Ich nehme die Wahl an 

Von Stefan Gärtner

Fotografie von Anastasiya Badun

Lesedauer: ca. 9 min

Die Qual der Wahl. Stefan Gärtner über schlechte Alternativen und was eine Demokratie aushalten muss.

Natürlich ist Poppers »offene Gesellschaft« besser als eine geschlossene. Denn nur in einer offenen Gesellschaft habe ich wirklich die Wahl. Ich muss etwa keine Internet-Cookies akzeptieren, wenn ich das nicht will; dann kann ich vielleicht die Seite, die ich sehen will, nicht nutzen, aber gefragt worden bin ich, und beschweren nutzt also nichts, weil das die Idee ist, die irgendeine Kontrollbehörde hatte: Niemand soll einfach so von Cookies ausgespäht werden. Sondern mit seinem Einverständnis.
 

Es ist schön, die Wahl zu haben, denn wählen heißt, dass man hinterher selbst schuld ist.

 

Am neuen Wohnort angekommen, brauchen wir für den Sohn eine Grundschule. Um nicht wie die hysterischen Eltern zu sein, deren Zentralangst es ist, ihren Kindern eine Chance vorzuenthalten, rufe ich einfach das Schulamt an und frage nach der zuständigen Schule. »Freie Schulwahl«, sagt das Schulamt, doch ich beharre, und als ich mit der Direktorin der Schule telefoniere, die die Schule des Sprengels war, bevor eine bürgerliche Regierung das Ortsprinzip abgeschafft und das Wahlprinzip eingeführt hat, wiederholt sie, ich müsse mein Kind hier nicht anmelden. Ich will aber, und beim ersten Elternabend sehe ich, dass der Anteil der Kinder, die Müller, Schmidt oder ähnlich heißen, bei höchstens einem Fünftel liegt, denn freie Schulwahl bedeutet, dass sich weiße Eltern weiße Schulen aussuchen. Wenn ich morgens mit dem Sohn an der Bushaltestelle warte, sehe ich einen mit weißen Kindern besetzten Schulbus, der in die Gegenrichtung, in die weiße Vorstadt zur weißen Grundschule fährt: gewissermaßen ein Rassentrennungsbus, eingesetzt von der öffentlichen Hand, im Namen der Freiheit. Ich hatte die Wahl, ich habe mich entschieden, ich bin einverstanden, jedenfalls offiziell, denn inoffiziell kriege ich, versteht sich, das Kotzen.

Es ist, noch einmal, schön, die Wahl zu haben, wenn alles kann, aber nichts muss. Früher musste man in Teilen dieses Landes die SED wählen, das war schlimm; heute darf man AfD wählen, und das ist auch schlimm, aber gut, weil die Freiheit der Wahl gewährleistet, dass nicht mehr nur SED gewählt wird. Die Freiheit der Wahl bedeutet nun aber, das Ergebnis der Wahl zu billigen, weil man die Wahl billigt, indem man wählt. Autoritäre Regierungen können Wahlen so lange wiederholen lassen, bis das Ergebnis stimmt; eine freie Wahl ist bindend und ihr Ergebnis in jedem Fall zu akzeptieren. Das, was einem an der Wahl nicht passt, ist Teil dieser Wahl, weil freie Wahl bedeutet, dass nicht jeder dasselbe wählt. Grundsätzlich ist jeder wählbar, der sich zur Wahl stellt, es sei denn, eine Partei wird verboten, weil sie verfassungsfeindlich ist. Das geschieht nicht oft, weil es das Prinzip verletzt und die Wahl unfrei macht. Deshalb kann man anderswo Trump wählen, und deshalb kann man hier die AfD wählen, und deren Mitglieder wissen sehr genau, wie lange es dauert, bis tatsächlich einmal Zapfenstreich ist und wie viel die Demokratie programmgemäß aushalten muss. »Keine Freiheit den Feinden der Freiheit«, heißt der demokratische Kampfauftrag, aber solange diese Feinde zur Wahl stehen, sind sie keine Feinde der Demokratie, sondern Teil davon.

Deshalb ist es auch Unsinn, darauf zu vertrauen, rechte, rechtspopulistische, rechtsextreme Parteien nähmen sich beizeiten »schon selbst auseinander«, erwiesen sich als zu unfähig oder zu bösartig. Ihr Trumpf ist eben die Freiheit, und nicht allein, weil sie diese ständig im Mund führen und zu verteidigen behaupten gegen linksgrüne Weltverregelung. Ihre Freiheit beweist sich daran, dass sie zur Wahl stehen, zur Wahl stehen müssen. Ihre Vertreter mögen frauen-, ausländer- und insgesamt menschenfeindlich sein, notorische Lügner und auch sonst keine Leute, denen man ein politisches Amt, geschweige ein Land anvertrauen mag. Aber sie stehen zur Wahl; das nobilitiert sie und mit ihnen jene, die die Gelegenheit nutzen, von ihrer Freiheit zur Unfreiheit einmal als Freie Gebrauch zu machen. Souverän ist schließlich, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.

Es ist von tiefer innerer Logik, dass, je öfter Donald Trump vor Gericht erscheinen muss, er desto populärer wird, und zwar ganz abgesehen vom Nimbus des Märtyrers und Volkshelden, den ihm die Verachtung des Establishments – in beide Richtungen gelesen – verschafft. Es ist viel gesprochen worden darüber, wen genau Trump nun eigentlich vertritt (außer Big Coal, Walmart und sich selbst): die kleinen Leute, die gar nichts wissen, oder die etwas größeren, die nicht wissen wollen, was sie wissen könnten; im weiteren Zusammenhang vertritt er die Antithese als solche, einen Gegenentwurf, von dem nicht viel mehr klar ist, als dass er zur Wahl steht. Das allerdings reicht. Trump macht es, weil er’s kann, und er kann, weil er dürfen muss. Ihm kann keiner, allenfalls die Justiz, und wo immer sich autoritäre, illiberale Regierungen etablieren, geht es der unabhängigen Gerichtsbarkeit zuerst an den Kragen.
 

Wirklich frei ist nämlich nur, was nicht zur Wahl steht.

 

Gegen die, so gesehen, geschichtliche Figur Donald Trump ist ein Mann wie Andreas Scheuer, der Ex-Verkehrsminister von der CSU, bloß ein Lichtlein. Dass sein Fall ein völlig anderer sei, wird man trotzdem nicht behaupten müssen. Eine halbe Milliarde Euro kostet das, was als »Maut-Debakel« durch die Presse ging, und es besteht nirgends ein Zweifel daran, dass Scheuer persönlich dafür verantwortlich ist. Gleichzeitig ist völlig klar, dass er nicht zur Verantwortung gezogen werden wird, auch wenn die Feuilletons sich einen Spaß daraus machen, das auszumalen. Scheuer stand zur Wahl, er wurde gewählt, der Rest ist repräsentative Demokratie, die die Gewählten nur ihrem Gewissen verantwortlich macht und eine direkte Bindung an den Wählerwillen nicht vorsieht. Eine Skandalfigur wie Scheuer – der übrigens, wie die CSU-Verkehrsminister vor ihm, auch das Abenteuer zu verantworten hat, das heute jede Bahnfahrt darstellt – ist nach der Wahl das, was die Faschisten vor der Wahl sind, nämlich jener verneinende, destruktive, böse Geist, welcher der Freiheit der Wahl erst einen Sinn gibt. Nur dann, wenn solche Figuren gewählt werden können (und auch gewählt werden), ist eine Wahl frei, denn wenn diese nicht zur Wahl stünden, müsste man nicht wählen. Wer im Supermarkt vor der Apfelkiste steht, nimmt sich einfach fünf, weil sie alle gleich schön aussehen; am Bio-Stand, wo die Äpfel Flecken haben dürfen, will gewählt sein.

Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten, lautet ein Satz, von dem nicht sicher ist, ob er von Mark Twain, Kurt Tucholsky oder der Anarchistin Emma Goldman stammt. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht: Eine Wahl kann den Nazi Björn Höcke zum Reichskanzler machen, und marxistische Faschismusanalyse in allen Ehren, aber die Bourgeoisherrschaft, der Leute wie Olaf Scholz präsidieren, ist dann doch unbedingt vorzuziehen. Trotzdem – und noch einmal – bedeutet zu wählen, die Wahl und ihre Voraussetzungen zu akzeptieren: Wer wählt, stimmt vorderhand zu, auch wenn er dagegen stimmt – deswegen werden Wahlen boykottiert. So gesehen ist noch der widerlichste AfD-Wähler Demokrat, jedenfalls solange, wie er seiner Partei nicht zum Endsieg verhilft. Danach ist Wählen sinnlos, und wer fände, Faschismus sei karikierter Kapitalismus, hätte hier ein Indiz.

Wir haben also nicht die Wahl, selbst wenn wir die Wahl haben? So einfach ist es nicht. Hätte in der Türkei die Opposition gewonnen, wären viele politische Gefangene jetzt frei, und niemand wird gezwungen, eine Regierung zu wählen, die nicht will, dass deutsche Kinder mit türkischen aufwachsen. Es ist nicht so, dass sich nicht von Fall zu Fall das Richtige wählen ließe, nämlich dann, wenn die Alternative das Falsche (etwa eine »für Deutschland«) ist; doch wieder gilt:
 

Die Wahl zu haben heißt, dass auch das Falsche zur Wahl steht.

 

Demokratie ist, wenn Nazis antreten, und sie dürfen schon darum nicht gewinnen, damit sie wieder antreten können. Dass einmal niemand mehr antritt, weil alles für alle super ist, ist natürlich auch eine Möglichkeit.

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