Niemand liebt überlieferte Dichtungen mehr als die Welt der Mode. Was wäre der taschengewordene Mythos Kelly Bag von Hermès ohne die Aufladung mit einer eindrucksvollen Geschichte von Inspiration und Handwerk? Einfach nur Leder. Zeit für einen Rea­lity-Check.

MYTHOS EINS: DER GENIALE DESIGNER

Beginnen wir mit der beliebtesten Figur der Modewelt: dem ge­nialen Designer. Ganz alleine zaubert er aus dem Nichts Kollek­tionen. Mit Stiften, nein Zauberstäben, skizziert er seine Vision, seine Larger-than-life-Persönlichkeit sorgt für Bonmots, die spä­ter auf Kaffeetassen stehen, und auch für ein bisschen Angst bei allen, die für ihn arbeiten. Das Bild ist vertraut, geschaffen von den großen Kreativen ihrer Zeit: Yves Saint Laurent, Giorgio Armani, Gianni Versace und, natürlich: Karl Lagerfeld. Es ist ein vollkommen falsches. Denn in Wahrheit ist der Modedesigner nie ein einsamer, unberechenbarer Wahnsinniger gewesen. Sondern ein Dirigent. Ohne Team, ohne das Atelier, ohne Produktion und ohne Marketing wären Skizzen, egal wie schön, Kritzeleien. Eine Skizze ist noch nicht einmal ein Entwurf. Eine Skizze ist nicht mehr als ein Funke, der überspringt. Auf Menschen, die Schnitte machen, auf Menschen, die Stoffe einkaufen, auf Schneider:innen. Dass Mode im Kollektiv entsteht, wurde bis jetzt so gut wie nie erzählt, es war Pierpaolo Piccioli, bis zum vergangenen Jahr Designer von Valentino, der seine »petites mains«, also die Haute-Couture-Schneiderinnen, die mit ihrem einzigartigen Know-how das Un­mögliche möglich machen, auf Instagram und auf dem Laufsteg namentlich feierte. So wenig Ego ist selten in einer Industrie, die das Märchen des Einzelkämpfers braucht, um die Idee der Einzig­artigkeit zu verkaufen. Das schöpferische Individuum, das keine göttliche Einflüsterung benötigt – es ist eine Erfindung des Humanis­mus. Die Modeindustrie hat den Kult um ihn so perfektioniert wie keine andere. Deswegen wird so ein Wahnsinnsaufheben um all die Neubesetzungen bei den Megalabels gemacht: Bei Chanel tritt Matthieu Blazy an, bei Dior JW Anderson, und Gucci wird Demna Gvasalia übernehmen, der von Balenciaga kommt. Dort ersetzt ihn der hochtalentierte Pierpaolo Piccioli. Aber wahrschein­lich ist der zu ehrlich, um ein ganz Großer zu werden.

MYTHOS ZWEI: HANDWERK ALS KUNSTFORM

Nicht minder beharrlich hält sich der Glaube ans Handwerk. Mode­häuser zeigen auf Insta und Co. alte Damen in weißen Kitteln, die Perlen auf Tüll sticken, arbeitende Männerhände, die Lederteile zusammennähen, kurz: Leute, die mit Liebe ihrer Arbeit nachgehen. Handarbeit, so die Botschaft, stirbt überall aus, nur wir halten alte Traditionen am Leben. In dem Sachbuch »Bereicherung. Eine Kritik der Ware« sezieren die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre diesen Bullshit aufs Allerunterhaltsamste: Bei heutigen Luxusprodukten haben wir es demnach mit Serienware zu tun, die mittels getunter Aura zu Sammlerstücken stilisiert wird. Luxus­güterfirmen wie LVMH und Kering setzen auf den Handel mit Produkten, die hohe Gewinnspannen besitzen – und einen Marken­namen, der in der Vergangenheit von Ländern verwurzelt ist, deren Lebensstil zum Kulturerbe erhoben wurde, Italien und Frankreich zum Beispiel. Bei diesen Produkten handle es sich entweder um solche, die gesammelt werden können (Wein, Schmuck, Uhren), oder um Standardprodukte, die einen Sammlereffekt hervorrufen, wie Kleidung und Accessoires. Fakt ist: Der größte Teil der Pro­duktion findet heute in Fabriken statt, mit standardisierten Pro­zessen. Ehrliches Handwerk wäre es, wenn eine einzige Person eine Tasche herstellt. Aber »Made in Italy« ist nur noch ein Etikett, für dessen Legalität es reicht, wenn dreißig Prozent der Arbeits­schritte in Italien getätigt wurden. Bei einem Paar Schuhe reicht das Etiketteinkleben und das Verpacken in einer Schachtel.

Und so sind die wenigen Ledermanufakturen und Haute-Couture-Ateliers, die es noch gibt, nur noch Bühnen, auf denen sich Massen­ware – Taschen, Düfte, Sonnenbrillen – gut dramatisieren lassen.

MYTHOS DREI: MODE UND MORAL

In den vergangenen Jahren hat die Modebranche sich ein neues Gewand übergeworfen, gewebt aus moralischer Verantwortung, Toleranz und Nächstenliebe. Alle sind auf dem Weg zur Nach­haltigkeit. Alle sind divers und inklusiv. Und mit Russland macht man keine Geschäfte. Schöne Märchen! Das einzige große Luxus­label, das sich seriös der Nachhaltigkeit verschreibt, ist Stella McCartney. Von den meisten anderen hört man zum Thema, das vor ein paar Jahren mal Lieblingsmarketingtool war, nur noch sehr wenig bis nichts. Die Models mit halbwegs normalen Körpermaßen, die auf dem Höhepunkt der Woke-Welle überall die Laufstege bevölkerten, sind längst wieder verschwunden, Models sind wie­der so klapperdünn – und meistens weiß – wie in den neunziger Jahren. Und in den Reichenvierteln von Moskau? Bleibt die Ver­zweiflung über harte Sanktionen wegen des Angriffs auf die Ukraine auf magische Weise aus. Zwar zogen sich die großen Luxus­konzerne mit großer Geste kurz nach Kriegsbeginn aus dem russischen Markt zurück. Aber nur offiziell. Die Financial Times berichtete Ende vergangenen Jahres über eine Schattenwirtschaft, die europäische Luxusware nach Russland bringt. Wie? Da wären zunächst die Drittanbieter. Im Jahr 2024, so die Financial Times, gelangte eine Lieferung mit dreihundert Bottega-Veneta-Taschen nach Moskau – über China. Dann wären da noch die sogenannten Buyer, die in Mailand und Paris regelmäßig in die Shops gehen und nach Auftrag Luxusware kaufen. Die Luxuslabels müssen offiziell dafür geradestehen, wenn eines ihrer Produkte auf dem russischen Markt auftaucht, egal auf welchem Wege. Tun sie aber nicht. Stattdessen warten sie darauf, dass es bald endlich weiter­gehen kann: Die wenigsten haben ihre Ladenlokale in Moskau aufgegeben, sondern diese nur vorübergehend geschlossen.

MYTHOS VIER: MODELEUTE SIND FEINGEISTER

Bernard Arnault, einer der reichsten Männer der Welt, zu dessen Konzern Hotelketten, Weingüter, Schmuckfirmen und die wohl­klingenden Namen Dior und Louis Vuitton gehören, war früher schnöder Immobilienunternehmer. Und sein Konkurrent François Pinault, dem der andere große Luxuskonzern Kering und damit Marken wie Gucci, Saint Laurent und Bottega Veneta gehören, Holzhändler. Aber jetzt spielen sie sich als Kunstmäzene und Feingeister auf. Dabei haben beide nur zum richtigen Zeitpunkt auf das Geschäft mit dem Schönen umgesattelt. Trotzdem wollte die Welt daran glauben, dass sie die Welt zu einem schöneren, erleseneren Ort machen wollen. Bis Arnault mit der ganzen Sippe zu Donald Trumps Vereidigung reiste. Mode im Jahr 2025? Ein eiskaltes Geschäft.

MYTHOS FÜNF: DIE SOGENANNTEN STILIKONEN

In der Mode klingen keine Namen mythischer als Chanel und Dior. Gabrielle »Coco« Chanel und Christian Dior. Man feiert die beiden als Revolutionäre, welche die Leben der Frauen verändert hätten, Coco Chanel mit ihren Jersey-Kleidern ohne Korsett im Jetset-Örtchen Deauville, Dior mit dem »New Look«. Es ist gleichzeitig die größte Stärke und die größte Schwäche der Mode, dass sie den Begriff Stil wirklich nur an der Oberfläche festmacht, nicht etwa an einem Gesamtbild aus Manieren, großem Herzen oder Bildung. Das ist der Grund dafür, dass heute Influencer mit der Vermarktung von Luxusmode Millionen verdienen, sich an Dinner­tischen aber aufführen wie Bud Spencer vor einer Pfanne Bohnen. Und das erklärt gleichzeitig, warum Chanels und Diors ästhetische Verdienste bis heute überlebt haben, die dunklen Kapitel aber gern übersehen werden. Während der deutschen Besatzung Frankreichs war Coco Chanel mit einem SS-Offizier liiert, lebte im Pariser Ritz – zur damaligen Zeit Hauptquartier der Wehrmacht – und versuchte, ihr Parfumgeschäft, das sie zuvor jüdischen Part­nern verkauft hatte, mit einer Prise Antisemitismus zurückzu­bekommen. Nach dem Krieg floh sie in die Schweiz, und ihre Rückkehr in die Modewelt 1954 war keine triumphale Heimkehr, sondern ein sorgfältig orchestrierter Image-Restart, unterstützt von der Familie Wertheimer.

Und was wissen wir eigentlich über Christian Dior? Nichts, außer, dass er der Retter der französischen Mode nach dem Krieg ge­wesen sein soll, weil er den »New Look« erfand. In Wahrheit war der ja schon damals alles andere als neu, eigentlich steinalt: ein nostalgischer Rückgriff auf Korsetts, Wespentaillen und hilflose Weiblichkeit. Revolutionär war daran – bis auf den exorbitanten Stoffverbrauch in Nachkriegszeiten – nichts. Aber schön, ja, das war er natürlich trotzdem. Wofür stehen Chanel und Dior heute? Für eine ikonisierte Pariser Eleganz, in der sich amerikanische Touristinnen auf dem Paris-Trip verkleiden. 

Was also bleibt nach diesem nüchternen Blick auf die Mode? Ein leeres Geschäft, ein hohles System? Exakt. Und die Wahrheit: Mode ist nicht ehrlich. Und das muss sie auch nicht sein. Sie ist ein Spiegel der Gesellschaft, ein Ort der Projektion. Sie lebt von Widersprüchen, Bildern, Träumen. Entscheidend ist nur, dass wir die Mode als das anerkennen, was sie auch ist: eine Erzählung. Das macht sie zutiefst menschlich, denn auch das gehört zur Wahrheit: Ohne Geschichten, ohne Wünsche und Träume könnte die Menschheit nicht leben.

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Cover art:
Ugo Rondinone
dreams and dramas, 2001
Nein, acrylic glass, translucent foil, aluminium 
390 x 950 x 10cm

Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul