Taking Off. Henry My Neighbor

Text von Mariken Wessels
Kunst von Mariken Wessels

Lesedauer: 2 Min.

Der Dreh- und Angelpunkt von »Taking Off. Henry My Neighbor« ist Marthas Aufbruch. Der Augenblick, in dem sie tausende von Nacktfotos hinauswirft und das Haus verlässt, das sie so viele Jahre gemeinsam mit ihrem Ehemann Henry bewohnt hat. 
Der Hobbykünstler Henry fotografierte seine Frau und Muse in den unterschiedlichsten Stadien des Entkleidens und häufte so mehr als fünftausendfünfhundert Fotos an, die er sorgfältig katalogisierte, beschriftete, verzeichnete und verschlagwortete. Die Bilder sind Zeugnisse eines Ohnmachtsgefühls und der Sprachlosigkeit, die sich zwischen zwei Menschen ausbreiten können. Und sie sind Zeugnisse einer Obsession. In Martha­ entwickelte sich der Drang, aus dem Kreislauf dieses endlosen Entkleidens und Nacktposierens auszubrechen. Sie muss das Bewusstsein von den Vorgängen, in die sie verstrickt war, zuvor ausgeblendet haben. Als sie Henrys­­ Studio entdeckte, fand sie den Mut, die Bilder von der Wand zu reißen und sie zu veröffentlichen – jenseits aller Scham. Mit dieser finalen Befreiung entschied sie sich gegen das Verstecken, ungeachtet dessen, was andere denken könnten. Sie stand nun über den Dingen. Wie Martha maskieren auch wir oft unsere Scham- und Schuldgefühle, solange bis sie unerträglich werden. Wie andere Opfer auch, entschied Martha sich für die Wahrheit. Und Henry verschwand in die Wälder im Nordwesten New Jerseys und wurde nie wieder gesehen.

 

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