Das weiße Bauschen

Von Julia Werner

Lesedauer: ca. 10 min.

Ein Essay über das Brautkleid, vorgetäuschte Jungfräulichkeit, Weiß als Farbe der Unschuld und die neuesten Trends zum Hochzeitskult und seinen bizarren Auswüchsen.

Das weiße Hochzeitskleid in all seinen Variationen, vom schlichten Slip Dress übers Dirndl bis zum Sahnebaiserhaufen à la Prinzessin Diana ist immer noch das ultimative Lebensziel von Millionen Frauen auf der Welt, selbst das von solchen, die sich als emanzipiert verstehen. Die schier endlos lange Zeit bis zu dem Moment, in dem die Braut endlich in diesem Kleid steckt, bringt alle, nicht nur die Braut selbst, komplett um den Verstand: Von den Gästen wird neuerdings schließlich nicht mehr nur die bloße Anwesenheit plus ein Geschenk verlangt, sondern auch Urlaubstage und Reisebudget. Der heilige Bund der Ehe wird ja nicht mehr einfach in der Kirche um die Ecke geschlossen, sondern irgendwo in der Toskana. Solche Einladungen sollten nur erlaubt sein, wenn das Flugticket und der Hotelvoucher schon der Einladung beiliegen. Was hat das mit weißen Brautkleidern zu tun? Jede Menge. Denn die Anstrengungen bis zu diesem Fashion-Moment sind für alle Beteiligten immens groß. So groß, dass die zynische Beobachterin nicht anders kann, als die vorm Altar vergossenen Tränen nicht als Rührung, sondern als reflexhaften Stressabbau zu interpretieren. Es ist geschafft. Aber was eigentlich? Die Sicherung des Ehemanns, des Informationsrechts über seinen Zustand im Krankenhaus? Das Erfüllen einer gesellschaftlichen Konvention, das Schmeißen einer wirklich legendären Party? Ergriffenheit von der eigenen Liebesgeschichte, die natürlich in Wahrheit gar nicht größer ist als die der Millionen anderen Bräute auch? Aufregung wegen der Hochzeitsnacht (Witz)? Fest steht: Es gibt eine Vielzahl von Gründen für das Heulen vorm Altar. Sie alle haben nur eines gemeinsam: Sie stehen in exaktem Widerspruch zu dem, was die Braut trägt – das weiße Kleid, Symbol für Reinheit und Unschuld. Denn die haben – das ist jetzt nur so eine Vermutung – die meisten Bräute schon lange vor dem großen Moment verloren, idealerweise nicht mit dem Mann, dem sie das Ja-Wort geben.

Also noch mal zurück: Heiraten ist schön und gut. Aber warum muss es immer in Weiß sein? Für die Unschuld hat es historisch gesehen wirklich nur eine Nanosekunde gestanden, Bräute aus aller Herren Länder haben in den vergangenen dreitausend Jahren in so ziemlich jeder Farbe des Regenbogens geheiratet. Das macht den Fakt, dass sich das Narrativ der Unschuldskutte bis heute hält, umso interessanter.

Mary Douglas hat 1966 den sozioanthropologischen Knaller »Reinheit und Gefährdung« geschrieben, in dem sie Reinheitsriten und Tabus von antiken und primitiven Stämmen auseinandernimmt. Und zu dem Schluss kommt, dass das alles auch auf das westliche Glaubenssystem übertragbar ist. Denn der Wunsch nach Reinheit entsteht irgendwo im Busch von Kenia genauso wie auf den Straßen von Paris: aus Angst. Angst vor dem Unreinen, das immer unbekannt und also unheimlich ist. Beim Saubermachen und Aufräumen also tun wir Menschen nichts anderes, als unsere Ängste zu ordnen. Der panische Desinfektionsgelgebrauch während der Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel, und nach dieser Lesart auch das weiße Brautkleid. Denn das Weibliche war und ist in patriarchalischen Gesellschaften bekanntlich die größte Quelle der Angst. So schrieb Douglas: »Ich bin der Auffassung, daß manche Formen der Verunreinigung als Analogien benutzt werden, die eine allgemeine Sicht der sozialen Ordnung zum Ausdruck bringen sollen … Anderen Glaubensanschauungen zufolge wird nur ein Geschlecht durch den Kontakt mit dem anderen gefährdet, gewöhnlich das männliche durch das weibliche, obwohl manchmal auch das Umgekehrte der Fall ist. Die Struktur derartiger Gefährdungen durch das andere Geschlecht kann als Ausdruck einer Symmetrie oder Hierarchie verstanden werden.« 

Vor diesem Hintergrund müssten emanzipierte Frauen von heute sich die weißen Brautkleider von den Körpern reißen wie nasse Säcke. Und damit das mittlerweile doch wirklich lahme Narrativ der sauberen Braut, die unbefleckt an ihren Mann übergeben wird, denn die Partner sucht man sich heutzutage – zumindest im Westen – selbst aus. Sicher, vor der einen oder anderen Frau, der man ihre Schuld längst an ihren Nasolabialfalten ansehen kann (es wird ja immer später und gern auch mehrfach geheiratet), wird, wenn sie allein in ihrem Brautkleid vorm Spiegel steht, das Lächerliche ihrer Verkleidung kurz vor ihrem dritten Auge aufblitzen. Aber dann? Wird geheiratet, in Weiß. 

Nicht unwichtig bei der Erklärung des Phänomens ist die Tatsache, dass es die Hochzeitsfeier an sich erst seit relativ Kurzem gibt. Noch im Alten Testament der Bibel ist von keiner einzigen Hochzeitsfeier die Rede. Und im antiken Athen gab es zwar ein Ritual, aber ohne anschließendes Saufgelage. Die Ehe, das war lange bekanntlich eine geschäftliche Transaktion, zur Sicherung aller möglicher Dinge: Vermögen, Nachwuchs, Kontrolle der Frau. Heute wird von dieser Verbindung aber nicht weniger als alles erwartet: ewige Liebe, bester Sex, gleichzeitig seelenverwandte Freundschaft, intellektuelle und spirituelle Stimulation, finanzielle Partnerschaft. Man könnte böse sagen: Die Ehe ist die eierlegende Wollmilchsau, und weil alle wissen, dass das zu viel verlangt ist, wird das Ganze mit einer Knallerparty bekräftigt, quasi als letzter Selbstüberzeugungsakt, dass das gut gehen wird. Alles kulminiert also in diesem einen Moment, in diesem einen Kleid. Der Bräutigam darf die Braut vorher auf gar keinen Fall sehen, damit ihm, in dem Moment, in dem sie vor ihn tritt und den Schleier lüftet, die Luft wegbleibt. Oder zumindest muss er so tun, es gehört einfach zur Show. Genauso wie die neuerdings auf Instagram beliebte Triumphgeste: Brautpaar tritt nach Trauung nach draußen, ruft so etwas wie »Yeah« und reckt dabei die gemeinsam geballte Faust in die Luft. Es ist in der Tat ein Triumph, in den meisten Fällen über den gesunden Menschenverstand: Selbst keineswegs gut betuchte Menschen geben ja oft tausende Euro für ein Kleid aus, dass sie danach nie wieder tragen werden. 

Das erste offiziell bekannte weiße Hochzeitskleid trug die englische Prinzessin Philippa 1406, als sie den skandinavischen König Erik heiratete. Es handelte sich um eine weiße Tunika mit Hermelinbordüre. Anderthalb Jahrhunderte später ehelichte die schottische Königin Mary den französischen Thronfolger in Weiß, und das, obwohl es damals die Trauerfarbe für französische Königinnen war. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. In den folgenden Jahrhunderten heiratete der Adel weiterhin vorrangig unbeeindruckt in Silber- oder Goldlamé, also in dem, was wir heute den Metallic-Look nennen würden. Es gab zwar ab und zu weiße Brautkleider, mit Jungfräulichkeit hatte diese Persilreinheit jedoch nichts zu tun, obwohl die Bräute von damals es wahrscheinlich eher waren als die von heute. Sie war nicht mehr als eine Spielart des Statusgehabes: Weiß ist schwer sauber zu halten, konnte also nur von Leuten getragen werden, denen man den kleinen Finger aus der Sonne legte. 

Niemand erwartete übrigens von einer Braut, ihr Hochzeitskleid nur einmal zu tragen und dann für immer in Seidenpapier auf dem Dachboden verschwinden zu lassen. Noch nicht mal von Königinnen. Hochzeitskleider waren einfach teure Kleider, die dann, wenn die Ehe geschlossen war, zu den neuen Sonntagskleidern wurden. Sie wurden geändert, gefärbt, getragen, bis sie auseinanderfielen. Oder die Mode sich änderte. Nichtadlige, normale Frauen heirateten meistens sowieso ganz einfach in ihrem besten Kleid. 

All das sollte sich ändern, als Queen Victoria 1840 den deutschen Prinzen von Sachsen-Coburg-Gotha heiratete. Die Braut trug ein Kleid, dass der Mode ihrer Zeit entsprach: mit Korsett, ausladendem Krinolinenrock und allerlei Volants. Das Kleid befindet sich heute in der Sammlung des englischen Königshauses, und deswegen wissen wir: Es war gar nicht reinweiß, sondern, wie man heute in Brautmodensprech sagen würde, champagnerfarben. Das Volk war von diesem Look entzückt, auch, weil die Königin nicht etwa Diamanten, sondern rustikal Orangenblüten auf dem Kopf trug. Das Volk hatte außerdem seine erste großes Couple Goal. Junge Frauen wollten nichts anderes, als diese glückliche Braut und diese Liebesheirat zu kopieren. Zwar gibt es kein einziges Foto vom Tag der Hochzeit selbst, aber vierzehn Jahre später ließ sich die Königin in ähnlicher Aufmachung fotografieren. Stichwort Fotografie: Die war ja in ihren Anfängen schwarz-weiß, was die Popularität des weißen Brautkleids wohl nur verstärkte. Wie sonst sollte eine Frau aus der Sepia-Tristesse herausstechen? 

Und hier beginnt auch schon die Geschichtsumdeutung, genauer gesagt, in den Modemagazinen, die zu dieser Zeit aufkamen. Das weiße Brautkleid wurde zur einzig möglichen Wahl für den großen Tag ausgerufen, und die Illustrierte Godey’s Lady’s Book verkündete 1849: »Die Tradition hat seit frühesten Zeiten bewiesen, dass Weiß der passendste Ton für Bräute ist, ganz gleich in welchem Material. Es ist ein Emblem der Reinheit und Unschuld von Mädchen und das unbefleckte Herz, dass sie nun dem Auserwählten schenkt.« Anders gesagt: Die züchtigen viktorianischen Ideale wurden einfach rückwirkend angewendet. So kam es, dass Weiß bis heute das Unschuldslamm unter den Farben ist und nicht, wie ursprünglich, für Reichtum steht. Obwohl es das doch immer noch tut. Bei Hochzeiten geht es ja immer noch um nichts anderes als den schnöden Mammon, egal ob in Königshäusern oder irgendwo in Berlin-Neukölln. Von Island bis Namibia, von Teheran bis Sydney: Die westliche Idealbraut ist überall, zusammen mit dem ganzen anderen Brimborium wie Limousine, Brautfrisur und Paarfoto. Viele Chinesinnen heiraten traditionell, verzichten dann aber nicht aufs Foto im weißen Kleid. In Teheran, wo Frauen per Kopftuch kleingehalten werden, drückt selbst die Sittenpolizei bei weißen Bräuten an ihrem großen Tag ein Auge zu. So steht das weiße Brautkleid für einen Traum. Aber nicht für den der großen Liebe, sondern für den der Freiheit und des Aufstiegs, im westlich-kapitalistischen Sinne.

Und Weiß ist ja auch eine hübsche Nuance. Sie kann, losgelöst von ihrer vermeintlichen Bedeutung, natürlich für die Eheschließung getragen werden. Seit Mitglieder der LGBTQ-Community ebenfalls mit großem Bohei heiraten, sind die Outfits grundsätzlich freier und kreativer geworden. Weiß ist dabei nicht ausgeschlossen. Nur eines ist unverzeihlich: das Festhalten an der Queen-Victoria-Silhouette, oben eng, unten ausladend, im 21. Jahrhundert wie ein Fremdkörper, ein verstaubtes Theaterrequisit. Noch nicht mal die schönste aller Bräute, Carolyn Bessette-Kennedy, konnte an diesem weit verbreiteten Kostümdrama etwas ändern, als sie 1996 John F. Kennedy junior heiratete. Sie trug ein superschlichtes Slipdress im Bias-cut von Narciso Rodriguez, und die Wannabe-Bräute flippten damals genauso aus wie ihrer Zeit die Queen-Victoria-Fans. Seitdem hat sich die Lage vorm Altar nur marginal geändert, es reicht ein Blick in Brautmoden-Schaufenster. Selbst die mittlerweile unbeliebte Herzogin Meghan Markle wählte eine eher madamige, züchtige Silhouette, als sie Prinz Harry heiratete. Rückblickend muss man sagen: Den Weißwaschzinnober hätte sie sich auch sparen können. So ist die moderne Frau wohl gar nicht so sehr in der Farbe der Unschuld gefangen, aber immer noch in dem Wunsch, eine unschuldig von unten nach oben blickende Braut zu sein. Zeit, damit Schluss zu machen. Mit schönen Kleidern für eine große Party allerdings nie – nur bitte nicht immer gleich in der Toskana. 

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