Gesucht: männlich, nichtbehindert, normal

Text von Amelie Kahl
Fotografie von Janek Stroisch

Lesedauer: 9 Min.

Wer ist eigentlich normal? Und zwar: faktisch. Wer ist in Deutschland normal? Wer ist nicht normal? Wie viele Kinder hat ein normaler Mensch? Was verdient ein normaler Mensch? In Haßloch, einem Ort, der durchschnittlicher nicht sein könnte, muss es sie geben: normale deutsche Personen. Auf der Suche nach dem Durchschnittsmenschen.

21.000 Einwohner leben im größten Dorf Deutschlands – in Haßloch, einer Gemeinde im Landkreis Bad Dürkheim, irgendwo in Rheinland-Pfalz. Der Durchschnittspreis für eine Übernachtung im Doppelzimmer eines Dreisternehotels liegt hier aktuell bei 92 Euro. »In Haßloch ist immer etwas los«, heißt es auf der Webseite des Mittelzentrums. In der Tat scheint hier etwas los zu sein: von Konzerten und Lesungen bis zu feierlichen Höhepunkten wie den Leisböhler Weintagen. Haßloch, hier geht’s Deutschland gut.

Das Besondere an Haßloch sind jedoch nicht die Leisböhler Weintage. Das Besondere an Haßloch ist seine Durchschnittlichkeit. 49 Prozent Männer, 51 Prozent Frauen (Zahlen diverser Geschlechter werden nicht erhoben). Das Durchschnittsalter in Haßloch liegt bei genau 46 Jahren. Diese demographischen Werte Haßlochs sind so mittelmäßig, so durchschnittlich, dass der Ort, seine Struktur und Größe als universales Abbild Deutschlands gilt. Deshalb ist Haßloch nicht nur ein unauffälliges Dorf der übermäßig weißen Mittelschicht – hier wird auch getestet, was diese kauft. Die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) betreibt in Haßloch einen bundesweit einzigartigen Test-Supermarkt, bei dem sich aus den rund 10.000 Haßlocher Haushalten 3000 Freiwillige beim Einkauf ins Portemonnaie blicken lassen.

 

TRÜGERISCHES IDYLL IM HAßLOCHER SUPERMARKT

Der Fotograf Janek Stroisch in seiner Bildstrecke über Haßloch...

So kaufen hier Singles, verheiratete Paare, Rentenbeziehende und Arbeitslose ein – per GfK-Chipkarte, die ihre Einkäufe trackt. Sie entscheiden, welche Zahnpasta, welches Klopapier und welches Müsli es in die Supermärkte Deutschlands schaffen und welche Konkurrenten aus den Regalen verschwinden. Jury ist hart. Berühmt für ihre Durchschnittlichkeit und Markentreue wird sie voraussichtlich nur 30 Prozent der Produkt-Neuanwärter in die nächste Runde lassen. An ihren TV-Gewohnheiten entscheidet sich zudem, was im Fernsehen läuft. Denn Haßloch, das ist dieser Ort mit den kleinen Boxen neben dem Fernseher. Die Boxen sind Messgeräte der GfK, die in zwei Dritteln der Haßlocher Haushalte stehen. Sie dokumentieren fein säuberlich das Konsumverhalten ihres Gegenübers, das vielleicht gerade von der Arbeit heimkommt und den Fernseher einschaltet, um selbst abzuschalten.

Doch bei wem genau stehen eigentlich diese Boxen, die ganz Deutschland abbilden sollen? Mit seinem Film »Free Rainer - Dein Fernseher lügt« , stellte Hans Weingartner 2007 Fragen an die Werbeindustrie: Wer ist überhaupt die Mehrheitsgesellschaft, die Deutschland abbildet? Wie akkurat ist die Auswahl der Testpersonen? In einem Interview zum Filmstart sagte Weingartner dazu: »Es stehen keine Boxen bei Ausländern. Zweitgeräte werden nur zu einem Bruchteil erfasst, also auch kaum Jugendliche. Es gibt viele Schwachstellen. Warum die Werbewirtschaft das einfach so hinnimmt, ist mir ein völliges Rätsel. Ich habe mit vielen Verantwortlichen gesprochen, der Tenor lautet: Es war schon immer so, es gibt nichts anderes.«  

Wer ist diese durchschnittliche Bevölkerung Deutschlands? Wer bildet den repräsentativen Querschnitt? Was also ist normal?

Unrecht hat Weingartner mit seiner Kritik bis heute nicht: So gilt Haßloch zwar als kleines Abbild Deutschlands, doch nur 8,5 Prozent der Haßlocher haben einen Migrationshintergrund. In der deutschen Gesamtbevölkerung sind es allerdings rund 26 Prozent. Die Frage, die so offensichtlich im Raum herumsteht, ist also: Wer ist diese durchschnittliche Bevölkerung Deutschlands? Wer bildet den repräsentativen Querschnitt? Was also ist normal?

Normalität ist ein Begriff, der historisch gesehen erst vor recht kurzer Zeit Einzug in unseren Wortschatz fand. Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb der deutsche Psychiater Wilhelm Griesinger in seinem Buch »Die Pathologie der Therapie der psychischen Krankheiten« Normalität so: »Alles, was ein Vorherrschen der Fantasie, was körperliche und psychische Weiblichkeit (…) veranlassen könnte, müsste entfernt gehalten, es müsste immer so viel als möglich auf die einfachsten, geordnetsten äußeren Lebensverhältnisse,(…), auf Gewöhnung an Unterordnung unter objektiv gegebene Verhältnisse gesorgt werden.« (1861, S. 475)

Uff. Fantasie und Weiblichkeit entfernen, Unterordnung unter gegebene Verhältnisse – wenn man diesen Maßstäben nachgeht, die die AfD jüngst noch für ihre Werbekampagne »Deutschland. Aber Normal« instrumentalisierte, meint der Begriff »Normalität« keinen einfachen Durchschnitt. Vielmehr handelt es sich bei ihm um ein idealistisches Konstrukt, das erst im Verhältnis zur Abweichung entstehen kann. Umgedreht also: Wenn es keine Abweichung gibt, kann auch keine Normalität entstehen. Der psychiatrische Kollege Richard von Krafft-Ebing schloss sich seinem Vorredner im Jahr 1885 an. Auch er konzentrierte sich beim Formen des Begriffs Normalität auf das Abweichende, von dem man sich für ein züchtiges Leben fernzuhalten habe: »Vor allem vermeide man alles, was die Sinnlichkeit wecken könnte. Viel und gut essen, Genussmittel, Stubensitzen, Stadtleben, Romanlesen, Tanzstunde, frühe Einführung in das Leben der Gesellschaft sind schädlich.« (S. 99)

Die Abweichung vermeiden: Dafür stellte der französische Mathematiker Adolphe Quetelet mit seinem idealtypischen »homme moyen«, dem »mittleren Menschen«, ein Konzept der Normalität vor. Geboren wurde dieser frühe Normcore-Prototyp gleichfalls Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Versuch heraus, eine einheitliche Rationierung an Nahrung und Kleidung schottischer Soldaten zu erstellen. Ein sicherlich praktischer Hintergrund – mit ideologischen Implikationen. Quetelets »mittlerer Mensch« war das, was bis heute als normativ gilt. Er - männlich gelesen - war kein durchschnittlicher Wert der französischen Diversität. »Er« war das Vorbild. »Er« war, wie man zu sein hatte. Zuchtvoll, stark, erfolgreich, schön. Bei der Recherche nach der Normalverteilung für militärische Ausrüstung hörte es nicht auf. Quetelet war hooked. Er untersuchte menschliche Eigenschaften, Lebensweisen, Hobbys, Aussehen. Bis hin zur Kriminalität, deren Vorkommen sich durch spezifische gesellschaftliche Eingruppierungen erklären ließe – so war der Mathematiker ein Vordenker der Rasterfahndung, durch die das Besondere gegenüber dem Normalen ausgesiebt werden soll. Da haben wir sie wieder: die Abweichung, die der Norm erst ihre Struktur, letztlich ihre Daseinsberechtigung gibt. Wenn es nach dem französischen Statistiker geht, so ist die Abwesenheit herausstechender Eigenschaften eine Form von Schönheit. So stellte der »mittlere Mensch« keinen Durchschnittstypen dar, sondern den Idealtypus des Menschen.

DAS BESONDERE IST HIER DIE DURSCHNITTLICHKEIT

Fotograf Janek Stroisch in seiner Bildstrecke über Haßloch...

 
 

Würden wir uns streng an die Zahlen des Durchschnitts halten, wäre eigentlich nicht Michael unser Protagonist, sondern Sabine.

Das, was Adolphe Quetelet »mittlerer Mensch« nannte, nennen wir heute »Max Mustermann« . Und wie ist er so, dieser Max Mustermann in Deutschland? Er ist ein cis Mann ohne Behinderung, heißt Michael, ist hetero, weiß, verheiratet, 45 Jahre alt und hat ein Kind. Vielleicht auch ein zweites. Geheiratet hat er Sabine im Alter von genau 34,7 Jahren. Sabine war bei der Hochzeit 32,2 Jahre alt. Vermutlich heißen ihre Kinder Sophie und Elias, oder Mia und Finn, oder Hanna und Noah. Michael wäre Vollzeit im Maschinenbau tätig und verdiente monatlich genau 4.146 Euro brutto. Seine liebste Sexstellung wäre wahrscheinlich Doggy Style und seinen Sommerurlaub würde er auf Mallorca oder Kreta verbringen.

Würden wir uns streng an die Zahlen des Durchschnitts halten, wäre eigentlich nicht Michael unser Protagonist, sondern Sabine. Der prozentuale Anteil der weiblich gelesenen Personen in Deutschland liegt bei 50,7 Prozent. Doch bis heute stellt sich die große Frage, ob der vermeintliche Querschnitt  nicht eigentlich das Ideal ist. Das Streben nach einer vermeintlichen Normalität dominiert heute genauso wie damals, als der Normton erstmals angestimmt wurde. Quetelet hat übrigens nicht nur den mittleren Menschen erfunden, er hat außerdem die Formel für den Body-Maß-Index (BMI) berechnet, der bis heute Körpermaße definiert, die den einen normal vorkommen und den anderen ihre Abweichung signalisiert. Statistische Durchschnittsmaße der Normalverteilung wie diese bestimmen über unsere ideale Konfektionsgröße hinaus auch das ideale biologische Geschlecht. Und das ist immer noch männlich.

Was ist eigentlich normal im deutschen Lande?

  • Ein heterosexuelles Ehepaar mit einem oder zwei Kindern – das ist die deutsche Durchschnittsfamilie.
  • Die beliebtesten Kindernamen waren 2019 in Deutschland Hanna und Noah.
  • Die meisten Kinder in Deutschland werden im Juli geboren.
  • Deutsche ohne Migrationshintergrund: 74 Prozent
  • Deutsche mit Migrationshintergrund: 26 Prozent

  

Warum sich die gesellschaftliche Realität nicht einfach am gesellschaftlichen Durchschnitt abbildet, erklärt Rebekka Endler in ihrem Buch »Das Patriarchat der Dinge«. Denn Deutschland wurde von und für cis Hetero-Männer ohne Behinderung erbaut. Sie findet darin auch etwa den Grund dafür, dass Frauen häufiger bei Autounfällen sterben: Die Normwerte der Sicherheitsmaßnahmen werden an Dummys getestet – Dummys, die im Schnitt 1,77 Meter groß sind und 75,5 Kilo wiegen. Die Beifahrerin ist kleiner? Oder schwerer? Tja. Darüber hinaus kritisiert Endler, dass Medikamente vorrangig an Männern getestet werden. Erst seit 2004 ist vorgeschrieben, auch Frauen in die Tests einzubeziehen. Bis in die siebziger Jahre schloss man gebärfähige Frauen sogar ganz von den Tests aus. Grund dafür unter anderem: Der weibliche Hormonhaushalt könne die Ergebnisse verfälschen. Ja, aber für wen denn nun? Für cis Männer?

Dass sich Deutschland an patriarchale Strukturen hält, erschließt sich an jeder Straßenecke. Endlers Buch legt den Blick auf das Besondere am Normalen: Auf die zahlreichen Urinale für cis Männer und fehlenden Toiletten für Frauen. Auf Klimaanlagen, deren Temperatur an der Wohlfühltemperatur von cis Männern berechnet wurden und die durchschnittlich drei Grad zu kalt für Frauenkörper ist. Auf die Sitztiefe des klassischen Bürostuhls, die nach der durchschnittlichen Körpergröße des männlich gelesenen Menschens berechnet wurde. Deutschlands Durchschnitt ist patriarchal. Und das, obwohl hier durchschnittlich mehr weiblich gelesene Personen aufwachsen.  Zudem ist dieser Durchschnitt weiß, nichtbehindert und schlank. Im Gespräch mit Endler über den Begriff Normalität und Durchschnittswerte sagt sie: »Das ist höchst problematisch, zumal die Datengrundlage für dieses ‚normal‘ noch nicht einmal dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung entspricht, sondern einem nicht disable-bodied, weißen cis Mann.« Seine Körpermaße folgen dabei weiterhin dem als normal definierten Bereich des westeuropäischen Soldaten aus Quetelets Body-Maß-Index, auch »Quetelet-Index« genannt.

Ist also gesellschaftlich anerkanntes Normalsein ein Privileg? Noch mal Endler: »Wenn ›Normalfühlen‹ die Abwesenheit von Diskriminierungserfahrungen ist, dann ist das absolut ein Privileg. Die, deren Identität nie von der Mehrheitsgesellschaft infrage gestellt wurde, sondern immer als normal galten, entlarven sich übrigens im Moment auch sehr häufig darüber, anderen Menschen ‚Identitätspolitik‘ zu unterstellen. Es gibt die ›normale, neutrale Politik‹ und die ›Identitätspolitik‹. Das Problem, auf das sie hier hinweist, zieht sich durch jede Seite ihres Buches. Und durch die gesellschaftlich historischen Datengrundlagen, die nie neutral waren. Denn, wie sie im Gespräch zusammenfasst: »Daten sind eben nicht neutral, genauso wenig, wie ›normal‹ neutral ist.«

Dieser Artikel ist thematisch an die Produktion Die Nase der Bayerischen Staatsoper angelehnt. 

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