Die Stadt der Zeichen

Der Mythos als architektonisches Prinzip 


Lukas Kubina

 

Las Vegas ist eine Stadt aus Licht, Zeichen und Versprechen. Das diagnostizierten zumindest 1968 die Architekt:innen Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour. Ihre Studie »Lear­ning from Las Vegas« war eine Provokation, ein Frontalangriff auf die ästhetische Moral der Moderne, und spaltete die Disziplin. Zugleich war der Ansatz ein demokratischer Akt: Architektur wurde nicht mehr exklusiv im Vokabular der Fakultät gedacht, sondern im Alltag, auf der Straße, im Neonlicht. Die Stadt wird auf diese Weise zum Feld konstruierter Kommunikation deklariert, in dem Bedeutung die Form und Oberfläche die Struktur ersetzt. Aus Räumen werden grafische Hierarchien, banale Baukörper wie etwa ein Kasino, erlangen erst durch Leuchtschriften ihren Stellenwert. »Learning from Las Vegas« war auch ein Statement zur Rolle derArchitekt:innen: Das formgebende Genie weicht dem aufmerksamer Ethnograph:innen.

Über die Jahre wurde der »Strip« in Las Vegas zum Symbol für eine Gesellschaft, in der Kommunikation und Konsum, Spektakel undMobilität, Oberfläche und Identität nicht mehr voneinander zu tren­nen sind. Und im Rückblick – so im Kompendium »Eyes That Saw.Architecture after Las Vegas« (2020) vielstimmig untersucht – zueiner Art »archäologischer Grabung« im kulturellen Gedächtnisdes Kapitalismus. Darin beschreibt beispielsweise der KünstlerPeter Fischli seine Reise nach Las Vegas als Konfrontation miteiner Welt, in der alles bekannt wirkt – aber gleichzeitig über­zeichnet, geradezu halluzinatorisch. »Man bekommt alles, was man kennt, aber in größer, bunter, unechter und emotional aufgeladener Form.« Diese Erfahrung verbleibt jedoch nicht bloß im ironischenZitat. Vielmehr behauptet sich in der Neuformulierung inmitten der Wüstenlandschaft von Nevada eine eigene, neue Materialität. MitAuswirkungen. In Fischlis Erzählung wird die Stadt selbst zumhalluzinogenen Zustand – eine Architektur, die weniger gebautwirkt als geträumt. In »Fear and Loathing in Las Vegas« schildertHunter S. Thompson die Kasinos nicht als Räume, sondern alspsychotrope Maschinen: »Das war kein Ort für Menschen mit schwachen Nerven – oder auch nur einem Rest von Realitätssinn.« Was Fischli als Überwältigung erlebt, wird bei Thompson zur Totalauflösung der Wirklichkeit. Beide beschreiben – aus unterschiedlichen Blickwinkeln – dasselbe Phänomen: Las Vegas ist keine Stadt, sondern ein Zustand intensiver Fiktion. Ein Ort, an dem Zeichen nicht mehr auf etwas verweisen, sondern selbst zur einzigen Realität werden.

Inzwischen hat Las Vegas diese Logik perfektioniert: Es ist nicht nur ein Feld von Zeichen, sondern eine Stadt aus Simulationen. Der Eiffelturm, die Pyramiden, Venedig mit künstlichem Himmel – all das sind nicht Zitate, sondern vollständige Aneignungen. Die Aura des Originals wird durch Erlebbarkeit ersetzt. Die Frage nach Echtheit weicht der Frage: Funktioniert es emotional? In Las Vegas ist »Venedig nicht mehr Geschichte, sondern Spektakel«, so der Kunsthistoriker Stanislaus von Moos, ein Ort, der sich nicht mehr durch seine Vergangenheit legitimiert, sondern durch seine Wirkung im Jetzt. Die Gondel im Hotel Venetian wäre demnach keine ironische Geste, sondern eine ernst zu nehmende Dienstleistung: das Versprechen, für einen Moment Teil einer idealisierten Welt zu sein – unter blauem Kunsthimmel, perfekt temperiert. Der Erlebnisraum Las Vegas wird damit zum Vorgriff auf das Zeitalter der digitalen Reproduktion. Ihre Fassaden verhalten sich wie dreidimensionale Interfaces – inklusive User-Experience-Design in Stahl, Licht und Beton.

Dabei lehrt Las Vegas nicht, wie man bauen soll, sondern eher, wie man sehen kann. Lehrt, wie man darauf hören kann, was eine Gesellschaft wirklich braucht – oder besser: wovon sie träumt. Venturi, Izenour und Scott Brown haben die Grundlagen geschaffen, Architektur als Lesen zu begreifen. Darin liegt die Lehre des »Strip«: dass architektonische Werke eben nicht nur gebaut, sondern auch erzählt werden. Dass Gebäude nicht (nur) aus Beton bestehen, sondern aus Bildern, Bedeutungen und Affekten. Auf diese Weise trifft Architektur – gerade in ihrer widersprüchlichen Form – den Kern des Mythos: Denn er ist keine Lüge, sondern eine symbolische Wahrheit. Er entsteht dort, wo kollektive Sehnsüchte in Geschichten gefasst werden, die größer

 

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Cover art:
Ugo Rondinone
dreams and dramas, 2001
Nein, acrylic glass, translucent foil, aluminium 
390 x 950 x 10cm

Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul