Sie könnte es ganz nach oben schaffen, aber will sie das überhaupt? Ein Aufzug über Höhen und Tiefen des Lebens.

I   Ian
A   Ana

A Für mich fühlen sich jetzt alle gleich an, aber als ich das erste Mal in die fünfzehnte, sechzehnte oder siebzehnte Etage fuhr,dachte ich schon: »Wow, jetzt geht es ganz nach oben, bis zum allerhöchsten Punkt. So hoch wie noch nie.« Mein Name ist Ana und ich bin ein Aufzug.

I Hattest du ein bisschen Höhenangst?

A Ja, schon. Wenn man zum ersten Mal ganz oben ankommt, in die höchste Etage fährt, in der man je war, denkt man, höher darf es nicht werden. Aber man gewöhnt sich daran.

I Wie fühlt sich wohl der Aufzug, der im höchsten Gebäude arbeitet?

A Wahrscheinlich müde. Ich meine, ich bin nach einem Arbeitstag müde und fahre gerade mal in die siebzehnte. Man baut aber auch immer höher. Frank Lloyd Wright wollte ein Gebäude bauen, das über anderthalb Kilometer hoch ist.

I Eine Meile.

A Ja, und es sollte sechsundsiebzig Aufzüge haben. Und sie sollten nuklear angetrieben werden ..., aber man hat es dann doch nie gebaut.

I Das ist wirklich in jeglicher Hinsicht furchterregend.

A Ja. Zu hoch und von zerstörerischer Kraft angetrieben – ein Aufzugsunfall, und das Gebäude wäre weg.

I Viele Leute machen sich Sorgen, dass im Aufzug etwas schiefgehen könnte, sie wollen nicht stecken bleiben, aber in dem Fall wäre die Fallhöhe eine ganz andere.

A Besser, dass es nicht gebaut wurde. Ich meine, viele Leute haben jetzt schon Angst, mich zu benutzen. Alles geschieht aus einem bestimmten Grund, und manche Dinge geschehen eben nicht aus einem bestimmten Grund.

I Viele Leute halten die Gespräche in Aufzügen für die banalsten, na ja, smalltalkartigen Gespräche. Ich schätze, als Aufzug hört man davon viele?

A Ich höre eigentlich kaum etwas anderes.

I Angeblich gab es in New York einmal folgendes Gesetz: »Während der Fahrt im Aufzug darf man mit niemandem sprechen und muss die Hände falten, während man zur Tür schaut.« Wenn das also stimmt, war es in New York einmal illegal, im Aufzug mit jemandem zu sprechen.

A Wow! Also, wenn das Gesetz gilt, dann wird es wirklich ständig gebrochen. Ich würde ja meinen Mund halten. Aber wenn jemand die Behörden alarmiert?

I Das wäre ein seltsamer Notruf.

A In meiner Nähe führt man schon seit dreißig Sekunden ein völlig banales Gespräch!

I Bitte schicken sie sofortige Hilfe!

A Was wäre die Bestrafung? Geldstrafe? Gefängnis? Nein, das wäre zu heftig. Vielleicht darf man eine Zeitlang nicht mit dem Aufzug fahren. Oder nur Smalltalk war verboten, aber man durfte tiefgründige Gespräche führen, also im Aufzug damals?

I Vielleicht.

A Aber mal ganz ehrlich, das ist es doch, was Leuten wirklich Angst macht: ein ernstes Wörtchen. Man möchte gar nicht so tief einsteigen … lieber nur Hintergrundrauschen wie: »Mein Kind hatte gestern ein tolles Fußballspiel.«

I Vielleicht machen wir uns auch zu viele Gedanken – jetzt stelle ich dir eine sehr intime Frage. Und dann können wir ein bisschen smalltalken, damit du dich nicht unwohl fühlst.

A Perfekt.

I Gab es jemals jemanden, der in dich reinging und von dem du insgeheim gehofft hast, er würde dich nie wieder verlassen?

A Ja. Aber es war nicht gleich bei unserer ersten Begegnung, es war eher schleichend, dass mir diese Person ans Herz wuchs. Ich begann mich darauf zu freuen, sie zu sehen, und ich wollte so gerne den Knopf für sie drücken. Aber ich sagte mir irgendwann: Schluss jetzt. Du bist hier, um zu arbeiten, nicht um dich zu verlieben.

I Bist du jemals stecken geblieben?

A Ja, natürlich.

I Mit Menschen in dir?

A Ja.

I Können wir das nachspielen? Was sagt man als Aufzug, um die Menschen zu beruhigen?

A »Entspannt euch, wir stecken fest. An dieser Stelle geht es erst mal nicht weiter. Es hat keinen Sinn, sich deswegen aufzuregen, denn man kann nichts dagegen tun. Und leider kann ich auch nichts dagegen tun. Ich habe schon oft festgesteckt und bin nie für immer hängen geblieben, also werdet ihr es auch nicht.«

I Ich neige dazu, immer wieder auf die Knöpfe zu drücken.

A Das wird nichts ändern. Du kannst die Knöpfe drücken, wenn es dir damit besser geht, aber ändern wird es nichts. Ich verstehe schon, weshalb wir Aufzüge euch unangenehm sind. Wir sind nicht euer Lebensraum. Ihr wollt draußen sein. Und vielen macht es Angst, irgendwo einzusteigen, wo sie gegebenenfalls lange nicht wieder rauskommen. Ich würde auch gern mal eure Außenwelt sehen. Leider unmöglich, aber ich kann es nachvollziehen.

I Schau mal, ich könnte dir hier auf diesem Video zeigen, wie es draußen aussieht.

A Wirklich?

I Willst du?

A O ja, o mein Gott!

I Und erzähle mir bitte dabei, was du fühlst.

A Ja, klar.

I Das ist der Times Square.

A Da sind so viele Leute. Gibt es draußen keine Gewichtsbeschränkung?

I Es gibt keine Gewichtsbeschränkung.

A Und woran erkennt man, ob zu viele Leute draußen sind?

I Es sind bestimmt zu viele.

A Und nichts geht kaputt?

I Fast alles geht immer kaputt.

A Das stimmt auch wieder. Und wohin gehen sie, diese Menschen? Haben sie ein Ziel oder hängen sie einfach ab?

I Das kann man nie wissen. Schon komisch zu realisieren, dass so viele Menschen, na ja, jeder hat ein individuelles Bewusstsein. Es ist einfach so viele … Entscheidungen, Gedanken.

A Und das da? Das ist wie ein Aufzug, nur seitwärts.

I Das ist ein Bus.

A Und drückt man dann auch einen Knopf, um dorthin zu gelangen, wo man hinwill?

I Fast. Man drückt einen Knopf oder zieht an einer Schnur, wenn man aussteigen will.

A Also das Gegenteil von meiner Arbeitsweise?

I Ja, in der Hinsicht und auch von der Fahrtrichtung.

A Was ist das?

I Das ist ein Baum.

A Das ist also ein Baum. Er steht in so einer Art Topf, also war ich mir nicht sicher.

I Ja, dieser hier wird gepflegt, zur Deko. Aber es gibt auch Orte, wo sie freier wachsen können, da haben sie dann keinen Topf.

A Die können dort einfach frei wachsen, immer größer, so groß wie sie nur können?

I Ja, willst du das sehen?

A Ja.

I Das ist ein Wald.

A Wow! Das ist riesig. Und da ist niemand?

I Ja, da sind keine Menschen.

A An so einen Ort würde ich gern gehen. Der andere Ort sah etwas zu weitläufig aus, aber das hier sieht aus wie mein Tempo.

I Stell dir vor: ein schöner Wald, in den etwas Licht fällt. Keine Menschen. Sattes Grün. Und ein Aufzug mittendrin.

A Mittendrin, ja. Und dann hätte ich wirklich nichts zu tun. Tiere brauchen mich nicht. Die kommen schon alleine hoch. Aber ich glaube, mich in diese Umgebung zu stellen, würde den Ort irgendwie ruinieren. Es würde ihm das nehmen, was ihn ausmacht. Ich bin mir sicher, dass es dort, wo ich jetzt hänge, vorher auch so aussah. Also viel vorher. Man fing an, Häuser zu bauen, größer zu bauen, Aufzüge zu bauen, und plötzlich ist das, was vorher ruhig war, nur noch hektisch.

I Sobald ein Aufzug im Wald steht, ist es kein Wald mehr.

I Kann ich dir noch etwas zeigen?

A Ich würde gerne Treppen sehen.

I Treppen.

A Ja, die Leute sprechen oft über Treppen: »Geh du schon, ich nehme die Treppe.« Ich frage mich immer, wie die wohl sind.

I Na klar. Hier …

A Sie sind wunderschön.

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