Everything is alive

In manchem Badboy steckt letztendlich doch ein weicher Kern – sogar in einem Alligator.


Ian Chillag
F Alana Celii

 

A Ich bin »Alligator«. Ich bin ein Stofftier. Ich lebe mit meinem Jungen und seiner Familie, und allem, was sie sonst noch so haben …
I Kannst du uns einmal dein Aussehen beschreiben?
A Ich bin grün und lang. Ich bin ein Alligator, zumindest nennen sie mich so. Möglicherweise bin ich aber ein Krokodil. Der Unter­schied ist schwer zu erkennen, besonders wenn man, na ja, plüschig ist. Die beiden Arten unterscheiden sich an den Zähnen.
I Ach ja?
A Als regelmäßiger Zuschauer von »Animal Planet« weiß man so etwas. In meinem Fall sind sie aber auch noch aus Filz.

I Erzähl mir doch ein bisschen über den Jungen – gehörst du ihm? Oder wie sagt man das richtig?
A Nun ja, präziser wäre es zu sagen, wir sind miteinander ver­schlungen. Am Anfang war ich größer als er, als sie mich ihm zum ersten Mal gaben. Ich war länger als er. Aber er ist einfach immer größer und größer geworden. Und wenn ich ehrlich bin, ist er jetzt viel länger. Er ist ein sehr langer Junge.
I Wie seid ihr zusammengekommen?
A Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Meine erste Erinnerung ist ein Frauengesicht. Ich bewegte mich an ihm vorbei, in einem großen Raum voller Lärm. Zurückblickend war es wahrscheinlich eine Fabrik. Dort hat mich auf alle Fälle jemand angesehen und als Alligator und nicht nur als Produkt erkannt. Das ist der Moment, in dem wir aufwachen, wenn jemand eine Verbindung zu uns aufnimmt. Und dann, als Nächstes, werde ich meinem Jungen in die Wiege gelegt. Wenn er mich ansieht, bin ich wach. Ich wache immer auf, weil er sieht, was ich wirklich bin. Er sieht einen Alligator.

I Also, du bist: »Alligator«, eine Repräsentation eines echten Al­ligators. Was weißt du über Alligatoren?
A Tja, so viel weiß ich: Meinen Job könnten sie nicht machen. Ich ihren wahrscheinlich auch nicht. Ich würde wahrscheinlich von einem Alligator gefressen werden.
I Meinst du? Stellen wir uns mal einen Sumpf mit Alligatoren vor.
A Also gut, dann bin ich jetzt Frau Sumpf, Frau Gras. Es ist feucht. Mit Luftfeuchtigkeit kenne ich mich gut aus; ich war schon mal in einer Waschmaschine. Ich spüre Käfer, viele Käfer und Alli­gatoren, sie liegen im Wasser rum. Ich auch. Vielleicht will mich einer von ihnen knuddeln? Die haben ja kleine Ärmchen und könnten mich schon umarmen. Ich habe noch nie einen Alligator getroffen, eigentlich stelle ich es mir nicht so schlimm vor. Aber ich bin schon eher der Beschützertyp. Also wenn so ein kleiner Jungen am Ufer entlanggehen würde – ich stelle ihn mir mit einem Stock vor und er stochert im Gras herum. Er würde mich, Alligator, dort sehen und nach mir greifen. Aber dann würden die anderen, die Echten, die würden … Ich will es mir gar nicht vorstellen. Ich mag dieses Bild gar nicht.

I Schon komisch, dass du als Repräsentation eines Alligators sehr warmherzig wirkst, Alligatoren aber den Ruf haben, kalt und furchteinflößend zu sein.
A Sie müssen um ihr Überleben kämpfen. Sie müssen fressen. Also müssen sie eine Show abziehen. Aber weißt du, sie sind empfindlicher, als man meint. Ihre Gesichter, zum Beispiel, sind sensibler als die menschliche Fingerspitze. Stell dir das mal vor! Man kann mit der Fingerspitze sogar die kleinsten Dinge er­spüren … Temperaturen, Vibrationen. Und das Gesicht eines Alligators ist noch empfindlicher. Wenn er auf dem Grund eines Sumpfes liegt, spürt er all diese kleinen Dinge, die vorbeischwim­men. Sein Gesicht erkennt, wenn etwas Essbares vorbei­schwimmt.
I Das ist wirklich seltsam.

A Stell dir mal vor, was ein Alligator alles mit seiner gefühlvollen Schnauze anstellen könnte. Mit dem Fingerspitzengefühl seiner sanften Schnauze könnte er bestimmt sogar Geige spielen.
I Weißt du, das ist eine viel ... das ist jetzt eine viel bessere Sumpf­szene. Komm, lass uns das Ende überarbeiten.
A O ja! Der Junge, er sieht mich, Alligator, und er greift nach mir. Und die anderen Alligatoren? Sie würden ihre Geigen heraus­holen und ein Lied spielen. Es wäre wunderschön und alles im Sumpf würde still werden und schweigend zuhören. Der Junge würde mich mit sich nehmen. Und dann frisst einer der Alliga­toren aus Versehen seine Geige.

I Alligator, du hast vorhin erwähnt, dass du fernsiehst, wahrschein­lich mit dem Jungen? Erzähl mir, wie das ist.
A O, ich bin dann in meiner Rolle als Nackenkissen tätig. Meinen Schwanz auf der einen Seite seines Kopfes und meinen Kopf auf der anderen Seite, es ist der beste Platz im Haus. Ich sehe alles, was er sieht, ich höre alles, was er hört, und deshalb ver­stehe ich alles, meistens auch den Kern der Geschichte.

I Was ist deine Lieblingssendung?
A »Spongebob Schwammkopf«, keine Frage. Ich kann mich irgend­wie mit Spongebob identifizieren. Er ist aufnahmebereit, ich bin aufnahmebereit. Oder »Law and Order«, das mag ich auch sehr.

I Du verbringst deine ganze Zeit mit dem Jungen. Was ihm pas­siert, passiert auch dir. Erfahrungen prägen – wahrscheinlich seid ihr euch sehr ähnlich?
A Nein, also nicht wirklich. Es ist kompliziert, diese Verschlungen­heit, wie ich es nenne. Ich erlebe alles wie er, aber doch anders. Ich dachte zum Beispiel eine Zeitlang, dass ich eine Kuschel­decke hätte. Ich meine, es gab eine Kuscheldecke, denn als er noch ganz klein war, hatten wir immer eine Kuscheldecke dabei. Manchmal war ich mit darin eingewickelt. Bei Reisen wurden wir zusammen in den Rucksack gestopft. Einmal waren wir im Flugzeug, und sein Vater hat mich hochgehoben und in den Rucksack gestopft. Mein Kopf hing noch raus. Ich konnte sehen, dass die Decke irgendwie zwischen den Sitzen eingeklemmt war, und ich dachte nur: »O, o. Er sieht sie nicht.« Der Junge hat sie auch tatsächlich nicht gesehen. Und plötzlich zogen sie den Reißverschluss über mir zu. Das war das letzte Mal, dass ich Kuscheldecke gesehen habe. Es kann so schnell passieren, dass man allein gelassen wird. Das ist definitiv das, wovor ich mich am meisten fürchte. Wahrscheinlich mehr als vor dem Hund, ehrlich gesagt.

I Was denkst du, macht die Kuscheldecke gerade?
A Das Einzige, was man tun kann: warten. Mehr können wir in so einer Situation nicht tun.

I Hast du schon mal von Marie Kondo gehört?
A Hm, der Name kommt mir bekannt vor, wieso weiß ich nicht.
I Sie ist ein Organisationsguru. Sie hilft Leuten beim Entrümpeln. Und sie hat gesagt, dass es schwer ist, Stofftiere herzugeben, weil wir eine so intensive Verbindung zu ihnen haben. Und sie empfiehlt, dass man ihnen die Augen verbindet, wenn man sie weg…bringt.

A Den Stofftieren die Augen verbindet?
I Genau.
A O mein Gott, das klingt wirklich äußerst seltsam und, ehrlich gesagt, dumm. Das ist ja wie eine Entführung. Da kann man uns ja gleich eine schwarze Kapuze über den Kopf stülpen und in einen weißen Lieferwagen werfen. Wahrscheinlich empfiehlt sie, uns in einem flachen Graben zu verscharren.
I Ganz so weit geht es nicht.

A Okay, aber so klingt es. Vielleicht hatte sie jemanden wie mich in ihrem Leben. Ging wohl nicht so gut aus. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
I Stofftiere können so bedeutungsschwer sein, oder eben auch nicht. Für manche sind sie einfach nur Spielzeug, für andere wiederum wie ein Partner in einer emotionalen Beziehung.
A Ja, wohl wahr. Aber es ist auch keine einfache Beziehung. Mein Junge wird größer und geht jetzt seit ungefähr acht Jahren in die Schule. Mit der Schule hat sich alles verändert. Plötzlich hatte er ganz andere Sorgen. Sorgen, die ich ihm nicht abnehmen kann, Ängste. Ich kann seine Ängste spüren, kann sie sogar sehr gut nachfühlen. Manchmal mache ich es dann nur noch schlimmer. Zum Beispiel, wenn seine Freunde da sind. Er hält keinen Körperkontakt mit mir, wenn seine Freunde da sind. Ich muss in die Schublade – sonst bin ich nie in der Schublade. Ich dachte zuerst, klar, er will nicht, dass diese Jungs mich sehen und mit mir spielen, und ich mich mit ihnen befreunden könnte, sodass er eifersüchtig wird. Oder dass sie mich sogar mitnehmen könnten! Aber, ehrlich gesagt, glaube ich, er schämt sich für mich.

I Es klingt so, als ob mit dem Alter seine Art, mit dir umzugehen, sich verändert hat, während du dich nicht verändert hast.
A Nun, körperlich habe ich mich auch verändert. Ich bin schlabb­rig geworden und werde auch immer schlabbriger. Da geht es mir so wie euch Menschen. Aber ich hab mich im Griff. Es ist so: Er wird nicht nur größer, er wird anders. Ich werde zwar nicht größer, aber ich werde auch anders. Man lernt viel über sich selbst durch seine Mitmenschen, auch wenn man kein Mensch ist. Ich bin das, was die Menschen über mich denken, und ich verändere mich, wenn mein Mensch anders über mich denkt. Ich fühle mich anders, weil ich sehe, dass er anders über mich denkt. Manchmal wünsche ich mir, ich würde wieder anfangen zu wachsen und länger werden, dann wäre ich eines Tages wieder länger als er. Wenn er weiter wachsen würde, würde ich wieder wachsen. Und so würden wir zusammen immer länger und länger werden, bis wir zusammen den ganzen Raum ein­nehmen.

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Cover art:
Ugo Rondinone
dreams and dramas, 2001
Nein, acrylic glass, translucent foil, aluminium 
390 x 950 x 10cm

Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul