Als »The Matrix«, der erste Teil der Tetralogie der Warchowskis, im Jahr 1999 herauskam, brachte er ganz unbekannte Filmbilder auf die Leinwand. Heute wirkt er wie eine Zeitkapsel und fördert zugleich einen kritischen Blick auf die digitalen Systeme, die uns weiterhin die Welt medial vermitteln. Erinnern wir uns nochmals an die Geschichte: Der Computerhacker Neo (Keanu Reeves) wird seit Längerem von einem Gefühl des Unbehagens heimgesucht. Als hätte er ihn in seinen Gedanken gerufen, taucht ein Fremder namens Morpheus (Laurence Fishburne) eines Nachts bei ihm auf und verspricht ihm, er könne ihm helfen, aus der Schattenwelt, in der er lebt, aufzuwachen – man könnte auch sagen, aus jenem falschen Bewusstsein, dass die Menschen in einem Gefängnis der Wahrnehmungen und Einbildungen eingesperrt hält. Morpheus bietet Neo zwei Pillen an. Wählt er die blaue, bleibt er in der ihm vertrauten Alltagswelt. Wählt er hingegen die rote, begibt er sich auf ein Abenteuer, das ihn die Wahrheit über seine Existenz erfahren lässt.

Unter Verschwörungstheoretiker:innen ist diese Wahl im Netz ikonisch geworden, denn weil Neo sich für die rote Pille entscheidet, gelingt es ihm, sich in eine Welt jenseits der illusionären Simulationen zu begeben, die er bislang physisch wie psychisch für seine realen Lebensumstände gehalten hat. Zunächst nimmt die zu einem flüssigen Spiegel zerronnene Wirklichkeit seinen Körper auf, als wolle sie ihn ersticken. Dann erwacht er in einer schleimigen Glaswanne und begreift, dass er mit langen, schweren, metallenen Schläuchen an ein riesiges Netzwerk angeschlossen ist. Zusammen mit ihm erkennen wir, dass er einer von tausenden verkabelten Menschen ist, die in ihren Kokons schlummern, ohne von ihrer wahren Existenz zu wissen. Eine Maschine taucht plötzlich auf, nabelt ihn von den Schläuchen ab und vollzieht eine zweite Geburt, die einem Aufwachen gleichkommt. Neo fällt durch einen Tunnel, landet zuerst in einem scheinbar unbegrenzten Meer, wird dann von der Maschine durch eine Öffnung weit über seinem Kopf durch ein gleißendes weißes Licht emporgehoben, wo Morpheus ihn empfängt. Die Szene, in der auch wir begreifen, wie das Verhältnis zwischen Traumwelt und realer Welt zu verstehen ist, findet auf einem Hovercraft statt, das den biblischen Namen Nebukadnezar trägt. Die beiden Männer befinden sich in einem weißen Raum. Zwischen zwei Sesseln steht ein Fernseher, auf dem die dystopische Fantasie der Wachowskis nochmals aufflackert. Zuerst sehen wir die Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts, wie Neo sie zu kennen meint, dann folgen Bilder der Welt, wie sie wenige Jahre später nach einem Krieg gegen die Maschinen, geworden ist: eine für Menschen unbewohnbare Wüstenlandschaft, die Morpheus mit dem mittlerweile ikonisch gewordenem Label »desert of the real« bezeichnet. Die Menschen sind darauf reduziert worden, mit ihren Körpern dem Maschinensystem die nötige Energie zu spenden. Von ihrer Versklavung wissen sie nichts, denn die Matrix lässt sie glauben, sie würden weiterhin in ihrer gewohnten Welt leben. In Wahrheit aber ist das, was sie für ihre Realität halten, ein komplexes Computerprogramm, das nur in den manipulierten Gehirnen der Menschen existiert.

Als der erste Teil der Tetralogie herauskam, hat die Kritik diese Scheinwelt mit der von Louis Althusser angebotenen Definition von Ideologie verglichen. Die Matrix, eine simulierte Traumwelt, welche die Menschen in reibungslos funktionierende Batterien verwandelt, stellt demnach das imaginäre Verhältnis dar, das die Menschen im Bezug zu ihren realen Lebensbedingungen unterhalten. Die reale Welt – die durch Kabel vernetzten schleimigen Wannen – ist ihnen dank dieser Verblendung weder intellektuell noch sinnlich bewusst. Nur einige verspüren wie Neo ein Unbehagen, das sie ahnen lässt, dass etwas nicht stimmt. Morpheus versichert seinem erwachten Zögling, es gebe zwar eine klare Trennung zwischen diesen beiden Bewusstseinszuständen. Entweder ist man innerhalb der Matrix und weiß nichts von der eigenen Selbstentfremdung, oder man befindet sich außerhalb dieser, kann aber, während man in einem Traumzustand auf dem Hovercraft liegt, in diese simulierte Welt erneut eintreten. Nahe am Kern des Erdballs hingegen liegt die einzige noch von Menschen beherrschte Stadt Zion. Daraus ergibt sich jedoch auch ein Widerspruch, der das Erlösungsnarrativ, von dem der Film erzählt, durchzieht. Die Befreiung, für die Morpheus und seine Mannschaft ihr Leben zu riskieren bereit sind, ist von den nostalgischen Erinnerungen an eine längst untergegangene Zivilisation geprägt, die auch in Zion nicht existiert. Der Film setzt somit die eine erträumte Welt gegen eine zweite, und bietet damit einen Wettkampf der Illusionsspiele.
Deshalb strebt der von Morpheus geführte Widerstand auch nicht an, die Matrix zu tilgen und somit alle ideologischen Vorstellungen abzuschaffen, welche die realen Lebensbedingungen der Menschen verkleiden. Vielmehr soll der zur Retterfigur deklarierte Neo in dem digitalen Blendwerk eine Störung einführen. Damit wird den Maschinen die Alleinherrschaft über die imaginären Gebilde abgestritten, sodass diese neu ausgehandelt und umbezeichnet werden können. Neo nimmt deshalb den Kampf mit dem Special Agent Smith (Hugo Weaving) auf, jenem Torhüter des Systems, der ihn seit Längerem im Visier hat. Zugleich gibt es in dieser christlich konzipierten Erlösungsgeschichte auch einen Judas: den enttäuschten Widerstandskämpfer Cypher (Joe Pantoliano), der in die Matrix zurückkehren will. Seine Wunschfantasie stellt das bezirzende Gegenbild zu der von Morpheus propagierten Idee des ernüchterten Aufwachens dar und somit eine Feier des Traumzustands.

Während des Treffens mit dem Special Agent, in dem Cypher den Pakt, seinen Anführer zu verraten, besiegelt, sitzen sie in einem Restaurant in der Matrix. Lustvoll versichert Cypher, er wisse zwar, dass die Welt des angenehmen Lebens eine Illusion sei und das Steak, das er gerade genießt, nur eine Simulation darstellt, doch in dieser Verblendung lasse sich besser leben. Zieht er die Seligkeit der Unwissenheit einem Wissen um die wahrhafte Existenz vor, so stellt auch er einen Störfaktor dar; in seinem Fall aber ein Problem in dem von Morpheus konzipierten Rettungsnarrativ. Cypher steht für eine andere Art Widerstand: Für einige könnte es durchaus reizvoller sein, in einer retronostalgischen Traumwelt zu verweilen und die Einsicht in die eigene reale Lebenssituation wieder zu vergessen, statt an einer utopischen Erlösungsfantasie mitzuarbeiten. Die Spannung zwischen diesen beiden Fantasien wird dadurch unterstützt, dass es die simulierte Bildwelt ist, die »The Matrix« dank des gegeschickten Einsatzes von Postproduktionstechniken besonders schillernd auf der Leinwand aufflackern lässt.

Im ersten Teil der Tetralogie bleibt die Auflösung dieses Wettkampfes der Vorstellungen offen. Nachdem Neo in seinem Kampf gegen den Special Agent tödlich getroffen zu sein scheint, gibt die Gefährtin Trinity (Carrie-Anne Moss) ihm den entscheidenden gedanklichen Impuls. Sie versichert ihm, nur das sei wirklich, was seine Vorstellungkraft dafür hält. Eine simulierte Tötung könne weder für seine Erscheinung in der Matrix noch für seinen realen Körper auf der Nebukadnezar Folgen haben, wenn er sich ganz auf seine Einbildungskraft verlasse. Die Filmbilder, die folgen, realisieren diese Überzeugung. Neo kann plötzlich alle auf ihn abgeschossenen Kugeln mit seinem ausgestreckten Arm abwenden. Er nimmt den Special Agent nicht mehr als männliche Erscheinung wahr, sondern nur noch als eine aus den grünen Chiffren der Matrix zusammengesetzte Gestalt. Weil er nicht die Torhüter des Systems, sondern nur noch den sie produzierenden Code sieht, entlarvt er auch die von den Maschinen erzeugte Ideologie in ihrer wahren traumartigen Substanz. Mit diesem Einblick – den wir teilen, weil auch wir die simulierten Bilder plötzlich nur als grüne Code-Welt sehen – schaltet Neo jegliches Angstgefühl aus. Statt zu fliehen, läuft er direkt auf den Special Agent Smith zu, dringt in ihn ein und bricht ihn von innen auf.

Der Widerspruch, mit dem der Film operiert, bleibt dennoch erhalten. Neo kann zwar eine das System angreifende Störung einführen, stützt damit aber eine andere politische Traumvorstellung, die für die Jahrtausendwende charakteristisch war: den Glauben an die Möglichkeit eines radikalen Neuanfangs. Seine Fantasie, er sei zu dem Retter geworden, für den Morpheus ihn immer gehalten hat, obsiegt zwar gegen die Fantasie Cyphers, er müsse den Anführer des Widerstandes zu Fall bringen. Diese Sinnlösung ist jedoch eine weitere Fiktion, auf der wiederum die Serialität des Matrix-Franchise basiert. Es wird eine Fortsetzung geben, kraft derer die Kinoleinwand auch weiterhin als Ort visueller Simulation dienen kann. Zwar wacht Neo nach seinem erfolgreichen Showdown mit dem Special Agent auf der Nebukadnezar in den Armen von Trinity auf, doch in der letzten Szene des Films ist er wieder in der Matrix. Von einer Telefonzelle aus verkündet er die Botschaft, dass eine neue Weltordnung begonnen hat, in der wieder alles möglich ist. Auf dem Bildschirm flackert die Mitteilung »system failure« auf. Dann fährt die Kamera in eine Nahaufnahme von Keanu Reeves, der seine Sonnenbrille aufsetzt und nach oben schaut, bevor er aus der neu kodierten Matrixwelt hinausfliegt.

Für ihn ist das Ende seiner Geschichte und der seiner Mitkämpfer:innen ein offenes. Als »The Matrix« herauskam, entsprach diese Himmelfahrt einer utopischen Hoffnung. Begeistert wollte man darauf vertrauen, dass man der digital produzierten Simulation auch wieder entkommen könnte. Das mag man heute, da die Herrschaft der sozialen Medien und die damit verbundenen Verschwörungstheorien nur allzu deutlich geworden sind, mit wesentlich nüchternem Blick betrachten. Schaut man genauer hin, merkt man, dass dieses Abschlussbild bereits damals ironisch gebrochen war. Den Ort außerhalb des Systems sehen wir nie. Er bleibt ein blinder Fleck auf der Landkarte, welche die Filmbilder der Wachowskis auf der Leinwand über vier Folgen für uns immer wieder veranschaulicht haben.

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