Ruhe im Karton
In erster Linie ist es wohl Faulheit, dass ich meine Familienfotos, also die von früher, bevor ich eigene Kinder bekam, in einem alten Postkarton aufbewahre, wo sie keiner anderen Ordnung unterliegen als der, die der Zufall stiftet, und die allerdings den Vorteil hat, dass die Unordnung, die da herrscht, dem Gedächtnis viel eher gleicht, als es ein sorgsam sortiertes Fotoalbum tun würde. Der liebe Gott – oder der Weltgeist, Geschmackssache – weiß das, weshalb es, drei Tage nach der Konfirmation meiner ältesten Nichte, keine fünf Minuten dauerte, bis ich, auf der Suche nach etwas ganz anderem, mein Konfirmationsfoto in Händen hielt. Es war die Zeit der Lederkrawatten, und ich sah tatsächlich noch nicht ganz so zombiesk aus wie auf den Adoleszenzfotos, die folgten und meine erotisch arme Pubertät als völlig folgerichtig erscheinen lassen.
Dass die Jugend die schönste Zeit im Leben sei, ist nämlich, um einmal ein ganz heißes Eisen anzufassen, nichts als ein Mythos. Sie ist es sogar umso weniger, wenn wir »schön« im ganz konkreten, physischen Sinn verstehen. Ich war, auch das legt die Fotokiste nahe, ein hübsches Kind und bin, alles in allem, am Anfang des letzten Lebensdrittels eine hinnehmbare Erscheinung, sah zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig aber wirklich scheiße aus, wofür schon eine Frisur sorgte, die anfangs zeitgenössisch gewesen sein mag, dann aber nur mehr unvorteilhaft. Elke Heidenreich hat neulich geschrieben, bis dreißig sei das Leben bloß anstrengend, und so ungern ich Elke Heidenreich recht geben mag, da hat sie recht. Es ist schon darum so anstrengend, weil man alles Mögliche von ihm erwartet, und das meiste davon kommt natürlich nicht. Mit dem Teil, der kommt, kann man sich als Erwachsener dann anfreunden, und was nicht gekommen ist, kommt jetzt auch nicht mehr, und wiederum ist es Geschmackssache, ob das nun enttäuschend oder beruhigend ist. Das Durcheinander, das die frühen Jahre so verschattete, birgt jetzt der Fotokarton, wo es, einmal im Jahr oder auch nur einmal im Jahrzehnt, für das Vergnügen gefahrloser Unordnung sorgt – gefahrloser, weil gebändigter, freundlich chaotischer Vergangenheit. Das Fotoalbum, am Ende nach Jahrgängen geordnet, wäre mir schon darum suspekt, weil es in seiner linearen Ordnung einen Sinn oder sogar eine Erfolgsgeschichte suggeriert, denn gelungene Bürgerlichkeit heißt, dass erst das eine kommt und dann das andere, wie es sich gehört. Ich bin weiß Gott kein Anarchist, und ich hasse es, Dinge nicht in Ordnung zu haben; aber dass ich, mit Wim Wenders’ Landstraßencowboy Bruno Winter zu sprechen (»Im Lauf der Zeit«, 1976), eine Zeit hinter mich gebracht habe und dass das ein ganz beruhigendes Gefühl ist, steckt für mich gerade darum in dem Karton, weil er das Hinter-sich-Bringen, das Auf-, Voll- und Leerlaufen so schön zum Ausdruck bringt. Ich wüsste auch gar nicht, wo ich die Kinderbilder der Tochter der Freundin meiner Mutter hinsortieren sollte, Bilder eines Mädchens, das, glaube ich, Antje heißt, und mehr weiß ich nicht und muss ich nicht wissen.
Der Mythos der goldenen Jugend dient dazu, fürs nicht so goldene Erwachsensein zu entschädigen, so wie der bürgerliche Mythos von Ruhe und Ordnung für das entschädigt, was Unruhe und Unordnung an Glück und Möglichkeit erst hervorbrächten. Meine Großmutter war im Zonenrandgebiet, also im Sendebereich des DDR-Fernsehens zu Hause, und mein seit Kindertagen bestehendes Faible für den Oststaat hat mit dessen Grenze zu tun, was mir wieder klar wird, seit ich auf Youtube Lehrfilme der NVA-Grenztruppen sehen kann, die eine Grenze bewachten, über die jeder Nato-Panzer lächelnd hinweggerollt wäre, die aber, in der mythischen Erzählung von Freund und Feind (»Unser Land. Seine Grenze sicher behütet«), geschickt in den Bürgertraum vom umzäunten Eigenen eingefügt und für eine Geborgenheit verpflichtet wurde, die zwar mit Restriktion erkauft war, aber heute, wo alles immer grenzenlos ist, vielerorts vermisst wird, und sei’s aus falschen, nämlich AfD-Gründen.
Doch die Grenzenlosigkeit, die der Fall der Mauer versprach, ist halt ebenfalls ein Mythos. »Heute fliegen ja nur noch Kleinbürger nach Neuseeland«, schreibt mir ein Freund, der selbst gerade da war, um seine fernab studierenden Töchter zu besuchen – Mythos Flugscham –, und eine Glosse von mir gelesen hat, in der es um Leute ging, welche die Ahnung von der Sinnlosigkeit ihrer Reiserei dadurch kompensieren, dass es immer weiter weg gehen muss, auch wenn sie dann in Auckland bloß wieder im Starbucks sitzen. Im Fernsehen das junge Paar, das eine Weltreise macht und in einem vorschriftsmäßig prachtvollen Tempel steht, zu dem ihm die provinziell-lobotomische Wertung »Hammer« einfällt, und ich denke, dass die beiden nie von zu Hause weggekommen sind. Ursprünglich, weiß Wikipedia, ist der Mythos »eine Erzählung, die natürliche oder soziale Phänomene erklären oder veranschaulichen soll«; heute ist der Mythos, da würde der Philosoph und Semiotiker Roland Barthes vielleicht beipflichten, das soziale Phänomen selbst, das sich permanent selbst veranschaulicht. Kein Aufsatz über den Spätestkapitalismus macht ihn so greifbar wie der tätowierte Familienvater, der bei hellstem Sonnenschein mit der Neonwarnweste auf dem Kindertransportrad sitzt, und wenn ich sage: »Dass ein Tattoo heute irgend mehr sei als ein Zeichen äußerster Konformität, ist ein Mythos«, trifft das gleich doppelt zu.
Erzählung, dekretierte die Postmoderne, ist das ganze Leben, und so ist das Wort vom »Mythos« ursprünglich auch gemeint: Ein Mythos, der nicht aufs Ganze zielt, ist keiner, und wenn etwas vermeintlich total nicht stimmt, ist es ja ebenfalls ein Mythos, eine Erzählung, deren Gültigkeit sich am schieren Gegenteil beweist, Bildungsgleichheit ist ein Mythos et cetera.
Immer ist es so, dass der Mythos, wie jede Erzählung, die Unordnung ordnet, und die Erzählung spielt, mit dem Erzähler Alfred Andersch gesprochen, »eine Möglichkeit durch«. So ist es selbstredend vorstellbar, dass in Yucca-Palmen Riesenspinnen wohnen oder die Mondlandung, diese Metapher aller menschlichen Möglichkeit, gar nicht stattgefunden hat. Jede Erzählung verschränkt das Mögliche mit dem Wirklichen, und im besten Fall lesen wir dann eine des früh verstorbenen Autors Wolfgang Herrndorf (»Diesseits des Van-Allen-Gürtels«), in welcher der Erzähler dem Nachbarsjungen erzählt, dass die Mondlandung Erzählung, ein Mythos sei – und stimmt’s etwa nicht? –; im schlechtesten Fall, wenngleich auch recht fantasiereich, essen Migranten Hunde. So ein Zufall ist es nicht, dass Apollon, der griechische Gott der Künste, auch der von Maß und Weisheit ist.
Der Mythos von der stabilen, durchzivilisierten Bundesrepublik geriet zuletzt ins Wanken, schon weil immer mehr Leute, auch junge, den Schatz am Ende des Regenbogens als Sage erkennen und einen neuen Mythos bevorzugen, der leider ein ganz alter ist. Bei dem Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel, für den Wahrheit immer mit Erzählen, nie mit Beschreiben zu tun hat, steht irgendwo, dass die Menschen deswegen nostalgisch sind und ihre gute alte Lederkrawatte zurückhaben wollen, weil sie sich ihrer selbst übers Erzählen, als Erinnern, versichern. Was das alles mit meinen Fotos im Karton zu tun hat? Mindestens so viel, dass sie nicht beanspruchen, ein Mythos oder auch nur ein Teil davon zu sein, Elemente einer Totalität aus erst und dann, weil und obwohl. Wenn es stimmt, dass alles Erzählung, Geschichte, ist, und wenn das fürs Politische, diesem an sich Geschichtlichen, erst recht gilt, ermüden mich die kurrenten – und konkurrenten – Erzählungen immer da, wo sie Stringenz und Absolutheit beanspruchen: Putin ist ein Gangster / Antiimperialist, Israel verteidigt sich nur / betreibt Völkermord, die SPD verrät die Arbeiterklasse / sorgt für den Mindestlohn. Ich will meinen Karton als Metapher nicht überbeanspruchen, aber so unsortiert, wie er ist, erzählt er das, was er zu erzählen hat, jedes Mal anders, was nicht bedeutet, dass er immer etwas anderes erzählt. Das Material bleibt dasselbe, und je länger mein Leben währt, desto größer wird der Anteil Erinnerung daran, die natürlich ihrerseits Erzählung ist; aber eine, die keine letzte Verbindlichkeit beansprucht, sondern, in aller plänkelnden Konsequenz, eine Möglichkeit durchspielt, und zwar immer wieder neu. Das, möchte ich finden, ist das Intellektuelle, wo nicht das Menschliche selbst, und ist alles andere, ich bitte, nicht ein Mythos?