Zurück auf Start – die zweite Luft
Vom größten Triumph seiner Karriere trennen Amanal Petros am Ende sechzehn Zentimeter. Dabei hatte der Deutsche das Rennen beherrscht. Er führte, als die Spitzengruppe ins Nationalstadion von Tokio einlief, und noch, als sie in die letzte Kurve einbog. Er führte, obwohl er nicht nur gegen die starke Konkurrenz anlief, sondern auch gegen die Spätsommerhitze und einen Krampf kämpfte. Er sieht gequält aus, er beißt die Zähne zusammen. Und doch: Im Ziel fehlen ihm drei Hundertstelsekunden zum Sieg. Dieser Lauf bei der Leichtathletik- WM 2025 geht als eines der spannendsten Finals aller Zeiten in die Sportgeschichte ein. Denn er endet so knapp, wie es eigentlich im Marathon nicht vorgesehen ist. Marathonzeiten werden nicht in Hundertstelsekunden ausgezählt, nicht einmal in Zehnteln. Erst die Zeitlupe zeigt: Amanal Petros wird auf den letzten acht Schritten eines Zweiundvierzig-Kilometer-Rennens überholt.Später, im Gespräch mit Apollon, beschreibt Petros seine widerstreitenden Gefühle bei der Siegerehrung. Eine Silbermedaille kennzeichnet den zweiten Sieger. Und den ersten Verlierer. In den Stolz auf die eigene Leistung mischte sich große Enttäuschung. Doch Petros zerbricht nicht daran. Sein bisheriges Leben habe ihn gelehrt, auch mit dieser Niederlage umzugehen: »Man muss als Marathonläufer akzeptieren, wie es ist. Oder auch generell: als Mensch.«
Vielleicht liegt in diesem Satz das Geheimnis seines Laufs, ja seines Lebens. Kaum ein deutscher Athlet hat so viele Rückschläge erlebt – und daraus immer wieder einen Neuanfang gemacht. Amanal Petros, der Flüchtende, der Suchende, der Kämpfende. Einer, der nie stehen blieb, wenn das Leben ihn stolpern ließ.
Geboren ist Petros in Eritrea, aufgewachsen in Äthiopien. Zwei Länder im Krieg miteinander. Petros, das Kind, dazwischen. Mit gerade einmal sechzehn flieht er. Allein. Nicht einmal seiner eigenen Mutter sagt er, dass er geht. »Damit sie sich keine Sorgen macht«, sagt Petros heute. Und, weil er sich sicher ist: »Sie hätte mich nicht freilassen können. « Als unbegleiteter Flüchtling landet er im deutschen Winter des Jahres 2012. Er hat nicht einmal eine Winterjacke, als er in eine Sammelunterkunft in Bielefeld gebracht wird. Er tut sich schwer mit Deutschland, sagt Petros heute noch. Die Kultur, die Mentalität, die Sprache.
Zuflucht findet er in der Bewegung. Im Sport, der keine Worte braucht. Zuerst auf dem Bolzplatz, ehrgeizig, aber unbeholfen. Zu groß, zu schmal, zu freundlich für die Härte des Amateurfußballs. Bald erinnert er sich an das, was ihm früher in Äthiopien Freude gemacht hat – das Laufen. Also tauscht er Stollen gegen Spikes. Ein Läufer, den er zufällig kennenlernt, nimmt ihn mit zum TSVE Bielefeld. Dort, zwischen Aschebahn und Hallenstaub, beginnt etwas Neues. In der Trainingsgruppe findet er, was ihm in Deutschland so lange fehlte: Gemeinschaft, Sprache, Orientierung. Ein Ziel. Sein erstes Rennen läuft Petros beim Citylauf in Espelkamp. Zehn Kilometer Stadtlauf, die er in sechsunddreißig Minuten beendet. Streckenrekord. Für einen Amateurläufer eine schier unglaubliche Zeit. Ein schrammeliger Pokal, aber vielleicht der wichtigste seiner Karriere. Hier, auf den Nebenstraßen Ostwestfalens, erzählt Petros heute, erwacht in ihm ein Traum: Olympia. Es ist der Moment, indem aus dem Flüchtling ein Athlet wird, geboren aus nichts als Ehrgeiz und dem ersten Paar Laufschuhe.
Die olympische Idee ist es, die besten Sportler aller Länder gegeneinander antreten zu lassen. Petros aber fehlt eine Flagge, unter der er antreten kann. Ohne deutschen Pass kein Startrecht. Also müht er sich. Lernt Sprache, Kultur, Geschichte. 2015 folgt die Einbürgerung. Das erste Rennen unter Schwarz-Rot-Gold sei anfangs seltsam gewesen, sagt er: »Aber ich war auch sehr, sehr stolz.« Doch zwischen ihm und dem Traum von Olympia steht etwas Banales: Geld. Man kann schwer von Goldmedaillen träumen, wenn man nebenher arbeiten muss. Doch der Neustart als Staatsbürger bringt einen Vorteil: Petros kann Sportsoldat werden. Nach der Grundausbildung kann er endlich ernsthaft trainieren – und wird bezahlt. Das habe für »Ruhe im Kopf« gesorgt, sagt er heute. Ohne diese Unterstützung stünde er nicht dort, wo er jetzt ist. Es folgen die ersten Achtungserfolge auf großer Bühne. Silber bei der U23-EM 2017 in Polen, Doppel-Silber bei den Military World Games 2019, einer Art Olympische Spiele für Soldaten. Austragungsort: das chinesische Wuhan, ausgerechnet. Dort, wo Petros Karriere Fahrt aufnimmt, entsteht zeitgleich etwas, das seine Ambitionen gefährden wird: Covid-19. Gerade trainiert er in Kenia, als der Leichtathletik-Verband ruft: Er soll sofort nach Hause kommen. Das war keine Bitte, sagt Petros. Es war ein Befehl.
Marathon ist ein grausamer Sport, für Körper und Psyche. Selbst Profis wie Petros laufen zwei, vielleicht drei große Rennen pro Jahr. Wer ein Rennen verpasst, hat tausende Kilometer umsonst trainiert. Und wer alle verpasst, weil eine Pandemie die Welt stoppt, muss im schlimmsten Fall sein restliches Leben neu entwerfen. Für Petros ist es eine schwere Zeit: »Mein Ryhtmus ging verloren. Auch mental war ich nicht so stabil.« Immerhin: Mit jedem Neustart seines Lebens hat er eine starke Säule hinzugewonnen, die sein Leben stützt, wenn er stolpert. Die Sportförderung der Bundeswehr bleibt auch während der Pandemie bestehen. Sie hilft ihm. Er gibt nicht auf. »Ich glaube immer an die zweite Chance«, sagt Petros.
Tatsächlich, er schafft es: die Qualifikation für das zuschauerarme Olympia von Tokio im Jahr 2021. Die Gelegenheit, die Widrigkeiten hinter sich zu lassen – auf der größten Bühne der Welt. Doch ein Motorradunfall nur wenige Wochen vor den Spielen macht das entscheidende Training vor dem Wettbewerb fast unmöglich. Petros beendet das Rennen auf Rang dreißig. Kein Drama. Abe eben kein Triumph. Aber er macht weiter. Vierter Platz bei der WM 2022. Deutscher Rekord beim Berlin-Marathon in zwei Stunden, vier Minuten, achtundfünfzig Sekunden. Der Traum lebt. Kurz vor den Spielen 2024 in Paris liegt er krank im Bett. Das Rennen muss er nach zweiunddreißig Kilometern aufgeben.
Nach dieser Enttäuschung reist Petros nach Addis Abeba. Zum ersten Mal seit seiner Flucht sieht er seine Mutter wieder. Sie ist nicht böse. Sie nimmt ihn in den Arm. Für einen Moment ist er kein Athlet, kein Geflüchteter, kein Verlierer – nur Sohn. Dieses Heimkehren, das Neuknüpfes eines familiären Bandes treibt ihn zu neuen Höhen. Im April 2025 läuft Amanal Petros in Berlin einen Halbmarathon unter einer Stunde, er ist der erste deutsche Athlet, dem dies jemals gelungen ist. Mit diesem Hochgefühl reist er erneut nach Tokio, diesmal zur Leichtathletik-WM 2025. Dieses Mal, verdammt, soll es endlich klappen mit der Goldmedaille. Tokio fühlt sich an »wie ein Traum«, sagt Petros. »Die ersten zwei Tage habe ich fast gar nicht geschlafen, weil alles so aufregend war.« Dann dieses Rennen. Diese sechzehn Zentimeter. Das böse Erwachen. Petros sagt, er würde sich wünschen, sie hätten zwei Goldmedaillen vergeben. »Ich hätte sie uns beiden gegönnt.« Vielleicht ist das die Pointe seiner Karriere – und seines ganzes Leben. Petros mag verlieren, aber nie wirklich. Jedes Scheitern ist nur der Beginn von etwas Neuem.