem löchrigen Gedächtnis am meisten auszusetzen habe, bin ich ihm doch dankbar, weil es viele einzelne Bilder bewahrt hat, auch unglaublich frühe. Tatsächlich ist das Gedächtnis ja das Geheimnisvollste an uns; wir wissen inzwischen recht gut, wie der Herzmuskel funktioniert, auf welche raffinierte Weise das von der grünen Pflanzenwelt produzierte Chlorophyll den Weg zur Existenz tierischen Lebens bahnte und wie unsere Verdauung und unser Ausscheidungssystem funktionieren, doch niemand weiß, wie die großartige Umwandlung akustischer und visueller Eindrücke in jene Erinnerungen vor sich geht, die wir ein Leben lang bewahren. Davon erzählt mir manchmal mein Freund Nikita Schklowski, aber ich kann seinen begeisterten und hochtrabenden Reden kaum folgen. Auf dieses Gebiet wage ich mich nicht vor, es bleibt zu verschwommen, es ist nicht recht auszumachen, wovon dabei die Rede ist – vom Körper oder von der Seele. Ich vermute, die Seele wird vom Körper geprägt, und der Körper, besonders Gesicht, Mimik und Gesten, spiegelt Eigenschaften der Seele. So oder so, ich helfe meinem schwindenden Gedächtnis, so gut ich kann, unter anderem durch Aufzeichnungen wie diese. Um mich zu erinnern, nicht nur an Ereignisse und an andere Menschen, sondern auch an meinen eigenen Körper – er hat mir siebenundsiebzig Jahre gut gedient, und dafür bin ich ihm dankbar. Erst im Alter begreife ich, dass man seinen Körper achten und lieben muss. Und ich wünsche mir, dass er im Einvernehmen mit meiner Seele und meinen Gedanken bleibt, denn ich habe nicht mehr viel Zeit, und die möchte ich nicht im Zustand der Demenz verbringen.

Text: Ljudmila Ulitzkaja
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja verbindet russische und jüdische Erzähltradition mit moderner Erzählkunst. Sie engagiert sich in der Opposition gegen Putin und lebt im Exil in Berlin, wo sie mit Erinnerungen gegen das Vergessen anschreibt.

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