Weiße Sandstrände, türkisblaues Meer, bunte Korallenriffe – auf den ersten Blick ist Tuvalu ein Inselparadies, wo sich jeder gestresste Großstädter hinträumt. Auf den kleinen, handtuchbreiten Atollen im Südpazifik leben gerade mal elftausend Menschen, es gibt eine Polizeistation, einen Handyshop, und – mangels Parkplätzen – kaum Autos. Die letzte Zählung wies achtzig Fahrzeuge aus. Aber wer braucht schon ein Auto im Paradies?

Der Funafuti International Airport, der für die Inselbewohner das Tor zur Welt ist, wird weitgehend analog betrieben, und wenn mal kein Flugzeug startet oder landet, was sehr oft vorkommt, weil es nur drei Flüge pro Woche gibt, verwandelt sich die Start- und Landebahn in ein Fußballfeld oder einen Freizeitpark. Doch das Paradies ist bedroht. Vom Klimawandel. Genauer gesagt: vom steigenden Meeresspiegel. Sollten die Prognosen der Klimaforscher eintreten, könnte die Hauptstadt Funafuti 2050 zur Hälfte unter Wasser stehen; bis Ende des Jahrhunderts könnten neunzig Prozent der Landmassen im Meer versunken sein.
Der Außenminister des Inselstaates hatte bei der Weltklimakonferenz 2021 eine flammende Rede gehalten, bei der er knietief im Meerwasserstand, um der Weltöffentlichkeit den Ernst der Lage klarzumachen. Die Menschen verlieren ja nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Heimat. Ein Weckruf war das aber nicht. Das Label »Sinking Nation« hat vor allem Katastrophentouristen angezogen, die noch mal ein paar Selfie-Trophäen sammeln wollen, bevor die Atolle im Meer verschwunden sind. Für die Einheimischen stellt sich die Frage: bleiben oder gehen? Die Rettung: Australien. Dort hat die Regierung ein »Klimavisum«-Programm gestartet, in dessen Rahmen jährlich bis zu zweihundertachtzig Bewohner von Tuvalu einreisen dürfen. Doch ob die Menschen »down under« eine neue Heimat finden werden?

Die Tuvaluer sind mit ihrem Schicksal nicht allein. Der Klimawandel bedroht die Existenz von Menschen auf der ganzen Welt. In Panama müssen die indigenen Guna der Insel Gardí Sugdub wegen Überflutungen ihre Heimat verlassen und aufs Festland ziehen, wo sie, welch böse Ironie der Geschichte, einst von den spanischen Eroberern vertrieben worden waren. In Wales soll das Tausendzweihundert- Seelen-Dorf Fairbourne »stillgelegt« werden, weil die Gefahr von Springfluten zu groß und der Küstenschutz zu teuer ist – die Bewohner, die als erste »Klimaflüchtlinge« gelten, sollen bis 2045 ihre Häuser und Grundstücke aufgeben. Und in Indonesien lässt die Regierung derweil eine neue Hauptstadt aus dem Boden stampfen, weil die aktuelle Hauptstadt Jakarta wegen des steigenden Meeresspiegels unterzugehen droht.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR wurden allein im Jahr 2024 fünfundvierzig Komma acht Millionen Menschen durch klimabedingte Ereignisse wie Dauerregen, Dürren, Hitzewellen und Stürme aus ihrer Heimat vertrieben – das sind dreimal so viele wie durch Konflikte und Gewalt. Der Klimawandel ist eine unsichtbare Gefahr, die sich nur in abstrakten Graphen und Statistiken nachweisen lässt. Da sind keine bewaffneten Söldner oder Milizen, die marodierend durch Dörfer ziehen und Menschen verjagen. Das macht die Klimakatastrophe so schwer greifbar und politisierungsfähig. Doch die Naturgewalt ist eben auch eine Gewalt, eine politische sogar, die bedrohlicher ist als jede Militärjunta. Bis 2050 könnte es Schätzungen zufolge eins Komma zwei Milliarden Klimaflüchtlinge auf der Welt geben – das heißt von der Größenordnung: Fast einmal ganz Chinawird sich auf den Weg machen, eine neue Heimat zu finden. Die Klimafluchtstellt alle Völkerwanderungen der Geschichte in den Schatten. Der moderne Mensch hat der Natur den Krieg erklärt – und befindet sich im Anthropozän in ständigen Rückzuggefechten (Deichbau, Wellenbrecher, »Kohlefront«). Der Soziologe Bruno Latour argumentiert in seinen Gaia-Vorlesungen, die er im Februar 2013 an der University of Edinburgh hielt (»Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime«), dass der Naturzustand nicht überwunden ist, sondern durch die Klimakrise wiederhergestellt wird – im Gegensatz zu Hobbes’ »Leviathan« könne die »Natur« das »political animal« nicht bändigen: Im Krieg aller gegen alle kämpfen auch Thunfisch und CO₂ gegeneinander. »Die Angst«, schreibt Latour in seinem Buch »Das terrestrische Manifest« (2018), »sitzt deshalb so tief, weil jeder von uns zu spüren beginnt, wie der Boden unter den Füßen wegsackt. Mehr oder minder verschwommen entdecken wir, dass wir alle auf der Wanderung sind hin zu Territorien, die es neu zu entdecken und zu besetzen gilt«.

Ein klimainduzierter Restart birgt ja durchaus die Chance auf einen politischen Neuanfang – die Utopie, tradierte, durch fossile Energien angetriebene Wirtschaftsformen zu überwinden und Gesellschaft neu zu denken. Man kann die Frage stellen, ob es sinnstiftend ist, vierzig Jahre zu schuften, um sich ein Haus und zwei Autos leisten zu können, um dann in der Rente, die es vielleicht dereinst nicht mehr geben wird, feststellen zu müssen, dass das Eigenheim gar nicht mehr zu einem passt und an einem unwirtlichen Ort steht. Oder ob ein Leben in einer Kreislaufwirtschaft, in der Ressourcen so genutzt werden, dass man dafür kaum noch arbeiten muss und so mehr Zeit für sich und seine Kinder hat, doch erfüllender ist.

In der Architektur wird seit geraumer Zeit der Einsatz nachwachsender Baustoffe diskutiert – Pflanzenstrukturen, die sich selbst heilen und regenerieren. So haben Architekten des Massachusetts Institute of Technology 2005 ein Konzept für ein nachhaltiges, organisches Haus präsentiert, das nicht gebaut, sondern gepflanzt wird: Bäume wachsen entlang eines wiederverwertbaren Gerüsts und bilden eine tragende, modulare Wand. Dieses Bio-Haus kann man einfach stehen lassen, wenn man weiterziehen will, ohne der Umwelt zu schaden. Doch anstatt neue Wohnformen und regenerative Designs zu erproben, werden alte Muster reproduziert: So haben die Bewohner des Ahrtals ihre Häuser größtenteils so wiederaufgebaut, wie sie vor dem Hochwasser 2021 waren. Die Strukturen, die ins Unglück führten, werden erneut betoniert.

Die Flutkatastrophe im Ahrtal macht deutlich: Die Klimakrise (be-)trifft alle Menschen – nicht nur die Bewohner der Slums in Bangkok und Jakarta, sondern auch die Hausbesitzer in einem reichen Land wie Deutschland. Vor Fluten kann sich niemand vollumfänglich schützen. Der Soziologe Ulrich Beck hat schon in seinem 1986 erschienenen Werk »Risikogesellschaft« erkannt, dass sich mit der Ausdehnung von »Modernisierungsrisiken« soziale Unterschiede relativieren: Risiken, so Beck, entfalten eine »egalisierende Wirkung«; statt einem Ständeschicksal wie im Mittelalter hätte man es in der Risikogesellschaft mit einem »Gefährdungsschicksal« zu tun. Natürlich können sich Superreiche wie Mark Zuckerberg, der auf Hawaii für zweihundertsiebzig Millionen Dollar eine geheime Festung samt unterirdischem Apokalypse-Bunker errichten ließ, bis zu einem gewissen Punkt von Risiken freikaufen – doch was nützt das teuerste Reduit, wenn die Insel absäuft?

Die »egalisierende Wirkung« der Klimakrise – und darin besteht ihre politische Sprengkraft – stellt die Eigentumsordnung radikal infrage, weil Besitztum immer zukunftsgerichtet ist. Man besitzt etwas heute, weil man es auch morgen noch besitzen will. Niemand kauft sich ein Haus, nur um es in fünf Jahren einer Wetterkatastrophe zu überlassen. Wenn aber der Grund und Boden gar nicht mehr aneignungsfähig ist, weil er durch Dürren oder Fluten nicht mehr urbar ist, fällt der Appropriationsgedanke moderner Eigentumstheorien in sich zusammen. Wer will schon in einem Dorf bauen, das in ein paar Jahren stillgelegt wird? Ein verseuchtes Waldgrundstück ist genauso nutzlos wie ein überflutetes Strandhaus. Laut einer Studie der First Street Foundation werden die Folgen des Klimawandels allein in den USA Immobilienwerte im Wert von rund anderthalb Billionen Dollar vernichten. Keine Versicherung wird diese Schäden langfristig abdecken. Der Soziologe Beck spricht von einer »ökologischen Entwertung und Enteignung«: Unter Beibehaltung der Eigentumstitel werde die »verbrannte Erde« nutz- und wertlos.

Soll man sich jetzt freuen, wenn die Villen der Reichen unter Wasser stehen? Das wäre zynisch. Denn die Verteilungskonflikte um knapper werdende Ressourcen – Wasser, Grund, Wohnungen – werden schärfer und politisch schwerer zu moderieren. Dass ausgerechnet die Klimaanpassungsmaßnahmen und nicht der Klimawandel selbst – Robert Habecks Gebäudeenergiegesetz (»Heiz-Hammer«) wurde als »kalte Enteignung« diffamiert – als Einschränkung rezipiert werden, verweist auch auf die Risikoblindheit vieler Bürger und auf »Legitimationsprobleme im grünen Kapitalismus« (Philipp Staab), der kaum noch Fortschrittsversprechen oder Erneuerungsprogramme verkaufen kann.

Und auf Tuvalu? Dort haben Forscher einen digitalen Zwilling der Atolle erstellt, eine virtuelle Kopie, die vielleicht irgendwann ins Metaverse »importiert« werden könnte. Das Metaverse ist eine Form des »restaurativen Kapitalismus«, den der Soziologe Staab diagnostiziert. Statt in Klimaschutz zu investieren, restauriert man eine Inselwelt als 3D-Modell und hostet sie in Rechenzentren, die den Planeten aufheizen und den Meeresspiegel noch schneller steigen lassen. Wenn die Welt untergeht, setzt man eben eine Datenbrille auf.

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