Ich freu mich aufs Büro
T Stefan Gärtner
F Ingmar Björn Nolting
T Stefan Gärtner
F Ingmar Björn Nolting
»Es geht weiter, immer weiter.«
Oliver Kahn
Obwohl im durchaus passenden Alter, werde ich nicht von dem Gedanken verfolgt, ich müsse einmal »neu anfangen«. Mein Leben ist eingerichtet, und ich bin, als eher zaghafter, skeptischer, ängstlicher Mensch, durchaus dankbar dafür. Denn der Alltag ist mir keine Last, die ich abwerfen müsste, sondern das Skelett, das mich trägt.
Ich hab’s da natürlich gut, weil ich den passenden Beruf und die richtige Frau habe, und es gibt Gründe anzunehmen, dass ich als dreimal geschiedener Straßenbauer nur halb so zufrieden wäre. Natürlich ist da die Frage, warum sich die einen im Straßenbau plagen und ich, bei Tee und Schnittchen, für Geld die Weltlage erörtern darf, und vielleicht müsste man ja wirklich einmal neu anfangen und die Entscheidung, wer im Straßenbau und wer am Schreibtisch arbeitet, nicht von Zufällen wie dem Elternhaus oder dem Geburtsort abhängig machen. Kurioser- oder gar nicht so kurioserweise hat das auch die realsozialistische DDR nicht geschafft, hier einfach Freiheit walten zu lassen, sondern, in kleinbürgerlicher Bosheit, die Lehrerskinder in den Straßenbau gesteckt und die Arbeiterkinder studieren lassen, und das war dann vielleicht der Unterschied zwischen dem Sozialismus, wie er war, und der klassenlosen Gesellschaft, die der Kommunismus verspricht. Klassengesellschaft ist, wenn die eine Klasse über die andere herrscht, und also ist die »Diktatur des Proletariats« auch eine Klassengesellschaft gewesen, nur eben eine, die vom Kopf auf die Füße gestellt war.
Denn die Leute, die bei Tee und Schnittchen am Schreibtisch sitzen, können das nur, weil andere Leute die eigentliche Arbeit machen, also Bus fahren, Häuser mauern oder Supermarktregale füllen. Der Realsozialismus ging nun her und sagte, so, die gesellschaftliche Macht ist jetzt mal bei denen, die bei den großen Leuten kleine Leute heißen, und damit das ging, brauchte man eine Planwirtschaft, und dass die nicht so funktionierte wie erwartet und behauptet, beendete dann das Experiment nach vierzig Jahren. Für die DDR-Bürger war das ein Neustart, und mit Jörg Fauser gilt: Wer mit vierzig bei null anfängt, fängt nicht bei null an, sondern bei vierzig.
Beim Sichten alten Ostfilmmaterials auf Youtube erlebt man in der Kommentarspalte zweierlei: Freude, dass es vorbei ist, und im Gegenteil das, was »Ostalgie« genannt wird. Gut, es gab weniger zu kaufen, und mit seiner politischen Meinung hielt man lieber hinterm Berg. Aber dafür war das Leben ruhiger, berechenbarer, sicherer. Nun ist es zweifellos so, dass zu den Gründen, aus denen die Deutsche Demokratische Republik das Zeitliche segnete, die fehlenden Möglichkeiten zählten, nicht immer nur Alltag zu haben, sondern zu reisen, zu konsumieren, auszuflippen, und kaum sind die Möglichkeiten zur Gewohnheit geworden, werden sie als aufdringlich, ja bedrohlich empfunden. Eine immer wieder gern genommene Umfragewill wissen, was man nach einem Lottogewinn machen würde, und die Antwort lautet regelmäßig: weitermachen, doch ohne Angst und Druck. Wenn in der entwickelten Konsumgesellschaft überhaupt etwas den Neustart ermöglicht, dann die Million im Lotto, und was wollen die Leute damit? Morgens in Ruhe ins Büro gehen.
Vielleicht ist es also gar nicht so weit her mit dem gesellschaftlichen – nämlich bloß konsumistischen – Diktat, wir müssten uns Tag für Tag individuell neu erfinden (und dabei eine wer weiß wie spezifische »Identität« haben), und es ist nicht mal Ironie, wenn die allgemeine Tätowierungsbegeisterung stracks dazu geführt hat, dass es nichts Gewöhnlicheres als eine Tätowierung mehr gibt. Mit grimmer Notwendigkeit führt alles, was rebellisch war, in die Konformität, und soweit das Naturwesen Mensch ein Energiesparer ist, wird es gut daran tun, sich nach der Norm zu richten, was dann nicht schadet, wenn die Norm nicht schadet. (»Rechtschreibung ist Höflichkeit«, hat mal jemand gesagt.) Unter diesem Blickwinkel verteidigte Theodor W. Adorno die Konvention als »zweite Humanität«, und also sind, anders als unsere Individualitätsbegeisterung glaubt, Norm und Konvention nichts schlechterdings Falsches; es kommt darauf an, wem sie nützen und wer sie warum verabredet.
Das vielbeschworene »Ausbrechen aus der Norm« ist schon darum längst zur Norm geworden, weil es sich verkaufen lässt. Corona ließ die Verkaufszahlen bei Wohnmobilen durch die Decke gehen, und die mit dem Camper ausbrechen wollten, mussten einen höheren fünfstelligen Geldbetrag zur Verfügung haben, bestätigten mit ihrem Ausbruch also gerade das, was ein Ausbruch doch hinter sich lassen müsste; und wer sich im Internet Filme übers Aussteigen ansieht, wird die Erfahrung machen, dass das Unkonforme sich mit dem Konformen direkt verwechseln lässt. »Man entwickelt natürlich ’ne unheimliche Widerstandskraft«, sagt etwa einer, der in den Wald gezogen ist. »Ich habe gelernt, dass egal, was mir passiert oder widerfährt, dass ich immer ’ne Lösung finde«, und mit der Einstellung wäre er bei jeder Personalerin erste Wahl, ganz abgesehen davon, dass die quasispirituelle Waldexistenz davon abhängt, dass sie nicht allzu viele nachmachen, und das tägliche Brot auch weiterhin da herkommt, wo es für uns alle herkommt. Und die Jurte im Wald die Frage kaschiert, wem die Bäckerei gehört.
Trotzdem – nein: deswegen – sehen wir das gern, weil es die Sehnsucht nach dem einfachen Leben bedient, nach frischer Luft und Waschen mit Schnee, ebender basalen Simplizität, die man am Realsozialismus so lachhaft fand (»Was ist in Rumänien noch kälter als das kalte Wasser? Das warme Wasser«). Und natürlich benutzt der Aussteiger keinen Faustkeil, sondern eine Motorsäge und redet so selbstverständlich von »Selbstwirksamkeit«, dass sein Neustart, bei aller Sympathie fürs Zurückgezogene und Bescheidene, wieder bloß aufs Alte rekurriert, nämlich aufs Psychogeschäft samt angeschlossenem Resilienz- und Outdoorwesen. Unser Waldmann gibt natürlich »Kurse«, er muss ja von was leben. Als plötzlich nichts mehr ging, Geschäfte geschlossen blieben und die Marktwirtschaft Pause machte, hatten viele die Sehnsucht, es sei dies der Beginn von etwas Neuem, Ruhigerem, Einvernehmlicherem; heute gilt eine halbe Generation als verloren, weil sie in den Formationsjahren zu Ruhe und Abstand gezwungen war, und bis weit ins Wohlstandsbürgertum hinein hat sich die Ansicht verhärtet, in den Seuchenjahren vom Verbots- und Gängelstaat um die Freiheit gebracht worden zu sein, anderen den Tod zu bringen. Was übrigens genau die Freiheit ist, die jener harte, nicht nur bei Elon Musk und Konsorten beheimatete Kapitalismus projektiert, dem der Verbots- und Gängelstaat sowieso als Hauptfeind gilt. Was immer als »Neustart« ausgerufen wird, ist ein Start in alten Bahnen, und wie oft hat man der legendären »Stunde null« vorgerechnet, dass sie keine war, sondern das neue, demokratische (West-)Deutschland eins des alten Besitzes und des alten Personals; und wo man tatsächlich einen Neustart versucht hat, im Osten, geschah es als Import und unter Zwang, denn ganz so neu wollte den Start dann doch niemand haben. Die »Stunde null« ist, historisch wie grundsätzlich, ein Mythos, und der Wunsch nach Tabula rasa verwechselt das ganz Neue mit dem ganz anderen. Auf die Fehler, Brüche, Katastrophen blickend, möchten wir von Neuem auf die Welt kommen; als formte die uns nicht nach ihrem Ebenbild. Wer eine neue Welt will, muss die alte zerstören, und das ist keine sehr alltagstaugliche Sache.
Aus dem Ahlener Programm der CDU, 1947: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.« Und also: »Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschaftsund Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.« Zehn Jahre und ein Wirtschaftswunder später zieht die CDU mit »Keine Experimente!« in den Wahlkampf, und nochmals zwei Jahre drauf verabschiedet die SPD ihr Godesberger Programm, dem »freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative« als »wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik« gelten. Was die Ostdeutschen (und vermutlich nicht nur die) an den Ostfilmchen übrigens besonders schätzen, sind die »sicheren Grenzen«, und dass der kommende Neustart zwischen Rostock und Erzgebirge einer zu werden verspricht, der das furchtbar Alte aus der Kiste holt, ist vielleicht nicht die ganze, aber leider ein Teil der Wahrheit. Auch das Böse beruft sich auf den Neuanfang; das spricht nicht schlechthin gegen ihn, hat aber nicht nur den Skeptiker Kafka gegen ihn eingenommen. Das Neue wäre die solidarische, freie Menschheit; alles andere ist Alltag, so oder so.