Die meisten Pläne sind schneller gemacht als ausgeführt, und also wärme ich mich seit Längerem an einem Buchprojekt, das sich unentscheidbaren Fragen widmen soll: Sind neue Plattenspieler besser als alte? Ist das muslimische Kopftuch Ausdruck persönlicher Religionsfreiheit oder misogyner Unterdrückung? Und ist die allüberall wehende Regenbogenfahne nun der verdiente Sieg queeren Aktivismus oder bloß Pseudorevolution und Beweis für die skeptische These, Gerechtigkeit sei im Kapitalismus nur als wohlfeil symbolische zu haben?

Vermutlich ruht das Projekt auch deshalb, weil es mich nirgends hinführt, denn dass es für die großen Fragen der Zeit kaum einmal Lösungen gibt, die keine Parteinahmen sind, ist ja seine Voraussetzung. Waffen für die Ukraine: die Verlängerung eines Krieges, den die Ukraine nicht gewinnen kann; keine Waffen für die Ukraine: Sabotage eines Widerstands, der völkerrechtlich nicht zu beanstanden ist. Identitätspolitik: nötig, weil Diskriminierung entlang von Race und Gender verläuft; schädlich, weil es Diskriminierung entlang der Besitzverhältnisse verschleiert. Gendersensible Sprache: gut, weil sie Deutsch als Männersprache dekonstruiert; schlecht, weil sie den geistfeindlichen Trend zum Konkret-Körperlichen bedient.

Da bleibt bloß die Erkenntnis, dass die einfache Wahrheit immer eine Lüge ist, es sei denn, jene würde lauten, dass es einfache Wahrheiten nicht gibt. Beispiel Nahost: Palästina hat das Recht auf Staatlichkeit, schön – aber auch als militant antisemitische? Die Nakba, die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung nach der Gründung Israels, war Unrecht – aber war sie nicht Folge des arabischen Überfalls? Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten – aber doch mit einer rechtsextremen Regierung, nein? Man kann ewig so weitermachen, und es ist der sichere Weg in den Abgrund, sich vorbehaltlos auf der richtigen Seite zu wähnen, so wie der elitestudentische Nachwuchs, der in Harvard gegen einen Juraprofessor hetzte, weil er zu den Verteidigern Harvey Weinsteins zählte, der sich in einem Rechtsstaat gerade dann verteidigen lassen darf, wenn das moralische Urteil längst gefällt ist. Den Campus schmückten Graffiti: »Down with Sullivan« und »Whose side are you on?«, denn wer nicht auf meiner Seite ist, hat nicht nur eine andere Meinung. Der ist ein Feind.

Von links ist das heikler als von rechts, weil auf der richtigen Seite zu sein der ganze Witz am Linkssein ist. »Sag mir, wo du stehst«, forderte ein bekanntes DDR-Propagandalied, und aus Sicht des dialektischen Materialismus war das nicht falsch gefragt: Stehst du auf der Seite der Besitzenden oder der Besitzlosen? Es gehört aber zur Wahrheit, dass der Realsozialismus als auf absehbare Zeit letzte Gelegenheit, der Kapitalherrschaft etwas entgegenzusetzen, an seinem »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« zerbrochen ist, so wie es zur Wahrheit gehört, dass die Verhärtung dieses Sozialismus zumal jenem feindlichen Weltkapital geschuldet war, das seinen Klassenstandpunkt kannte. Heute sollen die Verdammten dieser Erde, unterstützt von einer postkolonialen Linken, die ihren Kampf auf Marxens Überbau austrägt, wieder Geschichte schreiben, aber auch die Verliererperspektive ist keine neutrale, ist es vielleicht um so weniger, als man sich Neutralität leisten können muss. Als der Kongo-Ameisenpicker, ein kleiner afrikanischer Singvogel, nicht mehr »Jameson’s Antpecker« heißen sollte, weil sein Erstbeschreiber James Sligo Jameson ein kolonialer Rassist gewesen war, der eine indigene Gemeinschaft dazu gebracht haben soll, eine gefangene Zehnjährige aufzuessen, sah sich der westliche Blick dahingehend korrigiert, dass der Skandal allein im Auftrag und nicht in dessen prompter Ausführung zu liegen kam, und wenn die Forderung nach möglichst diverser »Pluralität« bloß heißt, auf dem anderen Auge blind zu werden, ist die Perspektive sicher eine andere, aber keine höhere.

So hat es die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zu einer gewissen Berühmtheit gebrach, indem sie davor warnte, das Insistieren auf der Singularität von Auschwitz schließe die migrantischen Gewalterfahrungen heutiger Nichtjuden aus, der Syrer, Afghaninnen, Palästinenser. »Meinungspolizisten« sollten nicht verhindern dürfen, dass alle ihr eigenes Trauma ins sich auch erinnerungskulturell diversifizierende Deutschland tragen könnten, ohne Angst haben zu müssen, von »Ideologen« unter Hinweis auf den unvergleichlichen deutschen Zivilisationsbruch zum Schweigen gebracht zu werden.

Der Vorteil für die deutsche Seele, die es immer gewusst hat, dass es auch nichtdeutsche Schuldkonten gibt, liegt auf der Hand, und um so befreiender, wenn einer von denen, deren nichtweiße Stimme so lang unterdrückt worden ist, die Opfer von einst als Täter von heute anzeigt. Es war nur konsequent, dass Assmann sich, wie viele andere, hinter den kamerunischen Historiker Achille Mbembe stellte, der Israel, Jahre vor dem von der Hamas mit ihrem Oktober-Überfall provozierten Gaza-Krieg, »Gemetzel, Zerstörung, schrittweise Ausrottung« vorwarf, woraus sich die Pflicht zur »globalen Isolation« ergebe, und wer immer auf den pluralistischen Effekt eines Endes weißer Dominanz gehofft hatte, wurde enttäuscht: Denn für die alte Erzählung von Juda als zu isolierendem Welthauptfeind muss man die Verdammten dieser Erde nicht zu Sicht- und Hörbarkeit befreien, es sei denn, man wünscht der Erzählung neues Gehör; weshalb sich queere Menschen in großer Zahl für ein »freies« Palästina einsetzen, dessen Freiheit darin bestünde, queere Menschen an den nächsten Baum zu hängen. Und aus dem richtigen Ansatz, dass die Welt, wie sie ist, eine Welt weißer Gewalt ist, wird der weniger richtige, dass deren Opfer als solche im Recht sind, ob sie nun Juden hassen oder Kinder essen. Als eine indonesische Künstlergruppe, stellvertretend für den sogenannten Globalen Süden, die Kasseler Documenta kuratieren durfte, kam sofort ein antisemitischer Skandal dabei heraus, und die Aufgeklärten, die die westlich-anmaßende Neigung zu »Othering« und »Orientalisierung« monieren, können nicht erklären, warum eine Muslima, die bei dreißig Grad im schwarzen Mantel steckt, während ihr Mann T-Shirt und Flipflops trägt, Produkt meiner Perspektive sein soll und nicht schlicht jenes Patriarchats ist, dem man sonst mit dem Genderstern zu Leibe rückt.

Der andere Blick und die neue Stimme der Minderheiten führen also nicht direkt zu Wahrheit und Aufklärung, und das Interesse, das Identitätspolitik formuliert, wird den objektiven Anspruch auf Freiheit und Gerechtigkeit notwendig subjektivieren: Aktivismus ist, wenn die Community recht hat, schlimmstenfalls im Internet, wo ein Trans-Aktivist der Trans-Kritikerin Joanne K. Rowling vorwarf, sie plane geradezu einen »Genozid«. Wider diese »Kultur der Unerbittlichkeit« (Andreas Reckwitz) bilde ich mir dann immer ein, dass Rowling und ihre Gegner bei einer guten Tasse Tee mal über alles hätten reden können, statt sich per Twitter gegenseitig Faschismus vorzuwerfen, wie ich als guter Liberaler und obendrein Dialektiker sowieso keine andere Wahl habe, als für eine Pluralität zu stehen, mit der die Dialektik erst anfängt. Theodor Fontanes alter Stechlin wusste, dass es etwas ganz Richtiges nicht gibt, und wer sich eine Meinung bilden will, tut das am besten anhand zweier ganz konträrer: So fand zuletzt ein postkolonialer Reader, die vielbeschriebene »Clankriminalität« gebe es gar nicht, sie werde von Medien, Polizei und Politik gegen jede Statistik als rassistischer Popanz aufgebaut; gleichzeitig erschien der Erfahrungsbericht einer türkischen Deutschen, die, als »Insiderin«, nicht unplausibel von ebendiesen Clanstrukturen berichtete, von organisierter Kriminalität und nackter androzentrischer Gewalt. Vielleicht ist es nicht feige, sondern weise, hier nicht zu fragen, wer recht hat, sondern zwei Wahrheiten zu akzeptieren, die einander ja nicht ausschließen müssen, sondern konturieren können: Sicher ist die geflissentliche Rede vom »Ehrenmord« Teil kulturalistischer Zuschreibungen, denn wenn ein abendländischer Deutscher aus Eifersucht mordet, ist der Besitzanspruch derselbe. Das macht einen Mord, der aus einem Quatsch wie »Familienehre« verübt wird, aber nicht ungeschehen, und es wäre eine seltsame Ironie, wenn eine Stimme, die davon berichtet, im Sinne eines neuen, jetzt postkolonialen Hegemonieanspruchs unterginge.

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