WENIGER ARBEITEN, MEHR LEBEN

Text von Kathrin Werner

Lesedauer: ca. 7 Min.

Wenn man Menschen fragt, wie viel sie arbeiten wollen, antworten sehr viele von ihnen: weniger. Weniger als jetzt. Weniger als Vollzeit. Oder als das, was heute Vollzeit bedeutet. Es ist ein globales Phänomen – nicht angestoßen, aber befeuert durch die Pandemie. Arbeit ist nicht mehr alles, Arbeit ist ein Teil des Lebens. Und nicht der wichtigste. Eine ausführliche Auswertung mehrerer Studien hat gerade ergeben: Wenn Menschen weniger arbeiten, steigt ihre Lebenszufriedenheit.

Ob Handwerker oder Digitalagentur, Schneiderei oder Bäcker, Arztpraxis, Hotel oder Maschinenbauer – überall probieren Arbeitgeber die Vier-Tage-Woche aus. Und das nicht nur in Deutschland. Gerade startet ein Experiment für das neue Arbeitszeitmodell in Südafrika und Botswana, neunundzwanzig Unternehmen machen mit. Und vor Kurzem ging der bislang größte internationale Feldversuch zur Vier-Tage-Woche zu Ende, organisiert von der Aktionsplattform »4 Day Week Global«. Für das Experiment reduzierten dreiunddreißig Unternehmen mit Beschäftigten in Irland, den USA und vier weiteren Ländern das Arbeitspensum ihrer Mitarbeiter:innen sechs Monate lang auf vier Tage beziehungsweise zweiunddreißig Stunden pro Woche. Ergebnis: Die Produktivität der einzelnen Arbeitnehmer:innen stieg, die teilnehmenden Unternehmen meldeten höhere Umsätze. Die meisten Menschen waren zufriedener. Und für die Umwelt sei es auch besser, wenn zum Beispiel Maschinen nur an weniger Tagen hochgefahren werden müssen. Ernsthafte Nachteile fand keines der Unternehmen.

Warum also noch so viel arbeiten? Wie viel Arbeit ist die richtige Menge Arbeit? Für den einzelnen, für die Familien, für die Gesellschaft? Und natürlich auch: für die Wirtschaft?

An der Arbeitszeit herumzudoktern ist keine ganz neue Idee. Bis 1926 dauerte die Standard-Arbeitswoche in den USA sechs Tage – bis der mächtige Automanager Henry Ford erkannte, dass zufriedene Mitarbeiter weniger arbeiten sollten und dafür besser. Er reduzierte die Arbeitszeit auf fünf Tage. In Deutschland arbeitete man selbst nach dem Zweiten Weltkrieg oft achtundvierzig Stunden oder mehr pro Woche. Dann gewannen die Gewerkschaften an Macht, verhandelten erste Tarifverträge. 1956 starteten sie die große Kampagne: »Samstags gehört Vati mir!« Ihr Ziel: die Vierzig-Stunden-Woche. Heute arbeiten die Menschen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt im Schnitt vierunddreißig Komma sieben Stunden pro Woche. Wer Vollzeit arbeitet, kommt durchschnittlich noch immer auf vierzigeinhalb Stunden. 

Es hat sich also lange nicht viel getan. Fünf Tage. Vierzig Stunden. So arbeiten Menschen in Deutschland seit Generationen. Aber ist das richtig?

Würde man John Maynard Keynes diese Zahlen nennen – er wäre erstaunt. Der technische Fortschritt, prophezeite der britische Ökonom in seinem Essay »Ökonomische Möglichkeiten unserer Enkelkinder« aus dem Jahr 1930, werde zu großem Wohlstand führen und die Wirtschaftsleistung pro Arbeitsstunde rasant wachsen. Dieser Wohlstand werde dazu führen, dass Arbeit fast unnötig wird. Fünfzehn Wochenstunden würden seine Enkelkinder einmal arbeiten, maximal, schrieb Keynes. »So wird der Mensch zum ersten Mal seit seiner Erschaffung mit seinem wirklichen Problem konfrontiert.« Das wahre Problem des Menschen sei, o Überraschung: »Wie er seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen nutzen kann, wie er die Muße nutzen kann, um weise, angenehm und gut zu leben.«

Weise und angenehm – tja. Angekommen ist die Welt da noch nicht. Mehr als siebenhundertfünfundvierzigtausend Menschen sterben weltweit pro Jahr, weil sie nach jahrelanger Überarbeitung Herzkrankheiten oder Schlaganfälle bekommen, die Zahlen steigen seit Jahren rasant, hat die Weltgesundheitsorganisation WHO berechnet. In Japan gibt es sogar einen Begriff für den Tod durch Überarbeitung: karōshi. Und auch wer sich nicht in den Tod arbeitet, ist im Stress. Ihre Arbeit sei in der regulären Arbeitszeit einfach »nicht zu schaffen«, sagten kürzlich fast achtzig Prozent der Beschäftigten in einer Befragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Arbeitsverdichtung trifft fast jeden, ob Banker, Pflegekraft, IT-Expertin oder Lieferdienstfahrer. 

 

 

Für sehr viele Menschen stellt sich die Frage gar nicht, warum sie arbeiten und warum sie so viel arbeiten. Sie müssen. Sie brauchen das Geld für die Miete, den Wocheneinkauf oder die neuen Winterjacken für die Kinder. Und in den meisten Jobs ist es so: Wer mehr verdienen will, muss auch mehr arbeiten. Das gilt für die Kellnerin, die Extraschichten einlegt, genauso wie für den Manager, der mit jeder neuen Hierarchiestufe mehr Freizeit aufgeben muss. Wobei es natürlich Unterschiede gibt. Wer Karriere macht, wer sich weiterbildet, kann mehr Lohn verlangen. Auf Geld zu verzichten, kann nur wählen, wer nicht jeden Euro braucht, um die Familie zu ernähren. Wer für seine Arbeit dagegen nur den Mindestlohn bekommt und froh ist, überhaupt einen Job zu haben, hat keinen Verhandlungsspielraum beim Gehalt und keine Alternative, als mehr zu arbeiten, um mehr zu verdienen. Ökonomen nennen das »inverse Angebotsfunktion«: Der Preis der Arbeit steht fest, also muss man mehr davon anbieten und sich selbst ausbeuten.

Allerdings gibt es Hoffnung, denn der Arbeitsmarkt hat sich gedreht vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt. Es fehlen längst nicht nur Fachkräfte wie Informatiker, sondern auch Menschen, die einfache Arbeiten erledigen: Lieferdienstfahrer, Security-Kräfte, Kellner. Weil es in der Gesellschaft mehr Alte als Junge gibt und viele in Rente gehen, werden noch mehr Arbeitskräfte fehlen. Mehr und mehr ermächtigt das selbst Geringverdienende, höhere Löhne zu verlangen. Die Wirtschaft steht am Anfang einer großen Umwälzung. Wie lang die auf sich warten lässt, hat Keynes unterschätzt. Ebenso, wie ungleich sich der Wohlstand verteilen würde. Echter Wohlstand ist mit ehrlichen Gehältern kaum noch erreichbar, ein Eigenheim etwa kann sich ohne Erbschaft kaum noch jemand leisten. Reicher werden vor allem diejenigen, die so viel Vermögen haben, dass sie eigentlich gar nicht mehr arbeiten müssten.

Diejenigen, die arbeiten müssen, müssen abwägen: Verzichten sie auf materiellen Luxus oder verzichten sie auf freie Zeit, die ebenfalls ein Luxus ist? In einem Land wie Deutschland, in dem Faulheit als Sünde gilt, muss Muße anerkannt, ja zum Statussymbol werden: Zeit für ein erfülltes Familienleben, für Ehrenämter, für die Kunst, zum »dolce far niente«. Der Wandel dahin hat bereits begonnen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung arbeiten fünfzig Prozent der männlichen und einundvierzig Prozent der weiblichen Beschäftigten in Deutschland mehr, als sie gern würden. Männer arbeiten im Schnitt einundvierzig Stunden in der Woche und wünschen sich siebenunddreißig Stunden. Frauen arbeiten durchschnittlich zweiunddreißig Stunden und wünschen sich dreißig. Beide Gruppen würden dafür auf Lohn verzichten.

Der schwedische Philosoph Martin Hägglund, vom Marxismus inspiriert, wagt die ganz große These: Wenn sich die meisten Menschen davon verabschieden, an die Unendlichkeit des Lebens zu glauben und die Tatsache des eigenen Tods akzeptieren, müssen sie sich die Macht über ihre eigenen Zeit zurückholen, die ihnen der Kapitalismus abgenommen hat. Die Arbeit habe uns im Kapitalismus von der eigenen Sterblichkeit abgelenkt. Einige Jahre älter als sein viel beachtetes Buch »This Life« ist die ursprünglich aus Frankreich stammende Décroissance-Bewegung, die eine Abkehr von der Wachstumsgesellschaft fordert, auch um aus dem Hamsterrad der Erwerbsarbeit auszubrechen. Ihnen gemein ist der Gedanke, dass die Erschöpfung des einzelnen und die Klimakatastrophe zusammenhängen und der Kapitalismus der Schuldige ist. Muss die Wirtschaft wachsen, um Wohlstand zu schaffen? Ist ein gutes Leben für den arbeitenden Menschen möglich, solange die Wirtschaft Wachstum über alles stellt?

Keynes glaubte an das Umgekehrte: Dass nur Wachstum uns befreit, weil der technische Fortschritt Arbeit weitgehend überflüssig macht. Beiden Theorien steht aber etwas entgegen: Es gibt viele Menschen, die einfach gern arbeiten – nicht nur zum Geldverdienen. In der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, auf die Keynes in seiner Forschung zurückblickte, arbeiteten Fabrikarbeiter:innen oft zwölf bis vierzehn Stunden pro Tag. Dass sie ihre Arbeit liebten, erwartete niemand. Heute dagegen soll Arbeit sogar Erfüllung bringen, Lebenssinn stiften. Das betrifft vor allem Menschen mit dem Privileg von Bildung und guten Arbeitsstellen. Doch selbst in Jobs, die alles andere als toll sind, sollen sich Arbeitnehmer:innen heute mit ihrer Arbeit identifizieren. Amazon etwa wirbt um Mitarbeitende in den Lagerzentren mit dem Slogan »Want a Job Delivering Smiles?« – willst du einen Job, bei dem du ein Lächeln verschickst?, wobei es recht klar sein dürfte, dass sich Menschen dort nicht bewerben, weil sie so sehr dafür brennen, Pakete zu verschicken. Liebe zur Arbeit macht es schwer, Grenzen zu setzen. Irgendwie sind die Menschen dann selbst schuld an der eigenen Überlastung, weil sie nicht oft genug Nein sagen, wenn interessante Aufgaben an sie herangetragen werden. Es profitiert: der Arbeitgeber. Es sinkt: die Zufriedenheit der Arbeitnehmer:innen. 

Doch es tut sich etwas. Und es muss sich daran etwas tun, denn es wird sich an der allgemeinen Arbeitsbelastung nur etwas ändern, wenn die Allgemeinheit sich überhaupt bewusst macht, wie sehr sie Arbeit als Lebensmittelpunkt verinnerlicht hat – egal ob man nun glaubt, dass es mehr oder weniger Wachstum braucht. Vor allem junge Menschen reden davon, nicht mehr für die Arbeit zu leben, sondern fürs Leben zu arbeiten: keine Überstunden, keine freiwilligen Zusatzaufgaben, im Beruf nur das Minimum leisten, um den Job nicht zu verlieren. Stichwort: Quiet Quitting. Und Arbeitgeber stellen fest, dass sie in Zeiten des Fachkräftemangels so ziemlich alles tun müssen, was Arbeitnehmer:innen wollen – um sie zu motivieren und um sie anzulocken. Sie kommen ihnen also entgegen, zum Beispiel mit der Vier-Tage-Woche, und machen das Ziel, weniger zu arbeiten, zu ihrem eigenen. Dabei merken sie überrascht, dass es funktioniert. Es dauerte einige Jahrzehnte, aber die Gesellschaft war Keynes’ Fünfzehn-Stunden-Woche noch nie so nahe wie heute. Und damit auch dem Ziel, »weise, angenehm und gut zu leben«. 

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