T José Alejandro Castaño
F Inés Maestre
Evaristo Candelejo glaubte, einen toten Stier zu sehen, und ließ sich von der Strömung hinziehen, um sich den Fund genauer anzusehen. Es war fast Mittag und wegen der Regenfälle, die den Fluss anschwellen ließen, war es kaum möglich zu fischen. Je näher er kam, desto unsicherer war er, ob es sich wirklich um einen Kadaver handelte, und hielt die Augen offen, damit das Kanu nicht gegen einen unter Wasser verborgenen Ast oder Felsen stieß. Er war allein unterwegs. In dreißig Jahren Schifffahrt auf dem Magdalena-Fluss hatte er noch nie so viel Angst verspürt, nicht einmal, als ein Kugelhagel vom Ufer aus das Holz seines Bootes durchschlug und Teil seiner Fracht, zwei Schweine, niederstreckte. »Und zack, brüllte der Baumstamm und öffnete ein riesiges Maul«, erzählte er hinterher seiner Frau und seinen Nachbarn in Puerto Olaya, einem kleinen, abgelegenen kolumbianischen Fischerdorf in Cimitarra, Santander. Niemand glaubte ihm. Evaristo Candelejo stand in dem Ruf, ein Säufer und Lügner zu sein.
Arturo Castiblanco, der örtliche Polizeiinspektor, berichtete, dass eine Woche später ein anderer Fischer eine ähnliche Geschichte erzählt habe, gefolgt von zwei weiteren Fischern und einer Gruppe von Frauen, die an einem Ufer Wäsche wuschen. Jeder von ihnen hatte etwas anderes gesehen, aber in diesem Punkt waren sich alle einig: ein sehr großer Kopf, eine abgeflachte Schnauze mit schnaubenden Löchern, ein riesiges Maul, runde Reißzähne, ein Rücken, winzige Ohren ... winzige Ohren?
In Puerto Olaya hatten sie sich bereits an grausame Spektakel gewöhnt. Seit Jahren sahen sie die Leichen von ermordeten Menschen im Fluss – ihre Körper starr, manchmal mit dem Gesicht nach oben, mit erhobenen Armen und ausgestreckten Fingern, als würden sie den Menschen am Ufer winken, während die Truthahngeier in ihren Eingeweiden hackten.
Man nannte sie pasarrápido und jeder bekreuzigte sich, wenn er sie flussabwärts treiben sah.
Evaristo Candelejo versuchte, das Ungeheuer auf ein Blatt Papier zu zeichnen, einer seiner Enkel half ihm dabei, ebenso wie zwei Männer, die ebenfalls schworen, es gesehen zu haben. Damals ging auch das Gerücht um, dass es sogar zwei große Köpfe gab. Der Fischer und seine Nachbarn brachten das Phantombild zu Arturo Castiblanco.
»Hipopótamos!«, rief der Inspektor, nachdem er sich die Zeichnung angesehen hatte, »Flusspferde!«.
Wie zum Teufel sollen Flusspferde in dieses Dorf am mittleren Magdalena-Fluss gekommen sein? Die nächstgelegenen Nachrichten über Nilpferde kamen aus Puerto Triunfo, hundert Kilometer flussaufwärts, von einer dreitausend Hektar großen Hazienda namens Nápoles. Es ist eine bekannte Geschichte. Dort ließ Pablo Escobar, der berühmteste Drogenhändler der Welt, seine Art von Paradies mit Tieren seiner Wahl erschaffen. In wenigen Monaten errichtete eine Armee von tausend Männern eine Landschaft aus Hügeln, Tälern und Seen, als wäre es ein riesiger Golfplatz für wilde Tiere. Escobar ließ auch eine Stierkampfarena und einen Flughafen bauen. Bald darauf brachten die Flugzeuge Strauße, Büffel, Zebras, Hirsche, Kaimane, Flamingos, Schildkröten, Tapire, Affen, Elefanten, Kakadus, Ameisenbären, Riesenpapageien, Antilopen, Nilpferde und Giraffen. Eines Tages schickte ihm jemand einen Tiger, aber den schickte der Chef zurück, weil er keine Katzen mochte, sie seien gefährlich.
Nach der Ermordung Escobars am 3. Dezember 1993 begannen die Tiere zu verhungern, weil es niemanden mehr gab, der ein Vermögen für ihre Ernährung aufbrachte. Viele Tiere, die überlebten, wurden in Zoos in den Städten Pereira, Cali und Medellín untergebracht. Andere wurden zusammen mit allem Möglichen auf der Farm gestohlen: Autos, Möbeln, Laternenpfählen, Wänden, Dächern, Käfigen, Zäunen und Poolfliesen. Zu jener Zeit gab es Leute, die nach Nápoles kamen, um Bäume und Palmen zu stehlen und sie als Souvenirs aus dem alten Zoo in Baumschulen in Medellín und Bogotá anzubieten. Die einzigen, die von den Plünderern verschont blieben, waren eine Dinosaurierfamilie aus Beton und neun rosa Flusspferde, aber nur, weil niemand wusste, wie man sie mitnehmen sollte.
Fabio, ein ehemaliger Tagelöhner auf dem Landgut, erinnerte sich, dass er einmal für die Fütterung der Flamingos zuständig gewesen war und der Tierarzt tonnenweise Garnelen aus dem Golf von Urabá heranschaffen ließ, um die rötliche Farbe ihres Gefieders zu erhalten. Aufregende Tage waren das gewesen. Die Piloten des Medellín-Kartells, die von der Landebahn aus starteten, hatten einen doppelten Auftrag: Kokainlieferungen in die Vereinigten Staaten zu bringen und auf dem Rückweg Futter für Escobars Lieblingsvögel in Urabá zu holen. Fabio zufolge wurden alle Tiere gut versorgt, mit Ausnahme der Kaimane, von denen die meisten schließlich aus den Teichen der Hacienda entkamen und sich in den Bächen und Feuchtgebieten der Umgebung ansiedelten. Fabio erzählte, dass Escobar und seine Männer nachts auf die Jagd nach ihnen gingen und sie um ein Vermögen gewettet hatten, wer sie mit einem einzigen Schuss zwischen die Augen töten konnte.
Die Landebahn des alten Flughafens glich einer Narbe, bedeckt von einer trockenen Wiese. Einst waren dort zwölf Flüge pro Tag gelandet. Schönheitsköniginnen, Fernsehmoderatoren, berühmte Politiker, bekannte Journalisten, Fußballspieler, Künstler aus aller Welt, heilige Bischöfe waren angekommen. Nápoles hatte damals wirklich eine vielfältige Fauna gehabt. Fabio war auch Zeuge des denkwürdigsten Fluges von allen. Er fand an einem Donnerstag im Jahr 1985 statt. Drei Tage zuvor hatte Pablo Escobar angeordnet, am Ende der Landebahn einen Sandwall zu errichten. Dieser war sieben Meter breit, fast zwei Meter hoch und sei eine Versicherung gegen Unfälle, hatte der Capo gesagt. An jenem Donnerstag wurden Fabio und fünfzig andere Männer mit einem Lasso zur Baustelle beordert. Um zehn Uhr morgens hörten sie ein Flugzeug, dann konnten sie es ausmachen. Es hatte zwei Propeller und war das größte Flugzeug, das sie je gesehen hatten. Escobar trug eine Sonnenbrille und lachte die ganze Zeit. Vor der Landung überflog der Pilot dreimal die Landebahn.
Es war eine russische Antonow, ein Wal aus rotem und weißem Blech, von dem niemand glaubte, dass er auf dieser für einmotorige Flugzeuge ausgelegten Piste landen könnte. Wie von Pablo Escobar errechnet, rollte das Flugzeug bis zum Ende der Landebahn und kam schließlich in einer Sandwolke zum Stehen. Kurz darauf schalteten sich die Propeller ab und eine Tür im Heck der Antonow öffnete sich. Escobar ordnete seine Männer in Vierergruppen an. Sie waren alle Bauern, die gelernt hatten, Mais und Reis zu säen, Eier zu sammeln, Kühe zu melken, Pferde zu beschlagen und Schweine zu hüten; sie wussten nichts über Elefanten, Strauße, Bisons oder Zebras. Auf diesem Flug kamen die ersten Nilpferde und ein seltsames Tier, von dem zunächst niemand wusste, was es war.
»Wir gaben uns gegenseitig unseren Segen und gingen hinein. Jede Gruppe war für eine andere Kiste zuständig. Wenn sie zu schwer war, kam eine andere Gruppe zu uns. Drinnen roch es nach Scheiße.« Während Fabio sprach, bewegte sich sein Glasauge, als ob die Erinnerungen es beleben würden. Er erzählte, dass er auf dem Weg ins Flugzeug gewesen war, als einer seiner Kollegen im Inneren vor Angst schrie. Sie dachten, sie hätten einen Tiger gesehen, und wichen zurück. Es war beängstigend: Der Hals ragte aus der Holzkiste, in die das Tier eingeschlossen war. Die Reise muss voller Schmerzen für die Kreatur gewesen sein. Jemand hatte ihren Kopf mit Seilen und Ketten an den Rumpf gebunden. Als sie das Tier endlich befreien konnten, richtete es sich erleichtert auf. Es war eine Giraffe. Sie hatten noch nie eine gesehen. Alle applaudierten. Pablo Escobar hatte nicht aufhören können zu lachen.
Dreiundzwanzig Jahre nach jenem Donnerstagnachmittag waren die einzigen Tiere, die noch in Nápoles leben, achtzehn Nilpferde. Escobar hatte nur die Hälfte von ihnen importiert. Der Rest war in seinem Garten Eden geboren worden. Nach einem Blick auf die Zeichnung hatte Arturo Castiblanco keine Zweifel mehr und beschloss, das Büro des Gouverneurs von Santander anzurufen, um zu erfahren, was zu tun war. Dort wurde er gewarnt, vorsichtig zu sein, die Fischer, die Frauen, die sich im Fluss wuschen, die Kinder, die am Ufer badeten, alle zu warnen: Die Nilpferde seien gefährlicher als Kaimane und töteten in Afrika mehr Menschen als alle anderen wilden Tiere zusammen. César Valencia, Koordinator für Kontrolle und Überwachung bei der Corporación Autónoma de Santander, einer Stiftung, die sich um den Schutz bedrohter Tier- und Pflanzenarten kümmerte, rief ihn anschließend an. Alle waren verblüfft. Ein Nilpferd, das im Magdalena-Fluss frei herumschwamm, konnte nur aus Escobars altem Zoo stammen. Noch mehr Anrufe.
Der nächste, der davon erfuhr, war Francisco Sánchez, der Leiter der Abteilung für Umweltmanagement in Puerto Triunfo. Er wurde angewiesen, sofort die Ranch aufzusuchen und die Nilpferde zu zählen. Es schien unmöglich, dies an einem Tag zu erledigen. Insgesamt gibt es in Nápoles sechs Seen, die sich über eine riesige Fläche erstrecken, und die Strecke zu Fuß zurückzulegen, war noch das geringste Problem. Das größte Problem bestand darin, dass die Herde von achtzehn Nilpferden sich fast die ganze Zeit unter Wasser aufhielt und sie willkürlich ihre Nasen heraussteckten und atmeten, sodass man selbst bei sorgfältigster Beobachtung durcheinanderkäme und die genaue Anzahl der Tiere falsch einschätzen würde.
Am Ende war der Aufwand gar nicht nötig. Als sie auf der Hacienda ankamen, erzählten ihm die Bauern, dass zwei Jungbullen geflohen seien. Sie sagten es ihm einfach so, ohne dass irgendjemand sie etwas gefragt hatte. Sie, die jeden Tag exakt wissen mussten, wo sich die Tiere aufhielten, um ihnen bloß nicht zu begegnen, hatten einen scharfen Beobachtungssinn entwickelt und waren sich sicher, dass zwei Männchen aus den Seen verschwunden waren. Francisco Sánchez hatte von jemandem gehört, der gesehen hatte, wie sie die Zäune auf der Nordseite des Anwesens überquert hatten, als ob nichts geschehen wäre. Vier Tonnen, so schwer wie sieben Kampfstiere, und nichts konnte sie aufhalten. Warum beschlossen zwei junge Nilpferd-Bullen, eine Landschaft zu verlassen, die exakt den afrikanischen Ebenen glich, aus denen ihre Väter stammten? Warum gaben sie einen Ort mit reichlich Wasser und Weideland auf, über den sie nach Belieben herrschten, ohne dass sich jemand an ihnen störte? Was suchten sie?
Mauricio Orozco, Fauna-Koordinator der Corporación Autónoma Regional Rionegro Nare, einer weiteren Tierschutzorganisation, zeichnete die Route der beiden Flusspferde auf. Offenbar hatten sie sich zunächst in Richtung Puerto Boyacá bewegt, von dort aus nach Puerto Nare, Puerto Serviez, Zambito und schließlich nach Puerto Berrío, von wo aus sie auf die andere Seite des Magdalena-Flusses nach Puerto Olaya in Santander gewechselt waren. Insgesamt hatten sie mehr als zweihundert Kilometer hinter sich gebracht. Sie mussten sie einholen und verhindern, dass sie früher oder später einen Fischer angriffen.
Wo konnten die Flusspferde jetzt sein? Fast siebzig Tage, nachdem Evaristo Candelejo die Nachricht überbracht hatte, glaubten Experten, dass die beiden Brüder, von der Sonne ermüdet, nachts an Land unterwegs waren und tagsüber untertauchten. In diesem Tempo könnten sie Barrancabermeja, hundert Kilometer flussabwärts, erreichen und in wenigen Wochen weiter nach Norden gelangen, sogar bis zur Mündung des Flusses in den Hafen von Barranquilla, wo sie das offene Meer erreichen könnten. Das war natürlich Wahnsinn, das Unwahrscheinlichste überhaupt – aber in Kolumbien ist es besser, nicht zu rational zu sein, denn gerade das Absurde wird schließlich wahr. Die Regierung beschloss, zwei Abgesandte nach Puerto Triunfo zu schicken, um für die Fahndung einen Suchtrupp zusammenzustellen, so wie die Eliteeinheit der Polizei, die 1993 Pablo Escobar zur Strecke gebracht hatte.
Die Abgesandten fanden heraus, dass es Escobars Nilpferden nicht zum ersten Mal gelungen war, die Zäune von Nápoles zu überwinden. In Puerto Triunfo hörten sie eine Geschichte, die schon oft weitererzählt worden war: Ein Nilpferd wurde, nachdem das Tier in seinen Hof eingebrochen war und zwei seiner Stiere angegriffen hatte, vom Rancher mit Gewehrschüssen durchlöchert und auf diese Weise getötet. Daran wäre so weit noch nichts wirklich Ungewöhnliches. In diesem Gebiet des mittleren Magdalena-Flusses wurden Streitigkeiten immer mit Blei beigelegt, unabhängig davon, ob der Täter ein Mann, eine Frau, ein alter Mann, ein Kind oder ein Nilpferd war.
Die Abgesandten erfuhren, dass der Viehzüchter angeordnet hatte, einen Teil des Tieres zu zerlegen, damit einige seiner Arbeiter einen Eintopf kochen konnten. Der Rest des riesigen Kadavers war mit Benzin übergossen und angezündet worden. Francisco Sanchez, der Leiter der Umweltbehörde von Puerto Triunfo, gab ebenfalls zu, die Geschichte von der Hinrichtung gehört zu haben.
Warum waren dieses Mal zwei junge Bullen entkommen? Von allen Theorien, die versuchen, den Exodus der Flusspferd-Brüder zu erklären, scheint diejenige am wahrscheinlichsten, die mit Pablito zusammenhängt, dem Alpha-Nilpferd der Hacienda, einem alten, fast fünf Tonnen schweren Häuptling. Die Bauern hatten ihn nach seinem früheren Besitzer benannt, weil er ähnlich gewalttätig und unberechenbar war. Manchmal, kurz nachdem ein Kalb geboren worden war, hatte er es mit einem Schlag auf den Kopf getötet. Manchmal ließ er die Kälber aber auch an seiner Seite grasen und trieb sie sogar zum Spielen herum. Pablito war der einzige, der sich mit den Weibchen paaren durfte und den ganzen Tag an ihrer Seite blieb. Die übrigen Männchen schwammen isoliert in abgelegenen Teichen. Alles deutete darauf hin, dass die zwei jungen Nilpferde abgehauen waren, weil Pablito die Weibchen nicht mit ihnen teilen wollte. Eine tragische Fehleinschätzung: Sie flohen flussabwärts auf Partnersuche und Familienglück. Nur waren in Kolumbien halt keine Nilpferde beheimatet, abgesehen von denen in Puerto Triunfo.
Die Regierung ging davon aus, dass die beiden Nilpferd-Bullen sechs Monate später in einem Becken mit aufgestautem Wasser irgendwo zwischen Barrancabermeja und dem Süden des Departements Bolívar in einem mit explosiven Minen übersäten Korridor zum Stehen kamen. Die Wahrheit ist, dass sich niemand wirklich dafür interessierte, was genau passiert war. Angesichts eines Dramas von eintausendsiebenhundert Entführungsopfern im Dschungel, darunter ein französischer Staatsbürger und ehemaliger kolumbianischer Präsidentschaftskandidat, war die Suche nach zwei entlaufenen Nilpferden von der ehemaligen Hacienda des blutrünstigsten Drogenbarons der Geschichte keine dringende Angelegenheit. Die Regierung sagte jedoch, sie berate sich mit Stiftungen in den Vereinigten Staaten und Afrika darüber, was zu tun sei, wenn sie gefunden werden: ob man sie betäuben und dann an einen Militärhubschrauber ankoppeln oder sie mit Schallbomben verscheuchen solle, bis sie an einen offenen Ort gebracht werden können. Umweltschützer erklärten sich dabei für fast so verloren wie die Tiere selbst.
Kann man aus all dem eine Lehre ziehen? Vielleicht. Zwei Nilpferde, die dazu verdammt sind, in einer Ecke der Welt nach den Weibchen zu suchen, die sie nie finden werden, egal wie weit sie oder wohin sie gehen, sind mehr als eine kuriose Geschichte. Die vergebliche Reise der beiden Nilpferd-Bullen ist ein weiteres Beispiel für die menschliche Fähigkeit, alles zu vermasseln.