Die Wohnung ist zu eng, die Beziehung mittlerweile eher eine Frage der Gewohnheit oder wir haben uns mit einer zu mächtigen Instanz angelegt. Es gibt Momente im Leben, die gehen mit einer extremen Abwechslungssehnsucht einher. Solche Impulse können uns kalt erwischen. Da richtet man sich dieses Leben jahrelang nach bestem Wissen und Gewissen ein: meint, endlich die Lieblingsjeans gefunden zu haben, baut sich vielleicht sogar mit zwielichtigen Methoden ein Milliardenunternehmen auf oder arbeitet sich mit plagiierten Doktorarbeiten in der Politik hoch. Und wenn dann eigentlich alles gerade recht bequem zu werden scheint: das Sofa so richtig schön eingepupst, der Status so richtig schön gesichert ... dann passiert es. Plötzlich ist Weitermachen keine Option mehr. Aber wie kann ein Neustart gelingen?

Der Toupet-Trick

Alles muss sich ändern. Und zwar jetzt! Nachdem die Financial Times aufgedeckt hatte, dass das Asiengeschäft von Wirecard praktisch frei erfunden war, dauerte es nur ein paar Monate, bis der erfolgreiche COO Jan Marsalek spurlos aus seiner Villa in Bogenhausen verschwand. Ein Neustart – aber als Kaltstart. Inklusive diverser Passfälschungen, einem neuen Namen, einem neuen Bart und einer neuen Freundin. Nur den Job für den russischen Geheimdienst, den hatte er mutmaßlich vorher schon. Was können wir von Marsalek lernen für so einen Neuanfang? Erst mal, dass es sich lohnt, gut vorbereitet zu sein: Wenn ich mir schon im alten Leben Kontakte und damit Wege in ein neues aufbaue, dann kann der Start schnell gelingen. Und dann ist da noch die äußerliche Veränderung. So ein Toupet ist schnell aufgeklebt und mit den Haaren können wir ein ganzes Narrativ umschreiben. Besonders wirksam war das, weil Marsalek zu Wirecard-Zeiten die reinste Schablone von einem Mensch abgegeben hat mit seiner Glatze und dem Anzug. Ein paar Kilo weniger, ein Bart und neue Kopfbehaarung konnten da schon viel ändern. Dass er sich heute mehr oder weniger im alten Look (Haare auf ein paar Millimeter und Dreitagebart) offen durch Moskau bewegt, zeigt aber vor allem: Mit einflussreichen Freunden an deiner Seite kann auch ein plötzlicher und unfreiwilliger Neustart sehr komfortabel sein.

Manifestiere dich neu

Neustart: Den Laptop nach ein paar Tagen Heißlaufen wieder hochzufahren, ist eines der erhabensten Gefühle, die der Alltag zu bieten hat. Dieser satte, erwartungsfrohe Ton, der sagt: Der Arbeitsspeicher ist leer, ich hab wieder richtig Bock und übrigens – probier die App nochmal, die eben nicht ging, vielleicht werden sich deine Probleme in Luft aufgelöst haben, Zwinkersmiley. Einfach alles wieder zum Laufen bringen, es muss doch möglich sein, genau das auch mit dem eigenen Leben zu machen. Gut, manchmal braucht es dafür vielleicht erst den größtmöglichen Systemcrash. Nehmen wir den Fall Guttenberg: Ein Jurist und Verwalter des eigenen Familienvermögens geht in die Politik, wird da schon nach ganz kurzer Zeit gleich mal als Kanzlerkandidat gehandelt, dann aber beim Plagiieren in seiner Doktorarbeit ertappt. Das ganze Land war monatelang mit dem Ausweiden der persönlichen Fehler beschäftigt. Das ist schon maximal kacke. Aber mit einem PR-Team und einer gesunden Portion Narzissmus kommt man auch aus solchen Krisen gut wieder raus. Und zwar durch geschicktes und beharrliches Manifestieren. Nach dem Rückzug in die USA tauchte Guttenberg wieder auf mit einem Buch, das Gespräche mit Giovanni di Lorenzo enthält: »Vorerst gescheitert«. Ein Sich-Herausmeditieren aus dem Versagen. Mit dem »Vorerst« sollte er übrigens recht behalten. Guttenberg feierte ein Comeback als Berater, als Talkshow-Gast mit »neuem Blick auf die Welt«, dann auch als Moderator und ist heute als Gspusi von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche wieder ganz nah dran an der Macht. Wir lernen: Aus Fehlern werden Wachstumschancen. Wer genug manifestiert, braucht keine Verantwortung, nur einen Verleger.

Neuer Pass, neues Ich

Einfach einmal im Leben den Reset-Button drücken. Allein der Gedanke daran ist so verlockend, dass man Lebenszeit stundenweise auf Immoscout verbringt oder in jedem Urlaub überlegt, ob man nicht doch aus den müden Knochen noch die Energie saugen kann, diese süße Ruine inmitten von Olivenhainen zu renovieren. Einfach auswandern, das wäre es. Der einen unschuldige Träumerei ist der anderen Back-up-Plan für den Fall, dass die lukrativen illegalen Geschäfte auffliegen. Wenn im Heimatland die Verhaftung droht, gibt es eine Lösung: goldene Pässe! Man muss nur genug investieren und Malta, Zypern oder ein anderes flexibles EU-Land hilft einem beim Neuanfang. Wo das Geld herkommt? Komplett egal. Russische Oligarchen und Ex-Politiker nutzen diese Programme seit Jahren. Denn Freiheit made in EU ist käuflich. Wir schreiben uns also hinter die Ohren: Für einen radikalen Neustart braucht man nicht Läuterung, sondern Liquidität.

Mit plastischer Chirurgie gegen den menschlichen Makel

Auch wenn man von dem ganzen Gequatsche vom Neustart genervt ist (Woher bitte kommt überhaupt die Idee, dass eine neue Wohnung, Morgenroutine, ein Ernährungstracker oder ein neuer Look uns auch nur ansatzweise weiterbringen könnten?), so kann es doch Anlässe geben, die einen Neustart unerlässlich machen. Nehmen wir den wahren Fall eines südkoreanischen Buchhalters aus dem Jahr 2013: Er veruntreut über drei Millionen Euro bei seinem Arbeitgeber und will mit dem Geld fliehen. Seine Strategie: Er gönnt sich erst mal ein neues Gesicht beim Chirurgen. Warum soll man untertauchen, wenn man sich auch dramatisch verändern kann? Stirb-an-einem-anderen-Tag-Style. Der Mann zieht nach Seoul ins nobleGangnam-Viertel, wo er weiterlebt wie vorher, nur reicher und hübscher. Als zwei Komplizen ihn verpfeifen, findet die Polizei einen »völlig anderen Menschen« vor – nur leider keinen glaubwürdigen. Was lernen wir? Ein neues Gesicht schützt nicht vor alten Fehlern.

Zeiten ändern dich

Es ist tricky: Wir erzählen gern von unserem Leben, indem wir von alles verändernden Events berichten. Warum der Umzug uns damals gerettet hat, dass diese eine Begegnung den entscheidenden Impuls gegeben hat, bla, bla, bla. Das lässt sich natürlich alles sehr schön zu Geschichten zusammenstricken. Aber keiner von uns kann sicher sagen, wie genau sich äußerliche Veränderungen auf das Leben auswirken. Ein zu Guttenberg, ein Jan Marsalek: Sie sind sich, nach allem was wir wissen, trotz des Neustarts ziemlich treu geblieben. Auf ihre Weise die gleichen Performertypen. Minus ein paar äußerliche Umstände. Was lernen wir daraus? Man kann in eine neue Stadt ziehen, sich die Haare abschneiden und Hauptdarstellerinnensätze sagen wie: »Ich muss erst mal rausfinden, wer ich wirklich bin.« (Spoiler: Niemand weiß, wer das sein soll. Auch nicht nach einem Sabbatical in Lissabon.) Die Probleme bleiben die gleichen. Auch irgendwie ein tröstlicher Gedanke.

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