Das »neue« München
T Mathieu Wellner
K Martina Borsche
T Mathieu Wellner
K Martina Borsche
Als der Zweite Weltkrieg endete, lag München in Trümmern. Zwischen 1940 und 1945 erlebte die Stadt insgesamt sechsundsechzig Luftangriffe. Besonders verheerend waren jene im Juli 1944, als über tausendfünfhundert Bomber große Teile der Altstadt und der nördlichen Vorstadt zerstörten. Rund sechstausend Menschen kamen ums Leben, dreizehntausend wurden schwer verletzt. Am Ende des Krieges waren etwa siebzig Prozent der historischen Bausubstanz vernichtet. Die geschätzte Trümmermenge betrug siebeneinhalb Millionen Kubikmeter – das entspricht dem dreifachen Volumen der Cheops-Pyramide. Die Beseitigung der Schuttmassen wurde zum ersten großen städtebaulichen Projekt der Nachkriegszeit. Viele der Arbeiten erfolgten zunächst in Eigeninitiative, später auch unter städtischer Organisation. Bürgermeister Thomas Wimmer unterstützte persönlich die große »Rama-dama-Aktion« am 29. Oktober 1949, bei der tausende Münchnerinnen und Münchner gemeinsam die verbliebenen Schuttreste im Stadtgebiet räumten.
Die Wohnungsnot war dramatisch. Etwa dreizehntausend Gebäude mit über zweiundsechzigtausend Wohnungen waren vollständig zerstört und mussten neu errichtet werden. Weitere achttausend Bauten mit mehr als zweiunddreißigtausend Wohnungen konnten instand gesetzt, sechsunddreißigtausend Stadthäuser mit über hundertsiebenundzwanzigtausend Wohnungen zumindest repariert werden. Die Stadt stand vor einer Mammutaufgabe. 1947 übernahm das neu geschaffene Wiederaufbaureferat die Koordination aller Projekte. Es diente als Schnittstelle zwischen Stadt, Land Bayern und der amerikanischen Militärregierung. Stadtbaurat Karl Meitinger hatte schon in der Kriegszeit über Konzepte nachgedacht, die jetzt zur Grundlage einer erstaunlich schnellen Aufbauphase wurden. Am 9. August 1945 legte er dem Stadtrat ein umfassendes Stadtentwicklungskonzept vor. Kernstück war ein großzügiger Verkehrs- und Grüngürtel um die Altstadt, der spätere Altstadtring. Das Konzept sah einen siebzig Meter breiten Ring um die Altstadt vor, der als Verkehrs- und Parkzone dienen und die Innenstadt von modernen Büro- und Hochhäusern umgeben sollte.
Viel konservativer waren seine Ideen für die Innenstadt. In »Das neue München« formulierte Meitinger 1946 seine Leitlinien: »Wir müssen unter allen Umständen trachten, die Erscheinungsform und das Bild der Altstadt zu retten und müssen alles erhalten, was vom Guten und Wertvollen noch vorhanden ist. Wo im einzelnen von den baukünstlerisch wichtigen Bauten noch so große Reste stehen, daß das Ganze rekonstruiert werden kann, soll das alte Bild wieder erstehen; wo nichts mehr vorhanden ist, soll nach modernen Gesichtspunkten, aber im Sinn der Altstadt, neu und frei gestaltet werden.« Meitingers Pläne kombinierten Bewahrung und Fortschritt. Das »Bild der Altstadt« sollte gerettet, zugleich aber Platz für moderne Verkehrsführungen geschaffen werden. Besonders um den Tourismus – eine zentrale Einnahmequelle – wiederzubeleben, wollte man das vertraute Erscheinungsbild Münchens erhalten. Sein Ziel war, wie er schrieb, »damit wir in einigen Jahrzehnten unser liebes München wieder haben, wie es war«. Prägende Beispiele für die Rekonstruktion wurden die Ludwigstraße und der Marienplatz. Auch Oberbürgermeister Scharnagl unterstützte diesen konservativen Kurs. Für ihn hatte die moderne Architektur keinen »dauernden Wert«. Damit waren die Grundlinien der Münchner Nachkriegsarchitektur festgelegt: der sogenannte »Münchner Weg«. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten blieb München von großflächigen Tabula-rasa-Konzepten verschont.
Eine moderne Bebauung für den Kernbereich Münchens war unerwünscht. Doch diese politische Entscheidung war nicht unumstritten. Während Meitingers Ansatz den Erhalt des Altbekannten betonte, forderten Kritiker eine radikalere architektonische Erneuerung. Architekturprofessor Robert Vorhoelzer lehnte die Vorstellung, sämtliche zerstörten Gebäude der Altstadt detailgetreu zu reproduzieren, entschieden ab: »Altes und Neues muß sich ergänzen. Wir wollen nicht Museen gestalten, sondern wollen Mut haben, Lebendiges – wenn möglich Gleichwertiges – schöpferisch zu entwickeln.« In einem gemeinsamen Aufruf mit Architektinnen und Architekten wie Egon Eiermann und Lilly Reich formulierte Vorhoelzer einen moderneren Wiederaufbau: »Das zerstörte Erbe darf nicht historisch rekonstruiert werden, es kann nur für neue Aufgaben in neuer Form erstehen.« Auch der Architekt Hugo Häring plädierte entschieden für »Neubau statt Restauration« und verstand sein Engagement für moderne Architektur als bewusstes und »auch politisches Bekenntnis«.
In den 1950er Jahren erlebte das Bauen in Deutschland einen Wandel. Nach einer kurzen Phase der Stagnation setzte mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ein starker Bauboom ein. Die Architektinnen und Architekten dieser Zeit distanzierten sich bewusst von der nationalsozialistischen Monumentalarchitektur, die auf Masse, Schwere und streng symmetrische Herrschaftsgesten gezielt hatte. Stattdessen suchte man eine neue Sprache aus Transparenz, Leichtigkeit und modernen Materialien wie Stahl, Glas und Beton. Architektur sollte Ausdruck eines Neuanfangs sein.
Die Bauwerke der 1950er Jahre werden rückblickend oft als »Dynamische Moderne« beschrieben. In Wahrheit war die Architektur der Zeit meist sehr nüchtern, wirtschaftlich und bescheiden geplant. Die Maxime des Wiederaufbaus war »schnell und günstig« und die effiziente Rasterbauweise setzte sich durch. Von einer wirklichen »Stunde null« konnte keine Rede sein. Vieles war eine Weiterentwicklung bestehender Ideen, nun jedoch mit dem Anspruch auf eine klare Zäsur zur NS-Zeit.
Ein besonders anschauliches Beispiel für den architektonischen Bruch mit der Vergangenheit wurde 1957 direkt gegenüber dem Haus der Kunst in München gebaut. Während das Museum durch seine Masse, seine strengen Achsen und die deutliche Monumentalität noch das Selbstverständnis der NS-Zeit verkörpert, sollte der Neubau des US-Generalkonsulats bewusst das Gegenteil zeigen. Der Bau des Architekturbüros SOM sowie von Sep Ruf setzte auf Leichtigkeit und Offenheit. Das viergeschossige Gebäude wird zum Stadtraum hin aufgelockert, das Erdgeschoss steht auf schlanken Stützen und ließ freien Blick und Bewegung entlang der Königinstraße zu. Die Architektur reagierte damit unmittelbar auf die Wucht des Nachbarn. Wo das Haus der Kunst Härte, Kontrolle und Monumentalität ausdrückt, will das Generalkonsulat Transparenz, Dynamik und Zugänglichkeit vermitteln. Es wird zum baulichen Statement einer neuen Haltung, die Distanz zur unterdrückenden Symbolik der Vergangenheit sucht und stattdessen ein Bild von Demokratie und Weltoffenheit zeigt.
Die Alte Pinakothek ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie die Architektur Münchens nach dem Krieg zwischen Erneuerung und Bewahrung balancierte. Nach den schweren Zerstörungen durch Luftangriffe in den Jahren 1943 und 1944 blieb von Leo von Klenzes klassizistischem Museumsbau nur die äußere Mauerschale stehen. Die Ruine überdauerte acht Jahre, Wind und Wetter ausgesetzt, während man über Abriss oder Wiederaufbau diskutierte.
Für die Architekten gab es im Prinzip zwei Wege: eine vollständige Rekonstruktion oder einen Neubau nach dem Abriss des Gebäudes. Der Architekt Hans Döllgast formulierte einen dritten Weg: die »schöpferische Interpretation«. Döllgast, Professor an der Technischen Hochschule München, begann schon kurz nach den ersten Bombentreffern mit Studien für den Wiederaufbau. Der Wiederaufbau wurde zu einem bewussten Akt der Erinnerung: kein Bruch mit der Geschichte, sondern ihre Weiterführung. Technisch und räumlich griff Döllgast tief in die Struktur des Hauses ein. Er verlegte den Eingang von der Ostseite an die Nordseite, entwickelte ein neues Treppenhaus mit zwei gegenläufigen Läufen hinter der Südfassade und veränderte die Dachformen. Der Wiederaufbau der zerstörten Südfront verlangte eine Konstruktion über einem vierzig Meter breiten sichtbaren Bombentrichter. Sieben schlanke Stahlrohre trugen zunächst, im Rhythmus der ehemaligen Loggia angeordnet, die neue Dachkonstruktion. Später ersetzte er die verlorenen Fassadenteile bewusst durch unverputzte Trümmerziegel.
Am 6. Juni 1957 wurde die Alte Pinakothek wiedereröffnet und gilt heute als Muster für den sensiblen und intelligenten Umgang mit historischer Substanz.
Am Nationaltheater lässt sich besonders deutlich ablesen, wie vielfältig der Umgang mit Wiederaufbau sein kann: teils etwas interpretiert, teils streng rekonstruiert. Entworfen wurde das Haus von Karl von Fischer und 1818 eröffnet, beeinflusst von zeitgenössischen französischen Opernbauten wie dem Pariser Odéon. Obwohl finanzielle Einschränkungen zunächst einzelne Bauteile verhinderten, setzte der Neubau mit über zweitausend Plätzen Maßstäbe und wurde zum größten Theater im deutschsprachigen Raum. Nur wenige Jahre später, im Januar 1823, zerstörte ein Brand das Gebäude weitgehend. Mit der Wiederherstellung wurde Leo von Klenze beauftragt. Obwohl er andere Vorstellungen vom Theaterbau vertrat, hielt er sich auf Wunsch von König Max Joseph im Wesentlichen an Fischers Entwurf. Er nutzte die Gelegenheit jedoch für technische Verbesserungen und eine neue städtebauliche Einbindung. In dieser Phase entstand auch der monumentale Portikus mit den acht Säulen, den Karl von Fischer bereits vorgesehen hatte. Anstelle des Walmdachs über dem Logenhaus setzte Klenze einen Dreiecksgiebel, der die klassizistische Silhouette stärker betonte. 1855 übernahm er erneut Umbauarbeiten am Haus und da er diesmal nicht mehr an frühere Vorgaben gebunden war, vereinfachte er Dekorelemente und gestaltete die Kuppel neu. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Nationaltheater im Bombenangriff vom Oktober 1943 erneut zerstört; nur die Außenmauern blieben erhalten. Ein großer Wettbewerb nach 1945 brachte kein eindeutiges Ergebnis, sodass man sich schließlich für eine weitgehend originalgetreue Wiederherstellung entschied. Zwischen 1955 und 1963 wurde der Bau unter Gerhard Graubner und Karl Fischer rekonstruiert, mit Orientierung an historischen Vorbildern und gleichzeitig integrierter moderner Technik. Der kreisförmige Zuschauerraum mit seinen fünf Rängen blieb erhalten, wurde aus Brandschutzgründen jedoch leicht in Richtung Bühne verschoben und neu erschlossen. Auch die Fassaden erhielten ihre klassische Form zurück, nur einzelne plastische Details wurden ersetzt.
Heute steht das Nationaltheater in seiner vierten Ausführung: dem originalen Bau von Fischer, der Rekonstruktion Klenzes, den Umbauten von 1855 und dem Wiederaufbau der Nachkriegszeit. Eine Teilsanierung liegt aktuell gerade hinter uns und eine Generalsanierung steht in zehn Jahren bevor.
Das Gebäude trägt bereits mehrere Schichten von Entscheidungen, Überlagerungen und Rückgriffen in sich, und mit jeder weiteren Sanierung kommt eine neue Referenz hinzu. Ein Bauwerk, in dem sich Zeit nicht ablagert, sondern fortgeschrieben wird. Trotz mehrfacher Zerstörung, Veränderung und Modernisierung blieb dabei eines unverändert: seine Verankerung in der Münchner Altstadt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auch Stimmen, die den Wiederaufbau dieser Altstadt an alter Stelle grundsätzlich infrage stellten. Einer der radikalsten unter ihnen war der Architekt und Stadtplaner Bodo Ohly, der Anfang 1947 vorschlug, das zerstörte München aufzugeben und stattdessen ein »Neu-München« am Starnberger See zu errichten. Seine Schrift »Utopie oder Ausweg. Planung einer neuen Stadt« wurde zwar kurzzeitig diskutiert, blieb jedoch ohne größere Resonanz. Praktische Gründe sprachen gegen eine völlige Neugründung: Trotz der schweren Zerstörungen war die grundlegende Stadtstruktur – Straßenräume, Leitungsnetze und Fundamente – weitgehend erhalten. Diese verbliebene Infrastruktur machte es möglich, München wiederaufzubauen, statt es völlig neu zu planen. Auch Überlegungen, privaten Grund und Boden in Gemeineigentum zu überführen, wurden angestellt, scheiterten jedoch an rechtlichen Hürden.
Im Rückblick zeigt sich: Stadtbaurat Karl Meitinger und Oberbürgermeister Karl Scharnagl setzten beim Wiederaufbau der Innenstadt auf Tradition. Ihr Leitbild sah den Erhalt der gewachsenen Stadtstruktur und der prägenden Bauwerke vor – die Münchner Altstadt sollte im vertrauten Erscheinungsbild wiedererstehen. Gerade hier hätte eine »schöpferische Interpretation« im Sinne von Hans Döllgast dem Wiederaufbau gutgetan. Döllgasts Haltung – das Alte respektvoll zu ergänzen, ohne es zu imitieren – hätte auch den städtebaulichen Konzepten der Nachkriegszeit mehr gestalterische und geistige Tiefe verleihen können. So wäre München nicht nur bewahrt, sondern zugleich weitergedacht worden.