Gloria hasste Sonntage. Sie hörte von oben eine Familie beim Abendessen, irgendwo übte jemand Klavier, ein Volvo fuhr vorbei. Ansonsten war es ruhig, niemand wollte etwas von Gloria, keiner wollte sie bestrafen, obwohl Gloria seit Jahren das vage Gefühl hatte, sie hätte eine Strafe verdient. Vielleicht war das Sitzen in der Küche schon die Strafe.

Ihr einziges Zugeständnis an ihren Job war, dass sie sich die Fingernägel dunkel lackiert hatte, und diese Nägel ließ sie jetzt auf der Tischplatte herumwandern; wenn man die Augen zu Schlitzen verengte, sahen die Nägel aus wie kleine Wildpferde, die ausbrechen wollten, aber nicht recht wussten, wohin, und sich so entmutigt auf der Stelle bewegten, bis ihnen auch hierzu die Kraft ausging. Gloria hörte auf zu klopfen.

Die Heizung war nicht noch aufgedreht und Gloria fror fast so wie damals, aber nicht an den Füßen, denn an den Füßen trug sie die ledernen Timberland-Stiefel, die Franz Maria Xaver (den natürlich niemand so nannte) für sie ihn Jerusalem gekauft hatte. Es war im Dezember vor sechs Jahren gewesen, und Gloria hatte nicht gewusst, dass es im Orient so kalt und regnerisch sein könne. Sie taute nie wieder auf, daran konnte kein heißer Tee und keine Linsensuppe etwas ändern, sie schleppte sich gekrümmt durch Pfützen und an Bauwerken vorbei, die gar nicht so alt waren, wie man hätte meinen können, und irgendwann begann sie, leise zu wimmern. Da zerrte Xavi sie in ein Einkaufszentrum und kaufte ihr die Timberlands. Seitdem war sie mit den Timberlands an den blödesten Orten der Welt gewesen: an der Küste Portugals, in Berlin und in Hamburg und in London und in Paris, in verschiedenen Büros und bis letzte Woche sogar ein paar Monate im Verkaufsraum einer Bäckerei in der Innenstadt, in der ein halbes Weizenmischbrot mit kräftiger Kruste acht Euro kostete. Durch die Verkaufsstube haben die Timberlands Gloria aber nicht sehr lange getragen, denn die Wege dort waren kurz (das Brot wurde nur aufgebacken und in ein Regal hinter der Kasse gelegt), und Gloria hatte die gesunden, fröhlichen Kunden schnell nicht mehr ertragen.

Sie waren immer noch gut, aber nicht mehr schön, die Schuhe. Gloria stand auf und setzte sich wieder an den Tisch in ihrer kleinen Küche. Sie sah exakt aus wie alle zu kleinen Küchen der Welt: Alles war von Ikea, sogar das Besteck, mehr muss man dazu nicht sagen. Gloria hatte lange darüber nachgedacht, ob sie die Timberlands anlassen sollte oder nicht, es war ihre Wohnung (es war die Wohnung von Xavis Eltern), und im eigenen Zuhause liefen nur Psychopathen oder schlechte Väter mit Straßenschuhen herum, aber wollte man seinen ersten Kunden wirklich in Strümpfen empfangen? Gloria stellte sich vor, wie der Typ auf dem Holzstuhl sitzen und die Hände zwischen seinen Oberschenkel verschränken würde, nur um dann entgeistert auf ihre Socken zu starren. Würden ihre Zehen ein kleines Ballett aufführen, wenn man lange genug auf sie starrte? Würden die Füße versuchen, sich untereinander zu verstecken? Würde Gloria sich einfach nur schämen?

Beide würden Schuhe anhaben, der erste Termin würde optisch und emotional näher an eine Kontoeröffnung in einer Sparkassenfiliale rücken und sich weniger wie ein sehr unangenehmes WG-Casting anfühlen. Gloria hasste WGs.

Gloria musste lachen, und dann machte sie ein Selfie von sichmit den Schuhen und schickte es an Anna. Münchens größteLoserin, schrieb sie darunter, und Anna antwortete nicht sofort. Wo blieb der Typ? Es war schon Viertel vor sieben, und Gloria fand, dass man bei einem solchen Hausbesuch wie bei einer Physiotherapie oder beim Zahnarzt aus Höflichkeit eine Viertelstunde früher zu erscheinen hatte. Gloria selbst war noch nie eine Viertelstunde zu früh irgendwohin gekommen, außer natürlich damals, als sie schon am Nachmittag nach Hause kam und Xavi mit Annabelle erwischt hatte. Man konnte Gloria mittlerweile ansehen, dass sie es gewohnt war zu warten, in jeder ihrer Gesten lag, obwohl sie noch jung war, eine Art Sparsamkeit oder Resignation, keine Spur von Übermut.

Sie würde die Tür öffnen, dem Mann lächelnd in die Augen sehen, ihn bitten, seine Schuhe anzulassen, und ihn dann in die Küche führen. Sie würde hoffen, dass er nicht allzu genau darauf achten würde, wo er sich befand (Schwindstraße, dritter Stock, kein Aufzug, zweiundvierzig Quadratmeter, Bauzeit 1954–1955). Vielleicht war er sogar großzügig (oder dumm) genug, um nicht zu erkennen, dass Gloria all das zum ersten Mal machte. Sie fühlte sich schlecht vorbereitet, und das war Annas Schuld. Anna hatte gesagt, dass Gloria genau das Gegenteil von dem tun solle, was man von ihr erwarte: keine Dekoration, kein gedämmtes Licht, kein Kajal, kein kurzer Pony, kein irrer Blick.

Nicht mal ein irrer Blick?, hatte Gloria gefragt. Den hast du ja sowieso schon, hatte Anna geantwortet, und dann hatte Gloria plötzlich den Punkt verstanden, denn wenn die Menschen schwiegen, sprachen ihre Gesichter und ihre Klamotten, ihre plastisch oder künstlerisch veränderten Lippen, ihre bunten Ponys, ihre haarigen Beine, ihre teuren oder billigen Taschen, man konnte keine zwei Stationen U-Bahn fahren, ohne dass irgendwelche Piercings oder Fingernägel einen in ein Gespräch über die Expansionspolitik des Westens oder die Lage der Frauen in Bangladesch verwickelten, und natürlich war es auch nie die Sorte Gespräch, in der man einen fairen Sprechanteil hatte, nein, die Gegenstände und Körperteile schrien Gloria einfach nieder, sie hatten ja sonst nichts zu tun. Gloria sah jetzt so neutral aus, wie man nur aussehen konnte: Stiefel, Jeans, braune Haare. Um ihr Tattoo zu verdecken (und weil es kalt war), trug sie einen Hoodie.

Brauche ich nicht wenigstens ein schwarzes Kleid oder so?, hatte Gloria gefragt, und Anna sagte: Ganz im Gegenteil, du machst einfach immer exakt das, was man nicht von dir erwartet. Du nennst dich also Michaela, trägst Timberlands und setzt dich in deine Ikea-Küche und du sprichst ganz sachlich. Hoffentlich, dachte Gloria, hat der Typ keinen Pferdeschwanz. Sie betrachtete nervös die schmutzige Sockelleiste. Sie hoffte jetzt, dass er einfach nicht kommen würde, vielleicht hatte er sie erkannt, vielleicht war er ein Schulkamerad von früher, der nur aus Spaß einen Termin ausgemacht hatte.

Ein paar Wochen nach der Sache mit Annabelle hatte Xavi Gloria angerufen. Er sagte, dass Liebeskummer gar nicht so schlimm sei, eher schön, eher eine Ausrede, um sich gehen zu lassen, und Gloria antwortete, dass sie sich aber gar nicht gehen lassen wollte, sondern Geld zu verdienen habe, und dann antwortete er, ohne auf das Gesagte zu achten, dass ein neuer Frühling käme, ganz egal, was Gloria gerade noch denken würde, und Gloria wurde endlich wütend, und dann fragte sie, ob es wahr sei, dass Annabelle schon bei ihm eingezogen sei, und er schwieg das erste Mal, aber sie kannte ihn so gut, dass er sich nicht traute, sie anzulügen, und schließlich sagte er ihr, dass es wahr sei und es ihm leid tue, und dann verhaspelte er sich ein bisschen und sagte noch etwas Unverständliches über den Wert von allem, der sich manchmal erst später zeigen wolle. Gloria musste lachen, dann legte sie auf, und als sie Anna von dem Telefonat erzählte, sagte Anna, dass dieses ganze Eso-Gerede sie auf eine Idee bringe.

Die Wohnung gehörte Xavis Eltern, aber weil sie sie nicht mehr als Ferienwohnung nutzten, hatten sie sie Gloria gleich nach der Trennung angeboten, sie hatten offensichtlich anstelle ihres Sohnes ein schlechtes Gewissen und kamen sofort aus dem Chiemgau. Gloria hasste das Mitleid, das sie in ihren gutmütigen Erbengemeinschaftsgesichtern entdeckte, aber sie brauchte eine Wohnung. Xavis Mutter sagte, dass sogar eine ganz neue Küche darin sei. Irgendwie hatte diese Freundlichkeit Gloria schrecklich genervt, Reiche hatten nie irgendwelche Probleme, sie fanden immer, dass alle Ärgernisse gar nicht sie persönlich meinten und sie höchstens versehentlich trafen. Wenn doch ausnahmsweise Schwierigkeiten auftraten, dann weigerten die Reichen sich einfach, sie anzuerkennen, und so deuteten sie die größten Unglücke in schöne, fröhliche Abenteuer um, zu denen man sich eine alte Trachtenjacke anzog und einen Filzhut aufsetzte, um sich pfeifend ans Werk zu machen. Xavi hatte, wie also alle seine Ahnen, die unbegreifliche Fähigkeit, aus jedem schlechten Wetter eine gute Nachricht zu machen und aus jeder Knospe an seinem Chiemgauer Apfelbaum eine frohe Botschaft, einen Sieg.

Gloria aber hasste diesen Pragmatismus, sie wollte lieber alles persönlich nehmen. Sie hatte trotzdem gelächelt und gleich unterschrieben. Jetzt dachte sie, dass Xavis Eltern sie sicher nicht verklagen würden, falls sie die neue gewerbliche Tätigkeit öfter ausführen sollte. Gloria rechnete noch einmal: Sie hatte auf Annas Anraten einen Stundenlohn von dreihundert Euro zuzüglich Mehrwertsteuer verlangt. Natürlich zahlte sie gar keine Mehrwertsteuer oder überhaupt irgendwelche Steuern, aber Anna hatte sie überzeugt, dass so alles viel seriöser klingen würde.

Gloria war ein oder zwei Sekunden fest entschlossen, dass sie den Mann einfach nicht hineinlassen würde, dann fiel ihr aber sofort wieder ein, dass sie nächste Woche Miete zu zahlen hatte und es vernünftig wäre, im Gegenteil möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen und so gleich zwei Stunden in Rechnung zu stellen. Gloria musste wieder lachen, als sie sich vorstellte, wie sie in Zeitlupe die Tür öffnen, unendlich langgedehnt Hallooooooo sagen und für den Weg vom Flur in die Küche vier Minuten brauchen würde.

Es klingelte endlich: leise, kurz und höflich. Gloria wartete an der Tür und öffnete genau im rechten Moment. Vor ihr stand ein ganz junger Mann mit hellen, kindlichen Augen, er war sehr aufgebracht. Gloria konnte gar nicht anders, als ihn im Bruchteil einer Sekunde von oben bis unten zu mustern und zu kategorisieren – genauso, wie man bei Abbildungen von Engeln automatisch schaut, ob sie Geschlechtsteile haben. Er war sehr hübsch. Gloria begrüßte ihn und streckte ihm die Hand hin, die er aber gar nicht sah, er zog seine Strickmütze vom Kopf und rieb sich nervös das Kinn, und dann sagte er, dass er kein bisschen an Astrologie glaubte, dass seine Mutter ihn hergeschickt hatte, dass es ihm leid tue, und bevor Gloria überhaupt antworten konnte, drückte er ihr ein Bündel Geldscheine in die Hand, drehte sich um und lief mit der Mütze in der Hand die Treppen herunter. Gloria hatte ganz vergessen, auf seine Schuhe zu achten.

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