Jungfrau, Lolita und Erlöserin

Von Esthy Rüdiger und Janique Weder

Lesedauer: 10 min. 

Sie wurde angehimmelt, sie fiel, schließlich erstand sie wiederauf: Vom Weltstar wurde Britney Spears erst zur Witzfigur, dann zur feministischen Ikone. Was ist passiert? Eine Reise durch zwei Jahrzehnte Pop- und Zeitgeschichte.

Wie so oft in der Geschichte von Britney Spears ist der Protagonist selbst am Tag ihrer Befreiung ein Mann. Im Nadelstreifenanzug und mit Hornbrille tritt am 12. November 2021 Mathew Rosengart aus dem Los Angeles Superior Court vor ein Dutzend Mikrofone. »Richterin Penny hat heute entschieden, die Vormundschaft von Britney Spears mit sofortiger Wirkung zu beenden.« Vor dem Gerichtsgebäude bricht lauter Jubel aus. Rosa Konfetti fliegt durch die Luft, Menschen in pinkfarbenen T-Shirts und mit #FreeBritney-Transparenten fallen sich in die Arme. Ein paar Stunden später steigt im Queer-Klub »Heaven« in Zürich eine Siegesfeier. Es ist eng und stickig. In der Mitte des Raumes tanzt eine Frau, grünes Oberteil, Glitzershorts, Bauchnabelpiercing. Victoria Shakespears, so nennt sie sich, singt Playback zu einem Lied, das man nicht unbedingt als Siegeshymne verstehen würde: Britney Spears’ Hit »I’m a Slave 4 U«, ich bin eine Sklavin für dich.

Victoria Shakespears heißt eigentlich Vitor Souza. Er ist 27 Jahre alt, seit zwei Jahren tanzt er als Dragqueen. Sein zweites Leben gehört Britney Spears. Er kennt jeden Song, jeden Auftritt der Sängerin: Victoria Shakespears ist ein Britney-Double. Er habe sich immer schon anders gefühlt als die anderen, erzählt Souza, während er vor dem Spiegel in der Toilette des Klubs steht und die Perücke mit einer Nadel befestigt. Als Teenager von Brasilien in die Schweiz gezogen, schloss sich Souza oft im Zimmer ein. »Ich hatte keine Freunde, und meine Eltern waren kaum zu Hause.« Dann hörte Souza Britney Spears – und wurde zum Fan. Nicht nur wegen der Musik. Spears sei »non-judgmental«, nicht urteilend. »Sie war der Engel, der mich aus meinem Loch holte.« Britney Spears hat Vitor Souza befreit. Jetzt, an diesem Abend in Zürich, fühlt es sich an, als hätte Spears etwas zurückerhalten: Sie wurde befreit. Dank Shakespears und Hunderttausenden anderen Fans, die zusammen die #FreeBritney-Bewegung bilden und den Sieg vor Gericht nun auf Partys in Zürich, Tel Aviv und Hollywood feiern.

Britney Spears war um die Jahrtausendwende der größte Popstar der Welt. Dann kollabierte sie vor den Augen der Öffentlichkeit, wurde entmündigt und stand fast vierzehn Jahre lang unter der Vormundschaft ihres Vaters. Lange interessierte das niemanden außerhalb der Fanszene. Doch dann veränderte sich etwas. 2019 begann #FreeBritney zu wachsen. Aus einem Hashtag wurde eine Bewegung, die sich lautstark für die Befreiung der Sängerin aus ihrer Vormundschaft einsetzte. Das konnten selbst renommierte Medien nicht mehr ignorieren. Die New York Times, BBC und Netflix veröffentlichten Dokumentationen über den Fall. Plötzlich war Britney Spears wieder allgegenwärtig. Sie, die einst als Schulmädchen verkleidet »Hit Me Baby One More Time« gesungen hatte, wird zur feministischen Ikone einer Selbstbestimmungsbewegung gemacht. Wie ist das passiert? Und welche Rolle spielte die #FreeBritney-Bewegung dabei wirklich?

Um das zu verstehen, muss man einige Pop-Epochen und mediale Eskalationsstufen zurückblicken.

Die Geschichte von Spears ist nicht nur die einer Wiederauferstehung. In Spears’ Aufstieg, Fall und ihrer schließlichen Befreiung spiegelt sich auch ein gesellschaftlicher Wandel der letzten dreißig Jahre, in dem Frauen von Objekten zu Subjekten geworden sind.

Und zugleich, und das ist die Tragik von Britney Spears’ Geschichte, bleibt unklar, ob ihre Befreiung sie auch erlösen wird.

Britney Spears, das ist zunächst einmal die Geschichte eines talentierten Kleinstadtmädchens aus dem amerikanischen Süden, das es hinausschafft in die große Welt. Spears, geboren am 2. Dezember 1981, wächst in Kentwood, Louisiana, im Herzen des sogenannten Bibelgürtels auf. Von klein auf nimmt sie Tanz- und Gesangsunterricht, ihre Eltern fahren mit ihr zu Castings im ganzen Land. Dann, im Alter von elf Jahren, ergattert sie ihre erste große Rolle: In der Disney-Fernsehshow »Mickey Mouse Club« singt sie an der Seite von Ryan Gosling, Justin Timberlake und Christina Aguilera. 1998, Britney Spears ist sechzehn Jahre alt, folgt der erste Plattenvertrag, kurz darauf die Debütsingle »Baby One More Time«. Der Song wird in mehr als vierzig Ländern ein Nummer-eins-Hit und macht aus Spears einen Weltstar.

Im deutschsprachigen Raum verfolgt kaum jemand den Aufstieg von Britney Spears näher als Alex Gernandt. Gernandt ist damals Chefreporter für die Zeitschrift Bravo und damit so etwas wie der Starmacher für die deutsche Jugend. »Sie und zwei Tänzer in einem Münchner Fotostudio« – Gernandt beschreibt Spears’ ersten Auftritt auf deutschem Boden relativ unspektakulär. Die Plattenfirma habe sie schlicht als »Teeniesängerin aus den USA« angekündigt. Aber Gernandt, der Madonna interviewt und Michael Jackson auf Tournee begleitet hat, sagt über Spears: »So etwas wie sie hat es damals noch nicht gegeben. Sie war eine neue Art von Popstar.«

Spears’ Durchbruch in den späten 1990er Jahren geschieht zu einer Zeit, als die Musikindustrie auf die Vermarktung von Boybands setzt. Zielgruppe sind junge Mädchen, die davon träumen, eines Tages einen Freund wie Nick Carter von den Backstreet Boys zu haben. Doch dann kommt Britney. Statt eines Jungen, den man begehren kann, ist da eine junge Frau, die alles ist, was zwölf- bis fünfzehnjährige Mädchen sein wollen: selbstbewusst, frech, etwas sexy, aber ohne zu sehr anzuecken. Alex Gernandt sagt: »Britney war ein Rolemodel. Wie lebt sie? Welchen Freund hat sie? Das waren Fragen, mit denen konnten sich alle Mädchen identifizieren.« Sechsundfünfzig Mal nimmt die Bravo Spears auf die Titelseite, das gelang nicht einmal den Beatles. Einmal fliegt Gernandt nach Los Angeles, einfach um Spears einen Preis zu überreichen, den die Leser ihr verliehen haben.

Die Marke Britney Spears ist von Anfang an ein Widerspruch. Einerseits verkörpert sie das All-American Girl: blond, schlank, weiß, immer lächelnd und immer freundlich. Selbst als sie an einer Medienkonferenz in einem Raum voller Journalisten gefragt wird, ob sie noch Jungfrau sei, bleibt Spears in ihrer Rolle und erklärt, mit dem Sex bis zur Ehe warten zu wollen. Anderseits ist da ihr lolitahafter Auftritt. Sie tanzt in Musikvideos in kurzen Röcken und bauchfreien Oberteilen. Als sie siebzehn Jahre alt ist, posiert sie für den Rolling Stone in Unterwäsche in einem Puppenzimmer. 1999 wird Spears’ Beziehung zu Justin Timberlake bekannt. Die beiden kennen sich vom »Mickey Mouse Club«, nun tingeln sie in tadellos aufeinander abgestimmten Jeans-Outfits über die roten Teppiche der Welt. Die Beziehung wird zum modernen Märchen stilisiert, Fans und Boulevardpresse lieben das Paar: sie, das keusche Sexsymbol, und er, der Boyband-Mädchenschwarm.

Noch bevor Britney Spears zwanzig Jahre alt wird, hat sie alles erreicht. Sie verkauft mehr als siebenunddreißig Millionen Alben, spielt in einem Kinofilm mit und tritt am Super Bowl und mit Michael Jackson auf. Spears verkörpert den amerikanischen Traum. In eine Durchschnittsfamilie in einer Kleinstadt auf dem Land geboren, hat sie es bis ganz nach oben geschafft. Die Geschichte ist banal, weil perfekt. So perfekt, dass man schon damals daran hätte zweifeln müssen. Aber in den USA der späten 1990er Jahre zweifelt man nicht. Man berauscht sich am wirtschaftlichen Aufschwung, den der Globalisierungsschub mit sich bringt. Die New York Times schreibt von einem »fetten, tagträumenden Amerika«.

Die Liebe zwischen Britney Spears und Justin Timberlake zerbricht 2002. Es ist eine hässliche Trennung. In Interviews inszeniert sich Timberlake als Opfer und zerstört das Bild der reinen Britney. Er prahlt, Sex mit ihr gehabt zu haben, und bezeichnet ihre Jungfräulichkeit als Lüge. Später veröffentlicht er mit »Cry Me A River« einen Rachesong, in dessen Video er das Bild von Spears als eiskalter Freundin zeichnet, die ihn betrügt und ihm das Herz bricht. Timberlake tut, was erst Jahre später einen Namen erhalten sollte: Slut-Shaming. Und die Medien machen mit. Während Timberlake die Trennung nutzt, um seine Solokarriere zu lancieren, verliert Spears ihre Glaubwürdigkeit als Künstlerin. Sie veröffentlicht zwar weiter Musik, aber die Presse ist an anderem interessiert. »Wie echt ist Britneys neuer Busen?«, »Ist sie wirklich noch Jungfrau?«, »Britney kann nicht mehr« lauten die Überschriften nun auch in der Bravo, die nur wenige Jahre zuvor Spears als Pop-Prinzessin gefeiert hat. In einem 2003 ausgestrahlten Interview des amerikanischen Senders ABC fragt die Moderatorin die damals Zweiundzwanzigjährige in Anspielung auf Timberlake: »Was hast du nur getan?« Sie spricht dem empörten Publikum damit aus dem Herzen.

Der Umgang mit Britney Spears gewährt einen atmosphärischen Einblick in die späten 1990er und die frühen 2000er Jahre, als ein noch weitgehend ungebremster Sexismus die Berichterstattung bestimmt.

Tun zwei Erwachsene etwas moralisch Verwerfliches, trägt die Schuld dafür die Frau. Spears ist da kein Einzelfall.

Von ihr lassen sich Parallelen ziehen – etwa zur Hotelerbin Paris Hilton, die sich für einen Amateurporno rechtfertigen muss, den ein Exfreund gegen ihren Willen veröffentlicht hat. Und zu Monica Lewinsky, die nach der Enthüllung ihrer Affäre mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton als Schlampe und Ehezerstörerin bezeichnet wird. In allen drei Geschichten haben Journalisten die Frau mit intimen Fragen traktiert. Geglaubt haben sie dem Mann.

Britney Spears ist fortan eine andere. Adieu Lolita, Spears will nun erwachsen sein: Sie erklärt in Songs, zwar noch keine Frau zu sein, aber auch kein Mädchen mehr, singt von devoten Sexphantasien und steckt Madonna bei den MTV Video Music Awards 2003 ihre Zunge in den Hals. Das funktioniert künstlerisch und auch kommerziell, denn es ist konsequent. Spears führt das fort, was sie angefangen hat: ein Leben unter den Augen der Öffentlichkeit. Und so wie ihre Fans als Kinder zuvor bewunderten, wie Spears zugleich frech und unschuldig blieb, identifizieren sie sich als Teenager nun mit ihrer Rebellion.

Privat wird Spears’ Emanzipation zur Überforderung. Sie holt nach, was ihr lange verwehrt blieb, und stürzt sich ins Nachtleben von Los Angeles. Paris Hilton und Lindsay Lohan begleiten sie. Die drei sind für eine Weile das angesagteste Party-Trio Hollywoods, gleichermaßen berüchtigt wie belächelt und wegen angeblich exzessiven Drogenkonsums das Lieblingsthema der Boulevardpresse. Als Spears dreiundzwanzig Jahre alt ist, heiratet sie nach einer durchzechten Nacht in Las Vegas ihren Jugendfreund Jason Alexander. Die Ehe wird nach fünfundfünzig Stunden annulliert. Noch im selben Jahr heiratet sie erneut, dieses Mal den Tänzer Kevin Federline. Mit ihm bekommt sie innerhalb von zwölf Monaten zwei Kinder; kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes trennen sich die beiden. Es folgen die Scheidung und ein Sorgerechtsstreit, den Spears verliert.

Die schleichende Eskalation von Britney Spears geschieht in einer Zeit, in der in den USA etwas Grundlegendes zu wanken beginnt. Der Boom der 1990er ist vorbei, die Stimmung kippt. Am Himmel explodiert eine Raumfähre, die Häuserpreise erreichen ein Allzeithoch und das Land steckt in zwei Kriegen, wobei in einem so viele amerikanische Soldaten sterben, dass die Republikaner die Zwischenwahlen im November 2006 verlieren. Noch erkennt man nicht, wofür die einzelnen Ereignisse später einmal stehen werden. Doch das Fundament, auf dem der amerikanische Traum gebaut ist, bröckelt. In zynischer Weise ist Spears’ Biographie davon Spiegelbild und Symptom zugleich.

An einem Dienstagabend im Februar 2007 fällt Spears eine der wenigen eigenmächtigen Entscheidungen ihres Lebens. Im San Fernando Valley betritt sie ein Coiffeurgeschäft, greift zum Rasierapparat und schneidet sich eine Glatze. Am selben Abend lässt sie sich mit übergezogener Kapuze in einem Tattoostudio zwei Kussmünder auf das Handgelenk stechen, während sich Dutzende von Schaulustigen und Fotografen vor dem Schaufenster drängeln. Tage später attackiert Spears das Auto eines Paparazzos mit einem Regenschirm.

Kein Absturz eines Stars wird so gnadenlos dokumentiert wie der von Britney Spears.

Fast jeden Tag gibt es neue Meldungen und vor allem Bilder: Britney Spears, wie sie weinend in einem Café sitzt; Britney Spears, wie sie mit ihrem acht Monate alten Baby auf dem Schoß Auto fährt; Britney Spears, wie sie auf dem Gehweg stolpert und beinahe ihren Sohn fallen lässt. In einer amerikanischen Quizshow werden hundert Leute gefragt, was Spears im Jahr 2007 alles verloren hat. Richtige Antworten: ihre Kinder, ihre Haare, ihren Verstand. Die Nachrichtenagentur AP lässt vorsorglich einen Nachruf auf sie schreiben.

An einem Januarabend im Jahr 2008 verschanzt sich Spears mit einem ihrer Söhne im Badezimmer ihres Hauses am Mulholland Drive. Später fahren mehr als zwanzig Polizisten vor. Sie kommen mit einem sogenannten »5150«, einer Verordnung, die laut kalifornischem Gesetz einen »unfreiwilligen psychiatrischen Gewahrsam« vorsieht. Paparazzi-Bilder zeigen, wie Spears auf einer Krankentrage aus ihrem Haus und in einen Rettungswagen geschoben wird. Danach wird sie zur Universitätsklinik UCLA gefahren und in die geschlossene Abteilung eingeliefert. Zeitgleich zu Spears’ Absturz bricht in den USA die Finanzkrise aus. Millionen von Menschen verlieren ihre Arbeit. Der American Dream vom Aufstieg aus dem Nichts, er erscheint vielen plötzlich wie ein Witz. Wie passend, dass eine Frau, die diesen Traum zu leben schien, nun die Kontrolle über das eigene Leben verliert. Wie tröstlich, dass man ihr dabei zuschauen kann. Was lenkt besser vom eigenen Scheitern ab als fremdes, noch größeres Unglück?

Bis zu diesem Zeitpunkt ist Britney Spears’ Geschichte eine klassische Celebrity-Tragödie. Eine Sängerin, die früh zum Weltstar wird, stürzt ebenso früh wieder ab. Was Spears passiert, hat man bei anderen auch schon gesehen. Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Amy Winehouse, sie alle fielen tief und starben mit siebenundzwanzig Jahren. Bei Britney Spears aber geschieht etwas anderes. Ihre Geschichte geht weiter.

Am Morgen nach dem »5150« beantragen Spears’ Eltern die vorläufige Vormundschaft für ihre Tochter. Am 8. Februar 2008 wird der Vater Jamie Spears als Vormund eingesetzt. »Probate conservatorship« nennt sich das Verfahren, unter dem die Sängerin von jetzt an steht. Es ist laut kalifornischem Recht für eine Person gedacht, die nicht fähig ist, für »ihre Bedürfnisse, ihre physische Unversehrtheit, für Nahrung, Kleidung oder Unterkunft zu sorgen«. In den meisten Fällen dient das Verfahren alten, dementen Menschen. Selten kommt es für jüngere Personen infrage, etwa wenn diese nach einem Unfall einen Gedächtnisverlust erleiden. Auch im Fall von Spears lautet die offizielle Begründung ihrer Eltern für die Vormundschaft: Demenz.

Britney Spears arbeitet trotz angeblicher Demenz weiter. Sechs Monate nach ihrer Entmündigung dreht sie mit MTV den Dokumentarfilm »For the Record«. Es ist das einzige Mal in den nächsten dreizehn Jahren, dass Spears über die Vormundschaft spricht. Sie sagt darin Sätze wie: »Wenn man ins Gefängnis geht, wird man irgendwann wieder entlassen. Aber bei mir hört es nie auf.« Auf den Film folgt ein Album, dann eine Welttournee. 2012 wird sie für ein Honorar von fünfzehn Millionen Dollar Jurorin bei der Castingshow »The X Factor«, ab 2013 tritt sie in Las Vegas mit einer eigenen Show auf, drei Auftritte pro Woche während vier Jahren. Dazwischen veröffentlicht sie zwei Studio- und ein Best-of-Album. Britney Spears ist in all den Jahren arbeitsam wie eine Biene. Doch um ihre Person ist es angenehm ruhig geworden. Bis zum Frühling 2019, als Spears abermals in eine psychiatrische Klinik eincheckt. Laut ihrem Management hat sie sich dort selbst einweisen lassen und nimmt eine Auszeit. Ihr Instagram-Kanal bleibt monatelang stumm.

Fans glauben der offiziellen Version nicht. Sie vermuten, dass die Sängerin zum Aufenthalt in der Psychiatrie gezwungen worden ist. Dann meldet sich ein anonymer Anrufer bei einem Fanpodcast. Er behauptet, ein ehemaliger Mitarbeiter einer Kanzlei zu sein, die für Spears’ Vormundschaft arbeite. Spears halte sich gegen ihren Willen in der Klinik auf, sagt er. Die Echtheit der Aussage wird nie bestätigt. Aber sie verändert alles.

#FreeBritney kursiert als Hashtag seit 2009 im Internet. Zehn Jahre später, nach dem fragwürdigen Klinikaufenthalt, entwickelt sich daraus eine Bewegung. Sie vereint Hunderttausende auf sich: Frauen, die mit Spears groß geworden sind, Prominente und Teenager, die zu Spears’ besten Zeiten noch gar nicht auf der Welt waren. Sie alle eint ein Ziel: die Vormundschaft zu beenden. Sie sind überzeugt, dass sie missbräuchlich ist. Spears’ Geschichte erzeugt auch deshalb plötzlich so viel Resonanz, weil sie ein Motiv bedient, das mit der damals noch jungen #MeToo-Bewegung zentral geworden ist: das der Befreiung. Man kämpft gegen Rassismus, gegen Homo- und Transphobie und für die Befreiung der Frauen von ihren (sexuellen) Peinigern. Es geht um das Abstreifen wie auch immer gearteter Fesseln. Die Bewegung dringt in alle Ebenen der Gesellschaft vor. Auch ein gefallener Popstar wird nun zur Freiheitskämpferin hochstilisiert.

Die #FreeBritney-Bewegung geht nicht auf die Straße, sondern ins Internet. Jede Nachricht, die Spears fortan in den sozialen Netzwerken postet, wird detektivisch untersucht. Als sie im Dezember 2020 ein Foto von sich auf Instagram stellt, kommentieren Fans: »Wenn man die Lippen genau betrachtet, steht dort R. I. P.« Oder: »Da ist ein Gesicht zu ihrer Linken im Gebüsch!« Und: »Unter ihren Wimpern steht: ›Ruf 911 an.‹« Einige verständigen das FBI und die CIA.

Die Fans glauben, dass Spears’ Vater Jamie die Sängerin gegen ihren Willen festhält. Er soll seine Tochter unter Drogen gesetzt und ihr Geld gestohlen haben. Das wird lange als Verschwörungstheorie abgetan, dann veröffentlicht die New York Times im Februar 2021 einen Dokumentarfilm. »Framing Britney Spears« enthüllt, dass die Sängerin bereits seit 2014 vor Gericht gegen die Vormundschaft kämpft. Die Zeitung zitiert ausführlich aus den Gerichtsakten. Laut denen bezeichnet Jamie Spears die Vormundschaft als »hybrid business model« – als Geschäftsmodell, von dem beide Seiten gleichermaßen profitieren. Ein paar Zahlen: Jamie Spears zahlt sich als Vormund ein Gehalt von sechnzehntausend Dollar monatlich aus, hinzu kommen zweitausend Dollar Bürospesen. Er ist seit 2009 mit eins Komma fünf Prozent an allen Tourneen und Shows seiner Tochter beteiligt. Das Team von Anwälten, mit dem Jamie Spears vor Gericht gegen seine Tochter kämpft? Bezahlt von Britney Spears. Sie selbst erhält ein Handgeld von zweitausend Dollar pro Woche. Das sind etwas über hunderttausend Dollar im Jahr. Im gleichen Zeitraum verdient sie mit ihrer Show in Las Vegas fünfunddreißig Millionen, und das während vier Jahren. Die Gerichtsakten offenbaren auch Ungereimtheiten über ihr Gesamtvermögen. Laut Jamie Spears beträgt es neunundfünfzig Millionen Dollar. Es müsste viel höher sein.

Im Juni 2021 kommt es im Prozess Spears versus Spears zu einer denkwürdigen Anhörung. Britney Spears äußert sich erstmals in dreizehn Jahren öffentlich zu ihrer Vormundschaft. Jamie Spears’ Anwälte versuchen noch, die Öffentlichkeit von der Sitzung auszuschließen, doch Britney setzt sich durch. Sie hat alles, was sie zu sagen hat, auf Papier aufgeschrieben. »I want this to be open.« Was dann folgt, ist eine dreiundzwanzig Minuten lange Abrechnung mit dem System, das die Vormundschaft über Britney Spears all die Jahre aufrechterhalten hat. Sie erzählt, wie sie zu einer Welttournee genötigt worden sei, zu zweimal die Woche Therapie und zu wochenlangen psychiatrischen Evaluationen. Ihr Vater zwinge sie außerdem zur Einnahme von Lithium und verbiete ihr, die Verhütungsspirale zu entfernen, um ein Kind zu bekommen. Sie vergleicht sich mit einer Prostituierten und erzählt, wie sie ihren Pass, ihr Telefon und ihren Autoschlüssel habe abgeben müssen. Die Vormundschaft sei ein Missbrauch, ihr Vater und »alle anderen daran Beteiligten sollten dafür im Gefängnis sitzen«.

Und dann geht plötzlich alles ganz schnell. Im Juli darf Spears zum ersten Mal überhaupt ihren Anwalt selbst bestimmen. Sie entscheidet sich für den ehemaligen Bundesanwalt Mathew Rosengart, der schon Prominente wie Keanu Reeves und Steven Spielberg vertrat. Rosengart setzt Druck auf. Er wendet sich an die Medien und beantragt als erster Anwalt überhaupt die Absetzung von Jamie Spears. Dieser reicht im September einen Antrag auf eine vollständige Beendigung der Betreuung ein.

Es ist rückblickend kaum zu beantworten, wie dreizehn lange Jahre verstreichen konnten und sich dann alles innerhalb weniger Monate änderte. Medien schreiben von einem Justizskandal. Hat der vorherige Anwalt versagt und sich zu wenig für Spears eingesetzt? Handelt es sich wirklich um eine Verschwörung ihrer Familie? Oder hat tatsächlich die #FreeBritney-Bewegung erst den nötigen Druck erzeugt, der es einem neuen Anwalt ermöglichte, Spears zu befreien?

Am 12. November 2021 ist der Kampf von Spears gegen ihren Vater gewonnen. Die fast vierzehn Jahre dauernde Vormundschaft endet per sofort. Als Mathew Rosengart aus dem Gericht in Los Angeles tritt, spricht er von einem »monumentalen Tag«. Prominente schicken Glückwünsche. Die Sängerin Dionne Warwick ruft in einem Tweet dazu auf, die »Befreiung« von Spears zu feiern. Cyndi Lauper gratuliert, ebenso Cher. Und die italienische Modedesignerin Donatella Versace schreibt zu einem früheren Foto von sich und Spears: »Freiheit ist ein Menschenrecht.«

Das Ende der Vormundschaft wird als einer der größten Erfolge einer Internet-Bewegung gefeiert. Britney Spears ist zur Trophäe geworden.

#FreeBritney ist jedoch auch eine Art Ablasshandel. Jahrelang hat man sich an Spears’ Selbstdemontage ergötzt, über sie gelacht. Nun ist Zeit für Wiedergutmachung. Dafür musste die Geschichte umgeschrieben werden. Heute ist Spears nicht mehr Witzfigur, sondern Opfer. Ihr Nervenzusammenbruch? Ein Zeugnis für den skrupellosen Umgang der Öffentlichkeit mit Prominenten. Ihre Glatze? Ein Sinnbild für den Befreiungsschlag der Sängerin.

Da nimmt die Bewegung auch Ungereimtheiten in Kauf. Bis heute wissen nur wenige Personen, wie es Spears tatsächlich geht. Alle Gutachten über ihren psychischen Zustand sind versiegelt. Seit 2019 tritt die Sängerin nicht mehr öffentlich auf, die einzigen Bilder von ihr stammen von Instagram, wo sie sich mit verschmiertem Make-up und zerzausten Haaren zeigt und wirre Wortmeldungen hochlädt.

Ob Britney Spears tatsächlich weiß, was am besten für Britney Spears ist? #FreeBritney weiß es jedenfalls garantiert. »Das ist eben einfach Britney«, sagt Victoria Shakespears, die Dragqueen aus dem Zürcher Queer-Klub, zu den jüngsten Instagram-Fotos. In dieser Nacht ist Shakespears zwar der Popstar von 2001, auf dem Höhepunkt seiner Karriere. »Aber die Britney von heute inspiriert mich mehr. Weil sie ›stronger than yesterday‹ ist.«

Am Tag, an dem die Vormundschaft fallengelassen wird, treibt vor allem eine Frage die Fans und Journalisten um: Was wird nun aus Britney Spears? Der Anwalt Mathew Rosengart hebt die Augenbrauen und antwortet stolz: »Es ist das erste Mal in einer Dekade, in der wir sagen können: Das liegt bei Britney.« Wenig später meldet sich die Sängerin selbst auf Instagram. »Ich glaube, ich werde den Rest des Tages weinen. Das ist der schönste Tag aller Zeiten«, schreibt sie, darunter den Hashtag #FreedBritney. Befreite Britney.

Esthy Rüdiger und Janique Wedersind Mitarbeiterinnen der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), wo dieser Text im Dezember 2021 das erste Mal erschien. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der NZZ.

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 Dieser Artikel ist thematisch an die Neuproduktion Lohengrin​​​​​​​ der Bayerischen Staatsoper angelehnt.