Wir kennen sie alle, diese Menschen, die mehr Geld, mächtigere Positionen und reichere Partner abkriegen. Sie sind schön, sie sind charmant, sie sind der Funken, der auf Partys auf jeden überspringt. Das einzige, was über diese Ungerechtigkeit hinwegtröstet, ist das gedankliche Verwenden einer Sauerkirsche unter den Sätzen: »Hat sich wohl hochgeschlafen«. Was in so manchem Fall aus der Vergangenheit vielleicht gestimmt, meistens allerdings auf Frauen abgezielt und den Tathergang wohl eher stark paraphrasiert hat. Denn es ist nun mal so, dass es nicht immer gleich zum Äußersten kommen muss, um seine Vorteile auszuspielen. Die britische Soziologin Catherine Hakim nannte solche Eigenschaften in ihrem gleichnamigen Buch von 2011 schlicht und ergreifend: das erotische Kapital, verbunden mit der Forderung an Frauen, es endlich bewusst einzusetzen und zu monetarisieren. Das war natürlich ein Tabubruch, vor allem, weil es ja stimmt: Ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital ist gut, erotisches on top ist besser. Anders gesagt: Nicht nur Vermögen, Zugang zu Bildung und Kontakten entscheiden über gesellschaftlichen Erfolg, sondern auch Sex-Appeal, eine feine Austarierung verschiedener Komponenten wie Schönheit, Humor, sexuelle Kompetenz und Anziehungskraft. Während Männer ihren Sex-Appeal seit Tausenden von Jahren schamlos einsetzen (Stichwort: charmanter Playboy), sollen sich Frauen bis dato bitte dafür schämen (Stichwort: hübsches Dummerchen). Frauenrechtlerinnen predigen Frauen seit den siebziger Jahren die innere Schönheit, und jeglicher Verbesserungsversuch am eigenen Körper oder Verhalten gilt ihnen als Bestätigung des patriarchalen Narrativs.

Aber es ist, wie es ist: Trotz aller aufrichtiger Bemühungen, die Seele des Menschen in den Vordergrund zu stellen und Äußerlichkeiten so weit wie möglich abzuschaffen (letzter Versuch: Body Positivity), passiert die ganze Zeit das Gegenteil. Dicke Frauen bekommen, wissenschaftlich erwiesen, seltener Jobs als dünne, und wenn, dann weniger Geld, da können noch so viele runde Influencer auf Instagram beschwören, dass sie auch schön sind. Nie haben die Leute mehr Geld für plastische Chirurgie, Kosmetik und Fitness ausgegeben als heute, nie war das Bedürfnis nach Coaching größer, nie war die Spritzenangst (vor der Abnehmspritze Wegovy) geringer als heute. Könnte es vielleicht sein, dass die Kardashians nur deshalb so triggern, weil sie in Wahrheit exakt das machen, was man sich selbst nicht zugesteht, weil es sich einfach nicht gehört? Also: Nase, Hintern und Brüste einfach so lange bearbeiten, bis sie richtig Kohle bringen?

Wie weit einen das eigene erotische Kapital bringen kann, wenn man endlich aufhört, es moralisch zu bewerten, beweist Kim Kardashian ja nun mal mit ihrem Milliardenvermögen. Da können Feministinnen über ihren zugegeben höchst fragwürdigen Geschmack noch so lange die Nase rümpfen. Sex ist Geld ist Macht. Fakt. Selbst das Argument, dass all diese aufgespritzten Insta-Bomben alle die gleichen Wangenknochen, Katzenaugen und Hotdog-Lippen haben, ist ein Rohrkrepierer. Sex-Appeal liegt laut Hakim in Symmetrie und Gleichförmigkeit, diese Regel ließe sich selbst auf Punks anwenden, in deren Gruppe auch wieder eine ganz eigener erotischer Appeal über Sex, also Macht, entscheidet.

Aber benötigt Hakims These nach dreizehn Jahren nicht vielleicht ein Update? Die Lage ist seitdem noch weitaus komplizierter geworden. Die Schlacht ums erotische Kapital wird schließlich schon lange nicht mehr exklusiv unter biologischen Männern und Frauen ausgetragen. Die immer größer werdende Gender Diversity hat das Spielfeld der Macht um viele Player erweitert. Plötzlich also gibt es stark beworbene Herren-Beauty-Produkte wie Sand am Meer. George Clooney und Brad Pitt sind definitiv geliftet, sehr gut, wohl, weil sie ihr erotisches Kapital – bisher extrem effektiv und vorbildlich schamlos eingesetzt – schwinden sehen. Queere Menschen sitzen endlich in Machtpositionen, Transsexuelle haben Beef mit biologischen Frauen, weil sie gegen sie im Sport antreten wollen. Es ist ja hoffentlich auch nur noch eine Frage der Zeit, bis LGBTQIA+ People auch US-Präsidenten oder Siemens-CEO werden. Macht haben sie trotzdem schon, und zwar in der Kultur. Welches Buch darf geschrieben, welcher Künstler ausgestellt und welcher Schauspieler besetzt werden? Auch das sind Machtfragen, auf welche die Antwort in progressiven Verlags-, Kunst- und Kulturinstitutionen immer seltener »mittelalter Heteromensch« lautet. Und das liegt natürlich nicht nur daran, dass ein homosexueller Publisher mit einem Autoren schlafen will. Deswegen muss jetzt die Frage erlaubt sein, ob es im Kampf um Macht doch noch etwas Wertvolleres gibt als den sexy Kardashian-Wangenknochen. Ist nicht in unseren Breitengraden eigentlich die Genderidentität längst das kostbarste erotische Kapital?

Der Antwort kommt man nicht mit Hakim, sondern einem anderen soziologischen Duo näher. Die israelischen Soziologinnen Eva Illouz und Dana Kaplan veröffentlichten 2021 ebenfalls ein Buch über Macht und Sex, Titel: »Was ist sexuelles Kapital?« Darin arbeiten die beiden sich von der sexuellen Revolution bis zum Status quo vor und zeichnen nach, wie ehemals als pervers angesehene Begierden irgendwann in den Fokus einer neuen Ökonomie der Aufmerksamkeit rückten – nicht nur Homosexualität und Bisexualität, auch Sadomasochismus, Fetische, Swingerclubs. Das alles ist heute ja längst salonfähig und gilt nicht mehr als übler Kink, sondern eher als Challenge für den modernen Menschen. Wenn man selbst in der braven Schweiz beim Colakaufen in irgendeiner Raststätte an einem riesigen Sexshop mit Strap-ons und Sadomaso-Grundausrüstung im Schaufenster vorbeispaziert, dann muss man sagen: Yep, da ist was dran – die moralische Einwandfreiheit, die einem vor der sexuellen Revolution den gesellschaftlichen Topspot sicherte, hat sich genau ins Gegenteil verkehrt. Nichts erscheint jetzt so uncool wie eingefahrene sexuelle Muster, wie langweiliger – und, noch schlimmer: seltener – Sex. Man muss als moderner Mensch quasi eine sexuelle Innovation nach der anderen raushauen, als wäre die eigene Sexualität ein Wirtschaftsunternehmen. Die Autorinnen sehen dieses »neoliberale Sexualkapital« als direkten »Schlüssel für die Sphäre der Wirtschaft« (bleiben stichfeste Beweise allerdings schuldig): »Arbeitssoziologen haben festgestellt, dass in der New Economy Privatsphäre und Öffentlichkeit endemisch verschwimmen. Dies bedeutet auch, dass die Arbeitnehmerinnen als Ein-Personen-Marken auftreten müssen. Sie verkaufen also nicht mehr nur ihre Arbeitskraft, sondern ihr ganzes existenzielles Sein.« Demnach häuft der moderne Mensch sexuelles Kapital, ganz so wie Geld, mit möglichst vielen Erfahrungen einfach an und wird dadurch zum interessanteren, attraktiveren, erfolgreicheren Menschen. Das wirft sogar die gute alte Marketingstrategie »Sex sells« über den Haufen, weil es laut Illouz und Kaplan längst andersherum läuft – »Statt zu fragen, wie der Kapitalismus heteronormative und geschlechtsspezifische Drehbücher und Narrative reproduziert, drehen wir die Frage um: Inwiefern tragen die neoliberale Sexualität und der sexuelle Kapitalstock, den sie aufbauen kann, zur Reproduktion des Kapitalismus bei?« Das sexuelle Subjekt wird demnach längst nicht mehr ausgenutzt – es bereichert sich bereits seit geraumer Zeit selbst.

Das Ergebnis wären also zwei Seiten der Medaille: einerseits der jahrelange Mega-Erfolg der »Fifty Shades of Grey«-Bände, diesem feuchten Traum so vieler gutbürgerlicher Frauen. Exotische, aber von der Gesellschaft offensichtlich eingeforderte Sadomaso-Offenheit, allerdings gepaart mit Liebes-Happy-End: Diese Geschichte zumindest zu lesen ist der Ausweg für alle, die dem Narrativ der romantischen Liebe immer noch anhängen und auch von ihm abhängig sind – die meisten Frauen landen nach der Geburt eines Kindes immer noch in Teilzeit, und damit in der wirtschaftlichen Abhängigkeit von einem Mann. Und andererseits die extreme Identifikation mit der eigenen sexuellen Identität. Es ist kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen nicht nur wahnsinnig viele Gedanken über ihr Pronomen machen, sondern dessen Anerkennung stetig einfordern, als hinge davon die Rettung des Planeten ab. »They/them« ist, zynisch gesagt, einfach eine viel größere Kapitalanhäufung als ein einfaches »sie« oder »er«. Insofern war Catherine Hakim ihrer Zeit einfach ein bisschen zu weit voraus: Erst jetzt, so scheint es, machen die Leute, egal ob sie, er oder x, von ihren erotischen Ressourcen ganz bewusst Gebrauch.

Der Traum von der sexuellen Freiheit hat auch wieder nichts anderes hervorgebracht als eine neue Form der Machtausübung. Waren die Eliten früher konservativ, sind sie heute progressiv. Die großen politischen Debatten unserer Zeit, die sich an Körpern und Liebesfragen abarbeiten, am Recht auf Abtreibung und der Ehe für alle: Das sind nur noch letzte Zuckungen, Stellvertreterkriege, welche die Mächtigen von gestern anzetteln, weil sie längst die Deutungshoheit verloren haben. Der große Oscar Wilde wusste das alles natürlich schon viel früher: Alles im Leben dreht sich um Sex, nur nicht der Sex. Der dreht sich um Macht.

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