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Foto: Michael Northrup

Wenn die Welt sich fremd anfühlt

Text von Birke Opitz-Kittel
Fotos von Michael Northrup, Birke Opitz-Kittel

Lesedauer: 9 Min.

Normal – das waren für Birke Opitz-Kittel immer die anderen. Nicht sie. Erst als sie bereits fünf Kinder hat, erfährt sie, was mit ihr los ist: Sie ist Autistin. Die Diagnose änderte ihr Leben. Sie verstand nun besser, warum ihr so vieles seltsam vorkam. Doch die unausgesprochenen Regeln, die den gesellschaftlichen Alltag beherrschen, sind für sie weiterhin wie eine Fremdsprache. Wie fühlt sich Anderssein an? Und wo verlaufen die Grenzen der Normalität? Versuch einer Annäherung.

Meine erste Erinnerung: Ich halte die Hand meiner Mutter. Ich bin zwei Jahre alt und wir stehen vor der Haustüre meines Elternhauses. Sie klingelt und die Türe öffnet sich. Sie schiebt mich hinein und übergibt mich meinem Vater, dreht sich um und verschwindet: In diesem Moment endet die Normalität meiner äußeren Umwelt für immer.

Als ich später in den Kindergarten kam, bemerkte ich, dass meine innere Welt irgendwie anders sein musste, als die der anderen Kinder. Meine Diagnose, die mein Leben grundlegend verändern sollte, hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die erhielt ich erst mit siebenunddreißig Jahren, als ich selbst schon Mutter von fünf Kindern war. Damals hatte ich noch keine Worte für dieses Gefühl, außen vor zu sein. Heute weiß ich den Grund für das, was mich von den anderen unterscheidet: Ich bin Autistin.

 

Schon damals war es so, dass sie mir fremd vorkamen, und erst später begriff ich, dass ich es bin, die anscheinend nicht normal ist. 


Die Diskrepanz zwischen mir und meinen Mitmenschen rückte auch ohne Diagnose als Kind sofort in meinen Fokus. Damit begann mein allerliebstes Spezialinteresse: Menschen beobachten. Schon damals war es so, dass sie mir fremd vorkamen, und erst später begriff ich, dass ich es bin, die anscheinend nicht normal ist. Zumindest nach den Maßstäben, die ich mir lange Zeit selbst anlegte. Die anderen Kinder spielten miteinander, neckten sich und hatten augenscheinlich Freude aneinander. Ich selbst saß beispielsweise allein im Sandkasten und erfreute mich am Sand, der durch meine Finger rieselte. Trotzdem nagte schon damals ein Gefühl an mir: Ich wäre gerne ein Teil der Gruppe gewesen. Jemand, mit dem man gerne zusammen ist. Jemand, den man nicht irgendwie komisch findet. Aber ich wusste nicht, wie das geht. Welche mysteriöse Fähigkeit fehlte mir? Was machte ich falsch? Es gab Dinge, die ich grundlegend nicht verstand – und die mir auch heute noch Kopfzerbrechen bereiten.

Foto: NDR/Uwe Ernst

Wie kam es, dass sie sich ohne Worte verstanden? Was bedeuteten die Blicke, die sie untereinander austauschten? Noch heute schaue ich nicht gerne in fremde Augen. Augen sind mir zu intensiv. Außerdem fällt es mir schwer, mich dann auf den Inhalt eines Gesprächs zu konzentrieren. Augen lenken ab, immerzu sind sie in Bewegung. Trotzdem wird damit kommuniziert und Blickkontakt scheint in der Welt der Nichtautist:innen eine wichtige Rolle zu spielen. Daneben gab es noch weitere Erfahrungen, die ich schon im Kindergarten machte, die mich erschütterten und meine Umwelt unberechenbar machten. Ich erinnere mich an eine Situation, in der Kinder mein Kuscheltier versteckt hatten, und zwar so gut, dass auch die Erzieher:innen es nicht mehr fanden.  Sie erzählten mir, der Mond hätte es mit sich genommen. Das verwirrte mich sehr, aber ich sagte nichts, weil ich schon damals zu akzeptieren versuchte, dass die Welt unkalkulierbar ist.

Noch heute beschäftigt es mich, wie normal es ist, den Menschen »weiße Lügen« zu erzählen. Das sind Lügen, die erzählt werden, um das Gegenüber nicht mit der Wahrheit konfrontieren zu müssen. Das können beispielsweise nicht ernst gemeinte Komplimente sein, aber auch die Antwort auf die Frage, wie es einem geht. Die Allgegenwärtigkeit von »weißen Lügen« hat für mich die Konsequenz, dass ich nie weiß, ob jemand ehrlich zu mir ist. Ich bevorzuge es, die Wahrheit zu sagen. Mehr als einmal habe ich die Erfahrung machen müssen, dass dies nicht erwünscht oder sogar verletzend ist. So habe ich mir mit der Zeit durch die Beobachtung der Menschen ein Verhalten angeeignet, welches für sie normal ist, aber für mich nur ein Kopieren darstellt, nicht wirklich internalisiert ist. Aber das Leben zu kopieren ist wie ein nicht echtes Leben zu führen. Wenn mich Menschen nur mögen, weil ich so tue, als sei ich so wie sie, macht das etwas mit mir. Einerseits komme ich mir damit selbst wie eine Betrügerin vor. Andererseits stimmt es mich zutiefst traurig. Möchte nicht jeder Mensch für das geliebt werden, was und wie er ist? Einmal erzählte ich einem autistischen Freund von meinen Überlegungen und dem Gefühl, immer schauspielern zu müssen. Er überlegte kurz und antwortete dann: »Nichtautistische Menschen schauspielern auch. Sie wissen es nur nicht!«

Deswegen fühlte ich mich schon immer zu Menschen hingezogen, die auch irgendwie nicht normal waren. Sei es, weil sie aus Randgruppen wie beispielsweise den Andersdenkenden kommen, oder selbst eine körperliche oder psychische Beeinträchtigung haben, die die Gesellschaft als »anders« einstuft. So fiel mir bei einigen Menschen mit Migrationsgeschichte auf, dass sie möglicherweise die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschen, aber deshalb zu meinem Vorteil auch tendenziell weniger Sprichwörter oder Redewendungen nutzen, die bei mir für gewöhnlich zu Ratlosigkeit führen.

 
Birke Opitz-Kittel und ihre Familie
Birke Opitz-Kittel und ihre Familie
Birke Opitz-Kittel und ihre Tochter
Birke Opitz-Kittel und ihre Tochter
Birke Opitz-Kittel und ihr Mann
Birke Opitz-Kittel und ihr Mann

Was bedeutet: »Ich verstehe nur Bahnhof?« oder »Jemandem einen Bären aufbinden?« Erst nach und nach kam ich dahinter, dass es Sprichwörter gibt, und ich lernte ihre Bedeutung auswendig und nutze sie inzwischen selbst. Ich fand die Andersartigkeit dieser Menschen jedoch weiterhin interessant und ebenso, wie sie damit umgingen. Das ist bis heute so geblieben. Außerdem geben sie mir immer wieder neue Denkanstöße und ich liebe es, mir über anregende Ideen Gedanken zu machen. In der Schulzeit setzte sich dieses Anderssein fort. Weder verstand ich die anderen Kinder noch sie mich, aber sie waren in der Überzahl und mir wurde immer deutlicher, dass ich eine Außenseiterin war. In den Pausen riefen sie mir unschöne Dinge hinterher und auch sonst merkte ich deutlich, dass sie mich nicht mochten. Das bekam ich beispielsweise im Sportunterricht zu spüren, wenn ich immer die Letzte war, die in ein Team gewählt wurde. Zu Hause gab es keinerlei Rückhalt, im Gegenteil. Mein Vater hatte nach dem Weggang meiner Mutter schnell wieder geheiratet und meine Stiefmutter und er machten mir deutlich, wie lästig und unerwünscht ich war. Im Grunde setzte sich dieses Gefühl lange Zeit durch, tatsächlich wäre ich fast daran zerbrochen.

Als Schülerin retteten mich damals meine Bücher. Noch immer liebe ich es, wenn sich die Geschichten in meinem Kopf entfalten. In meiner Kindheit war dies eine anerkannte Möglichkeit, um meiner gefühlten Wahrheit – mich liebt niemand – zu entfliehen. In den Erzählungen lernte ich Protagonist:innen kennen, denen es ähnlich ging, und ich achtete besonders auf deren Weg und wie sie aus ihrer oft ausweglosen Situation herauskamen. Meinen eigenen Ausweg fand ich hingegen damals noch nicht. Als junge Frau – und manchmal bin ich es noch heute – war ich unglaublich naiv. Ich glaubte alles, was man mir erzählte, kam gar nicht auf die Idee, dass man mich anlügen könnte, und natürlich geriet ich dadurch auch an Männer, die mir nicht guttaten. Letztendlich schaffte ich es zwar immer, mich wieder zu trennen, aber das hatte Konsequenzen für mich. Es gab eine Zeit, in der ich nicht mehr weiterwusste, mir so anders, so fremd und alleine vorkam und keine Lösung mehr sah. Ich wollte mir das Leben nehmen. Doch ich hatte Glück. Überlebte.  Damals schaffte ich es nur weiterzuleben mit dem Wissen, dass ich dieses Leben jederzeit beenden kann.

»Pretend to be normal« war für mich über Jahrzehnte meine alles ausfüllende Aufgabe, wenn auch unbewusst. Ich wusste nicht, was tatsächlich an mir nicht stimmt, aber ich fühlte doch mit jeder Faser meines Wesens, wie essenziell es ist, dass es niemand bemerkt.

Inzwischen ist dieses Wissen nicht mehr lebensnotwendig, denn ich habe einen wunderbaren Mann und meine fünf Kinder. Dass fünf Kinder zu haben auch nicht normal ist, habe ich mehrmals erfahren dürfen. Einmal kaufte ich in einem Supermarkt eine große Menge Eis und der Verkäufer fragte mich, wer denn das alles essen würde. Als ich meine fünf Kinder erwähnte, starrte er mich ungläubig mit offenem Mund an und ich tat etwas, was ich sehr selten tue, denn in der Regel bin ich eher ruhig und freundlich. Ich starrte zurück und sagte: »Was glauben Sie denn, wie man mit fünf Kindern aussieht? Mit fettigen Haaren und Fluppe im Mund?« Der Verkäufer sagte nichts mehr und ich drehte mich um und ging.

»Pretend to be normal« war für mich über Jahrzehnte meine alles ausfüllende Aufgabe, wenn auch unbewusst. Ich wusste nicht, was tatsächlich an mir nicht stimmt, aber ich fühlte doch mit jeder Faser meines Wesens, wie essenziell es ist, dass es niemand bemerkt. Meinen Kindern eine gute Mutter zu sein, war für mich natürlich auch ein wichtiger Punkt. Niemand sollte auch nur erahnen, dass etwas nicht stimmte. Auf keinen Fall sollten meine Kinder jemals unter meinem Anderssein leiden.

Doch irgendwann geschah, was kommen musste: Ich brach zusammen. Kurz zuvor hatte ich das Abitur nachgeholt und ein Jurastudium begonnen, als mein Mann an Multipler Sklerose erkrankte und es absehbar war, dass er nicht mehr lange der »Ernährer« sein könnte. Auf einmal ging nichts mehr: kein Händeschütteln, kein Aus-dem-Haus-gehen, kein einziges Lächeln mehr. Erst am Tiefpunkt, als keine Kapazität für das Vortäuschen von Normalität mehr da war, konnte ich meine Maske fallen lassen und bekam die Diagnose Autismus. Einerseits war da eine große Erleichterung, denn endlich gab es eine Erklärung für all das, was ich mein Leben lang nicht verstanden habe. Andererseits wurde mir auch klar: Autismus ist nicht heilbar. Ich werde lebenslang damit umgehen müssen, anders zu sein. Trotzdem ist dieses »anders« im Wandel. Nach und nach änderte sich meine Einstellung dazu.

Asperger-Autistin und Mutter: Birke Opitz-Kittel und Tochter Miriam | NDR Talk Show | NDR

Es gibt zum Beispiel eine Diskrepanz, die mir auch heute noch zu schaffen macht und die ich lieber nicht hätte, weil sie mich von den meisten Nichtautist:innen unterscheidet. Ich tue mich schwer, den Witz bei Cartoons herauszulesen. Dabei komme ich mir auf der einen Seite richtig dumm vor. Auf der anderen Seite weiß ich, dass ich es nicht bin. Schließlich haben inzwischen Tests ergeben, dass ich hochbegabt bin. Wenn ich früher oft dachte, »Wäre ich doch einfach nur normal«, habe ich mittlerweile erkannt, dass meine Schwäche »Witze nicht erkennen« sogar etwas Charmantes haben kann. Wenn ich heute einen Cartoon entdecke, den ich nicht verstehe, verzweifle ich nicht, sondern gehe offensiv damit zu meinem Mann. Es ist schon zu einem Ritual zwischen uns geworden und wenn ich ihm wieder mal einen Cartoon hinhalte, schmunzelt er schon. Wir beide wissen, was passiert: Er schaut den Cartoon an, durchschaut ihn sofort und lacht schallend und dann gleich noch mal, wenn er mein verständnisloses Gesicht sieht. Wenn ich ihm dann noch erzähle, welche Überlegungen ich mir dazu gemacht habe, die so weit weg von der Intention des Cartoons sind, hält er sich schon vor Lachen den Bauch. Wir beide lieben solche Situationen inzwischen.

Dies zeigt mir, dass sich meine Einstellung zur mir selbst und meiner »Unnormalität« ins Positive ändern kann. Überhaupt meinte der griechische Philosoph Heraklit schon vor zweieinhalbtausend Jahren, dass die einzige Konstante im Universum die Veränderung sei. So gibt es immer Hoffnung, dass sich auch die Einstellung der Menschen zur heutigen Normalität verändert und dass das Anderssein in diese integriert wird.

Dieser Artikel ist thematisch an die Produktion Die Nase der Bayerischen Staatsoper angelehnt. 

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