»Du MUSST die Austern probieren!«, ruft der Mann neben mir an der Bar seiner Verabredung zu, während ich auf meinen Tisch in einem der begehrtesten Restaurants Berlins warte. Es ist neunzehn Uhr dreißig an einem Freitagabend, und ich starte eine aufreizende Beobachtung: Wer genießt es nicht, fremden Dates zu lauschen und zu rätseln, für wen diese Verabredung die Erfüllung aller Träume ist, und wer vielleicht nur seine Zeit absitzt, bis er das Date höflich beenden kann? Das wievielte Date ist es zwischen den beiden, was finden sie anziehend am anderen? Was für Träumen hängen sie an, worüber ärgern sie sich, welchen Berufen gehen sie nach?

Der Mann mit den Austern jedenfalls ist einen Meter fünfundziebzig groß und etwa dreißig Jahre alt. Er trägt einen platinglänzenden Zweiteiler über seiner solariumgebräunten Haut und grüßt überschwenglich jeden einzelnen Kellner. Bei seinem exaltierten Auftreten wundere ich mich, dass er hier Gast ist und keine Songs übers Eimersaufen auf Mallorca performt. Sein Date ist eine Frau Mitte zwanzig im Jackett über einem eng anliegenden, schwarzen Kleid und glitzernden, mit Steinen besetzten Stiefeletten. Ihren Arm ziert eine rosafarbene Lederhandtasche mit goldenem Label – sie sieht aus, als wäre sie zwar zu »Germany’s Next Topmodel« eingeladen worden, aber leider sehr früh im Castingprozess rausgeflogen, und spricht englisch mit russischem Dialekt. Das hier ist offensichtlich das allererste Date, denn die beiden sind aneinander interessiert und das Gespräch läuft flüssig, aber es gibt keine vertrauten Berührungen; sie behandeln sich sehr höflich. Weiterhin lässt alles auf das Match einer Dating-App schließen – laut einer Statista-Umfrage des vergangenen Jahres übrigens der häufigste Weg, wie sich Paare in Deutschland kennenlernen. Sie ist zu Besuch in Berlin, und er hat außer seiner großen Schwester und seiner Mutter keine weiblichen Figuren in seinem Leben. Er erklärt ihr mit großzügigen Gesten, was er am Interieur des Restaurants ändern würde: die antike Kunst durch Pop-Art-Pieces ersetzen, um so die altmodische Architektur der Räume zu konterkarieren. Sie trinken jeweils drei Gläser Rosé-Champagner, und später essen sie nebeneinander sitzend auf einer Eckbank, bevor er sie mit auf ein anderes Stockwerk nimmt, wo man rauchen oder wahlweise im Personaleingang – auch als Gast – ungestört koksen kann. Ein Kellner trägt ihnen auf einem Silbertablett zwei Pornstar-Martini dorthin. Als der Platinanzug des potenziellen Schlagersängers über die Treppe verschwindet, frage ich mich, ob diese Gigolopose seine wahre Persönlichkeit darstellt oder lediglich die Marketingversion seines Ichs.

Denn alle, die daten, wissen: Beim Kennenlernen ist es essenziell, in welchem Licht wir unseren potenziellen Partner das erste Mal sehen – ganz wortwörtlich. Rund ein Drittel der Befragten einer Yougov-Studie gibt an, sich schon einmal auf den ersten Blick verliebt zu haben. Aber wollen wir den Partner im harten, fahlen Licht der Realität erblicken? Die Dating-Community weiß: keinesfalls. Eine ideale Lichtstimmung ist vonnöten, um das Offenbare und das Geheimnisvolle in einem Date zu vereinen, damit wir uns Hals über Kopf verlieben. Dating ist eine Performance, auf die man sich gemeinsam einlässt. Es geht um das richtige Maß der Wahrheit – und darum, so zu tun, als ob.
„Weißt du was, ich ess den Schwan einfach morgen zu Hause«, sagt eine Frau, circa Ende fünfzig, neben mir zu ihrer Freundin im gleichen Alter über ihr opulent in Alufolie drapiertes Mitnehmessen. Beide tragen beigefarbene Strickpullunder mit bunten Seidentüchern um den Hals und waren ins Restaurant gekommen, weil sie durch den Buschfunk gehört haben, hier verkehrten die Stars. Und tatsächlich: Die Dame hat bereits den Schauspieler Armin Rohde an einem Tisch in der Ecke entdeckt. Mittlerweile habe auch ich einen Tisch – für eine Person; kein Date für mich – im brechend vollen Restaurant ergattert. Ich schaue mich im gut, weil indirekt beleuchteten, und mit weißen Tischdecken ausgestatteten Raum um: überall Dates, überall romantisch aufgeladene Zweisamkeit.

Da ist ein Paar bei der Vorspeise, sie Mitte, er Ende dreißig, sie kaut milde gelangweilt auf einem Stück Sauerteigbrot und nutzt ihre Finger, um die Reste von Salbeibutter aus einer kleinen Schale zu schlecken, während er seine Hände als Geodreieck einsetzt, um ihr zu veranschaulichen, wie die Pläne für den Ausbau seiner Galerie vorangehen. Sie nickt kauend, hat einen etwas müden, aber gütigen Blick – von diesen Plänen hört sie offenbar nicht zum ersten Mal. Ihr gewelltes dunkelblondes Haar reicht bis über die Schultern, sie trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, dazu einen Denimrock in zwei asymmetrisch angeordneten Blautönen, was auf eine Profession als Graphikdesignerin schließen lässt. Er – mit zur Seite gegelten, an den Schläfen grauen Haaren – trägt ein schlichtes schwarzes Leinenhemd. Das Gespräch ist durchzogen von langen Pausen, in denen beide im Raum umherschauen. Nach mehreren Jahren Beziehung hat man sich eben nicht mehr die ganze Zeit etwas zu erzählen, und das ist auch in Ordnung so. Sie sind zufrieden miteinander.

Eine ganz andere Energie hingegen strahlt das junge Paar Mitte zwanzig aus, das auf Hockern am Tresen sitzt und aus dem Sichgegenseitiganlächeln gar nicht mehr herauskommt. Seine hellblonden Haare sind auf wenige Millimeter Länge rasiert, er geht ins Fitnessstudio, aber nicht zu viel, und trägt ein lässiges graues Oversized-T-Shirt. Sie, mit einer Bobfrisur im selben Hellblond-Ton wie er, trägt eine goldbraun gemusterte Polobluse mit dunkelbrauner Bordüre an den Ärmeln und am Hals, darüber eine Goldkette, und breite, runde Goldohrringe. Untenrum auch hier ein Denimrock, dieser jedoch bodenlang und monochrom. Wenn ich ihre Haare und ihre Teints sehe, muss ich an Yoghurt-Gums denken, und wahrscheinlich riechen sie auch so: frisch, pink, flaumig. Er studiert vermutlich Sport, sie Kunstgeschichte oder BWL. Die beiden essen gebackene Schwarzwurzeln mit Hollandaise sowie Lauch mit Haselnüssen und Kapern als Vorspeisen. Dabei hält er sich die Hand vor den Mund, um ein wohlig-zufriedenes Gähnen zu verstecken, aber weil er so jung ist, sieht das trotzdem nicht nach Müdigkeit aus, sondern erinnert an einen Golden-Retriever-Welpen, der, sagen wir, spielerisch eine Dose entdeckt. Sie streicht ihm liebkosend über den rasierten Kopf. Dann macht er eine Bemerkung, sie lacht laut und schmiegt sich wohlig an seine Schulter, während er seine Zunge frech auf die Oberlippe beugt und sie dabei etwas kokett aus dem Mund schaut. Sie sind bereits sehr vertraut miteinander, dabei immer noch höchst verliebt. That’s the good stuff: das Filetstück des Kennenlernens. Ich bin Zeuge eines aufreizenden Dates im ersten Jahr einer Beziehung, versus einem routinierten Abendessen im schätzungsweise zehnten.

Meine Aufmerksamkeit wird von Immobiliengesprächen am Nebentisch abgelenkt. Scheinbar eröffnet ein neues Hotel, das Gebäude wurde für knapp acht Millionen erworben. Ein junger Mann im gestärkten Designerhemd mit Punktmuster erzählt seinem Date davon. Er trägt Hornbrille und sieht aus wie ein junger, rothaariger Roger Willemsen. »Where are you from?«, fragt er sein Date etwas gehetzt. »I know you are French, obviously.« Die tiefenentspannte blonde Frau mit griechischer Nase ihm gegenüber antwortet, dass sie aus Paris komme. Umgehend übernimmt der junge Roger das Gespräch: »I love Paris! I might move there. If anything, I want to be between Paris and New York ...« – Bevor er weitersprechen kann, muss er blitzartig auf das Schnitzel vor ihm niesen und versäumt es, dabei das Gesicht in den Ellbogen zu halten. Die Pariserin ignoriert den Vorfall höflich, und Roger lenkt von der Peinlichkeit mit einem Gespräch über Aktien ab. »My brother has never traded stock«, erzählt er. »I’ve been trading stock since I was twelve years old, and my brother is two years older than me, twenty-one months, actually«, prahlt er, begeistert von sich und seinen Errungenschaften. Die Pariserin wirkt unbeeindruckt, doch höflich interessiert am Thema, und überraschenderweise nicht unamüsiert über Rogers Eigenheiten. Als er ihr dann jedoch weismachen will, dass man entgegen der verbreiteten Meinung in Vietnam nicht mit Stäbchen esse, überlege ich kurz, einzugreifen und sein ungefährliches Halbwissen auszuräumen. Da beugt sich die Pariserin nach vorn und klärt ihn lachend auf: Er verwechsle das mit Kambodscha. Sie sei vorigen Monat erst in der Hauptstadt Phnom Penh gewesen, um beruflich ein Zigarettenwerk zu besichtigen. Roger gesteht seinen Fehler ein und kann über sich selbst lachen und ich lehne mich erleichtert zurück: Sie scheinen eine gemeinsame Ebene gefunden zu haben. Dieses Date läuft erfolgreicher, als es zunächst wirkte. Ich prognostiziere unerwartet guten Sex, viele Überstunden, spektakuläre Immobilien – und sehr unglückliche Kinder.

Sehr glücklich dagegen wirkt ein nebeneinander sitzendes lesbisches Paar. Jede der zwei hat einen Arm um die Hüfte der anderen gelegt. Beide haben das kurze Haar in dünnen, wasserwellenartigen Strähnen um ihre Schläfen gestylt und erinnern damit an die Frontsängerin der Band Christine and the Queens. Am anderen Ende des Restaurants sitzt sich ein schwules Paar gegenüber, einer der beiden trägt einen orangefarbenen Pullover über dem Hemd, der andere einen dunkelblauen. Die beiden lachen, sehen aus wie gut situierte Lehrer aus Großbritannien und haben eine fantastische Zeit zusammen. Nicht auf einem Date, weil längst in offenen Beziehungen, sind die sieben schwulen Männer Mitte dreißig, die in high-performing Jobs arbeiten, deren Haut dank Schönheitsbehandlungen zehn Jahre jünger ist als sie selbst, und die sich viel gegenseitig selbst- und fremdbewundernd am Bizeps berühren. Sechs von sieben hatten wahrscheinlich bereits Sex mit dem Kellner. Der Abend schreitet voran, die Hauptspeisen werden abgeräumt, und ich lausche weiter.

»Der Stefan ist die ganze Zeit auf dem Meer, den kriegst du gar nicht vom Schiff runter«, tönt es von hinten. Ich drehe mich um und beobachte ein weiteres Paar auf einem Date. Seine Stirn ist hoch, seine Lippen voll und fleischig. Um seinen linken Arm sind mehrere Perlenarmbänder gebunden (einfarbige aus dem Strandurlaub, nicht die bunten, mit Buchstaben verzierten von Taylor-Swift-Konzerten), um seinen rechten eine silberne Uhr. Er hat etwas von Christoph Waltz. Seine Verabredung ist circa zehn Jahre jünger als er, Typ kompetente Immobilienberaterin, die mindestens drei Jahre Therapie absolviert hat und deswegen ein hohes Level an Empathie besitzt. Nennen wir sie Kirsten. Nachdem Christoph das Dessert für beide bestellt hat, nimmt er sein Smartphone und zeigt ihr Fotos von seinem eigenen Schiff. Immer wieder zoomt er ran auf die Steuerkabine, auf eine weiße Couch im holzgetäfelten Inneren des Schiffs. Kirsten schaut sich die Bilder mit einem Strahlen im Gesicht an. Die beiden teilen sich eine Flasche Rotwein in sehr bauchigen Gläsern, und sie streichelt immer wieder zärtlich sein Bein oder fährt ihm durchs Haar, während er die Hand auf ihren Rücken legt. Es vergeht nahezu kein Moment ohne Körperkontakt. Dieses Paar ist noch nicht lange zusammen. Ganz offensichtlich hat Christoph durch eine neue Frau wieder frischen Wind in die Segel bekommen. Schließlich packt er sein Handy weg, sie schauen sich intensiv in die Augen, Kirsten legt ihre Hand um seinen Nacken. Sie lächeln sich einen Moment an, dann folgt ein langer, langer Kuss. Petri Heil, Christoph und Kirsten.

Ich klappe mein gedankliches Notizbuch zu und resümiere: Die meisten Dates hier sehen aufregend aus, doch woher kann man wissen, was die Aufregung des ersten Flirts und was tatsächliche Chemie ist? Der Mann mit dem Platinanzug und die ehemalige GNTM-Bewerberin kommen aus dem Separee zurück und sehen etwas verschwitzt und desillusioniert aus. Das könnte man als Thrill des Moments bezeichnen. Christoph, der Schiffsbesitzer, wird von Kirsten derweil mit einem Löffel Crème Brûlée gefüttert, was auf weiter währende Kompatibilität schließen lässt. Hier ist die gewollte Illusion geglückt: die richtig getimete Gabe von Informationen, die wie bei gutem Storytelling nach und nach das Bild des zukünftigen Partners enthüllt, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollen. So entsteht fortgesetztes Verlangen.

Während also die Vereinbarungen zum nächsten Date – oder gar keinem mehr – getroffen werden und die Frau mit dem Aluschwan endlich ihr Selfie mit Armin Rohde bekommt, verstehe ich: Für manche Menschen ist es einfacher, einer Illusion zu vertrauen, für manche schwieriger. So haben einige größeren Spaß am Daten, andere weniger. Aber wer sich darauf einlassen und das Spiel des Dates genießen kann, fühlt sich wohl locker, leicht, verführerisch. Wer weiß, womöglich entdecken wir eine neue Seite von uns – im vorteilhaften Licht des anderen.

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