Die Empfängnis

Von Christian Gottwalt

Lesedauer: ca. 8 min

Itô hatte die Frühschicht, Momo die Spätschicht, das war schon immer so gewesen. Obwohl er bereits recht alt war, belastete ihn der Job nicht sonderlich. Was war da draußen schon groß zu tun? Ein bisschen von Ast zu Ast schwingen und an Seilen baumeln. Das beherrschte er, seit er fünf Monate alt war. Um besonders lässig durchs Gehege zu fliegen, hatte sich Itô einige elegante Bewegungen antrainiert und er wusste auch, welche davon beim Publikum besonders gut ankam: Wenn er sich mit gut fünfzig Stundenkilometern, also beinahe im vollen Flug, in eine Astgabel schwang und dann, von der Schwerkraft präzise gebremst, regungslos sitzen blieb. 

Wie hindrapiert sah er dann aus. Aus voller Hatz in die Stille, welch hübscher Kontrast. Ein Actionfilm, der im Standbild endete. Unwirklich wirkte es, ein bisschen gegen die Physik. Die Nacktaffen mit ihren kurzen Armen liebten diesen Trick. Der schnelle Flug, der im stillen Sitz endete, war zu Itôs Markenzeichen geworden. Die Zuschauer zeigten dann mit ihren winzigen Händen auf ihn und lachten laut. Er lachte zurück und schickte Schimpfwörter hinterher: Wäh, wäh, wäh! Wäääh! Sie konnten ihn ja eh nicht verstehen.

Itô war Momo in all den Jahren nie persönlich begegnet, was daran lag, dass sich ihre Schichten am Vormittag und Nachmittag nicht überschnitten. Der Wärter kam jeden Tag auf die Minute pünktlich, die Routine so akkurat wie alles andere hier im Kujukushima-Zoo von Nagasaki. Japan halt. Am Ende jeder Schicht wurde die Ausgangsklappe an der Rückseite des Käfigs geöffnet. Itô schlüpfte hindurch und als er ihn seinem Wohnkäfig angekommen war, befand sich Momo längst vorn im großen Gehege und unterhielt die großen Nacktaffen mit ihrer Akrobatik.

Der Säugling störte sie dabei nicht. Aber die blassen Zuschauer vor dem Schaugehege, besonders die Weibchen, die selbst Nachwuchs hatten, waren außer sich. Sie hielten sich die Finger vor die winzigen Münder und konnten es sich nicht vorstellen, wie die Mutter eines Neugeborenen etwas so Gefährliches tun konnte – sich von Ast zu Ast zu schwingen, ohne dabei ihrem Baby die geringste Beachtung zu schenken. Momo war das egal, sie wusste instinktiv, dass ihr kleiner Gibby nie loslassen würde, denn seine Finger waren regelrecht verwoben mit ihrem dichten Brustfell. So wie er sich verknotet hatte, konnte er gar nicht fallen.

Während Momo ihre Akrobatik zeigte, saß Itô in seinem Wohnkäfig und langweilte sich. Die menschlichen Konzepte von Zeit und Zahlen interessierten ihn nicht, weshalb er keine Stunden zählte, sondern einfach wartete, bis Momo am späten Nachmittag von der Arbeit zurückkam. Er registrierte, wie die Tür ihres Käfigs geöffnet und wieder geschlossen wurde. Itô konnte Momo hören und er konnte sie riechen, aber sehen konnte er sie nicht, die Architektur der Käfige im Wohntrakt des Affenhauses ließ das nicht zu. 

 

Wie geht es unserem Sohn?, fragte Itô. 

Er schläft, antwortete Momo aus dem Käfig nebenan.

Und wie war die Arbeit?

Wie immer.

 

Momo war ein wenig einsilbig geworden, seit sie den Kleinen hatte. Itô interpretierte es als Desinteresse an ihm und nahm es für seine Verhältnisse ungewöhnlich persönlich. War es nicht bereits belastend genug, dass sie kein sexuelles Interesse mehr zeigte, seit sie schwanger war? Itô hatte all die Monate verständnisvoll reagiert und war nie beleidigt gewesen, wenn sie abweisend auf seine Annäherungen reagiert hatte.

Aus einer alten Gewohnheit heraus strich sein Handrücken über die Seitenwand des Käfigs und er schob den Ast beiseite, der ihr gemeinsames Geheimnis verbarg. Seinen Zeigefinger wollte er hindurch stecken, vielleicht saß sie ja zufällig genau auf der anderen Seite der Trennwand, sodass er sie kitzeln konnte. Sein Zeigefinger strich an der Wand entlang, suchte die Öffnung – und fand sie nicht.

Nun drehte Itô sich um und nahm die Sache in Augenschein. Schob den Ast nach links, nichts. Schob den Ast nach rechts, nichts. Wischte die Streu zur Seite. Immer noch nichts. Wo zur Hölle war es?

Panik machte sich in ihm breit. Wäh! Ein ganzer Schwall Hormone flutete sein Blut, wäh, wäh, wäh! Itô konnte sich nicht mehr bremsen, das Tier in ihm ging mit ihm durch. Seine Finger griffen in den Draht der Käfigtür und rüttelten an ihr.

 

Momo, brüllte er, hast du das gesehen?

Hör auf zu schreien, sagte sie, du weckst den Kleinen noch auf.

Aber Momo! Das Loch! Wäh! Sie haben unser Loch entdeckt! Unser Loch! Wäh! Wäh! Sie haben es zugemacht, ich weiß aber nicht, wie. Jetzt können wir uns nicht mehr spüren, nur noch hören. Was ist das denn für ein Leben? Wenn man sich nur hören kann. Und nicht sehen. Und nicht fühlen.

Aber das war doch nur eine Frage der Zeit, sagte sie.

 

Die Antwort traf ihn wie ein Ast im vollen Flug, er spürte den Schlag in der Magengrube, der ihn zum Schweigen brachte. Er betrachtete seine Finger, wie sie zitterten. Der Rest von ihm saß da, wie draußen im Gehege, reglos und still. 

 

Jetzt hör mir mal zu, sagte sie. 

Und er hörte, zitterte und schwieg.

Die ganze Welt weiß von dem Loch, sagte sie.

Die ganze Welt? O gütiger Gibbon! 

 

Ihm wurde schwarz vor Augen.

Und so erzählte sie ihm von den Speichelproben, welche man ihr und ihrem Sohn abgenommen hatte.

 

Ein DNA-Test? Aber warum denn? Weil ich ein Schwarzhandgibbon bin? Der sich mit einer Weißhandgibbon nicht paaren darf? Weil das Artengrenzen überschreitet und ihre Zucht durcheinanderbringt? Ja? Ist es das? Oder zweifelten sie daran, dass du die Mutter bist? Er lachte.

Ach, du Dummkopf, sagte sie, im Gegenteil: Sie zweifelten daran, dass es überhaupt einen Vater gab. Keiner konnte sich erklären, woher es kommt, unser Kind. Sie dachten, ich hätte es selbst gezeugt und zur Welt gebracht. Unbefleckte Empfängnis. Jungfrauengeburt. Das Ideal der Reinheit. Die Tilgung der Erbsünde. Schon mal was von Jesus gehört?

 

Nein, hatte er nicht. Und der DNA-Test, den sie an ihm selbst bei einer Routineuntersuchung vorgenommen hatten, war ihm auch entgangen.

 

Sie haben herausgefunden, dass du der Vater bist, sagte sie.

Ach und dafür brauchten sie einen DNA-Test? Das hätten sie doch sehen können, ein Blick genügt, um zu erkennen, dass dein Fell so hell ist wie ein Kaffee mit zu viel Milch und dass unser Sohn so schwarz ist wie die Nacht im Wald und so schwarz wie sein Vater, der im Käfig gleich nebenan wohnt.

Momo überhörte ihn: Die Ärzte waren froh, überhaupt einen Erzeuger gefunden zu haben. Und eine Erklärung, wie die Zeugung vor sich ging: unser kleines Loch.

 

Das Loch, durch das er ... gütiger Gibbon, war das peinlich.

 

Und dann, sagte sie, gab der Zoo eine offizielle Stellungnahme ab. Und dutzende Medien auf der ganzen Welt veröffentlichten die Geschichte, dass es keine Jungfrauengeburt gewesen sei.

 

Itô überlegte kurz, wie groß der Medienrummel wohl gewesen wäre, wenn Momo sich tatsächlich jungfräulich vermehrt hätte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. 

 

Warum machen Sie so einen Wirbel um die Jungfrauengeburt?, fragte er.

 

Sie haben sogar einen eigenen Namen dafür, sagte Momo. Parthenogenese nennen sie es, wenn sich aus eine unbefruchteten Eizelle ein Lebewesen entwickelt. Im Juli erst entdeckten sie ein kleines Krokodil in einem Ei, dessen Mutter nie einen Vater gesehen hatte. Weltweite Schlagzeilen, und dabei lebte das kleine Reptil noch nicht einmal. Drei Wochen später dann die Meldung, dass sich Fruchtfliegen jetzt parthenogenetisch fortpflanzen können. Irgendwelche Forscher haben an den Genen herumgemacht und ihnen die Sexualität entfernt.

 

Itô wurde wieder bewusst, weshalb er die Menschen hasste und er staunte über Momo, was sie von ihnen wusste. Sie hatte sogar von einer Europäerin namens Marianne Wex gehört, einer zu Lebzeiten angesehenen Künstlerin und Feministin, die eine auf Hörensagen beruhende und daher gänzlich unwissenschaftliche Forschungsarbeit veröffentlicht hat, in welcher sie die Jungfrauengeburt als Mittel und Weg zur Befreiung der Frau vom Patriarchat propagierte.

Als Gibbon hielt Itô nicht viel vom Feminismus, er folgte der Natur und schwor auf die Monogamie, wie jeder seiner Gattung. Die Beziehung zu Momo war, obwohl er schon vierunddreißig Jahre zählte und damit steinalt war für einen Gibbon, seine erste gewesen. Und sie würde natürlich auch seine letzte bleiben.

 

Jedenfalls, fuhr Momo fort, ist die Befreiung der Frau vom Patriarchat ...

 

Sag mal, Momo, unterbrach Itô sie, woher weißt du das eigentlich alles?

 

Ich höre den Menschen zu, sagte Momo. Ich höre zu, während du sie nur auslachst und beschimpfst.

 

Ich glaube, sagte Itô, wir sollten die Menschen verlassen. Wir sollten von hier fortgehen, zurück in den Wald. Wir könnten unseren Kleinen gemeinsam aufziehen. Ich suche ihm Früchte und bringe ihm das Schwinghangeln bei. Und ich zeige ihm ein paar richtig spektakuläre Moves. Und jeden Morgen würden wir zusammen singen, so wie es alle verliebten Gibbonpaare seit Urzeiten tun.

 

Die alte Leier, dachte Momo und schwieg, weil sie Itôs Traum nicht zerstören wollte. Wusste er, wie weit der Wald war? Ob es ihn überhaupt noch gab? Wie sollten sie da hinkommen? Keine Gibbon, ob wild oder an die Menschen gewöhnt, hatte je den Regenwald verlassen und ihren Fuß auf ein freies Feld gesetzt.

Momo schwieg also, was Itô wiederum gründlich missverstand. 

 

Ich werde dir treu bleiben, rief er, treu bis ans Ende unserer Tage!

 

Ich weiß, sagte Momo nur, ich weiß.

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