Rund um das Außenbecken lag meterhoch Schnee. Die Gipfel der Berge ragten nach allen Seiten hin in den sich bereits verdunkelnden Nachmittagshimmel. Es war kaum ein Laut zu hören, die Bäume schluckten jedes Geräusch, nur in meinen Ohren pochte nach den Behandlungen des Tages das Blut im Takt meines Pulses. Ich glitt in das warme, salzige Wasser und tauchte unter. Schon seit Tagen fiel der Schnee ohne Unterlass aus den Wolken, es war einer der kältesten Winter der vergangenen Jahrzehnte. Große Teile Europas lagen unter einer dichten weißen Decke. Auch jetzt schneite es, und als ich nach ein paar Sekunden wieder auftauchte, den Kopf in den Nacken legte und mir die Haare zurückstrich, fielen dicke Flocken auf mein Gesicht, wo sie augenblicklich schmolzen. Ich ließ mich einige Minuten lang treiben, starrte hinauf in den rauschenden Himmel und atmete ein und aus. Wenn meine Ohren dabei für ein paar Sekunden lang untertauchten, hörte ich ein tiefes Dröhnen. Über der Wasseroberfläche war wieder alles still. Als ich mich nach einer Weile in Bauchlage drehte und in Richtung Aufgang schwamm, legte eine Frau von vielleicht Mitte dreißig ihren Bademantel ab und stieg mit federnden Schritten unmittelbar vor mir ins Wasser. Ich sah, dass ihre Wangen und ihre Stirnpartie von einer vermutlich gerade beendeten kosmetischen Anwendung glühten. Ihr Körper war durchtrainiert, drahtig, doch anmutig, und als sie mir scharf in die Augen sah, wandte ich meinen Blick abrupt ab, um ihr zu erkennen zu geben, dass ich ihre Nacktheit keinen Moment zu lang betrachten würde. Ich trocknete mich in der klirrenden Kälte ab, streifte mir den Bademantel über, und erst als ich die Tür zum Innenbereich öffnete, drehte ich mich noch einmal kurz nach ihr um – die Frau schwamm langsam, ich sah nur ihren über das Wasser dahingleitenden Hinterkopf.

Tags zuvor war ich auf Anraten meiner Frau Imogen hierhergereist. Hoch in die Berge Südtirols, ins San Vita, ein luxuriöses Gesundheitsresort, das erst vor rund zwei Jahren eröffnet hatte und mit seinem ganzheitlichen Ansatz aus Naturheilkunde und Spitzenmedizin seither international für Aufsehen sorgte. Auf der minimalistischen Webseite stand nur ein einziger Satz, dunkelgrau auf weiß:

Länger besser leben.

Imogen hatte entschieden, dass ich meinem Problem, das längst zu unserem Problem geworden war, dass ich meinem »Zustand«, wie sie es nannte, noch einmal anders begegnen müsste. Dass nur hier, in den Dolomiten, auf tausendfünfhundert Metern Höhe, abgeschottet von den Ablenkungen des Alltags, eine Lösung gefunden werden konnte. »Du musst es versuchen«, hatte sie noch am Tag der Abreise gesagt und meine Hände mit ihren umfasst. »Gib Professor Trinkl und seinem Team zumindest die Chance, dir zu helfen!« Seit Wochen wehrte ich mich dagegen, machte ihr Vorwürfe, verlor immer wieder die Nerven. Ich glaubte nicht daran, dass Prof. Trinkl mir würde helfen können, aber dass ich meiner Frau so ablehnend und gereizt begegnete, war selbstverständlich bereits Teil meines Problems, das weiß ich jetzt.

(...)

Mindestens eine Woche, besser zwei oder drei, würde ich nun bei Prof. Trinkl in den Bergen verbringen. Imogen hatte bei einem Abendessen ihres Galeristen erstmals vom San Vita erfahren, sie hatte aus erster Hand von Menschen gehört, die, wie es hieß, von Grund auf verändert von dort zurückgekehrt waren. Und obwohl ich ihr zu verstehen gab, dass ich die Kosten für Aufenthalt und Behandlung entschieden zu hoch fand, obwohl ich sie davor warnte, mich im San Vita heimlich einer Seelenschau unterziehen lassen zu wollen, ließ sie keine Widerrede gelten und arrangierte alles. »Sei unbesorgt, es ist etwas anderes«, sagte Imogen bei meiner Abreise. »Im San Vita ist alles anders.« Ich musste zumindest so tun, als würde ich daran glauben. Es war meine letzte Chance. Und so war ich gegen meinen erklärten Willen hierhergekommen.

Bedingt durch die extreme Witterung erreichte ich den winzigen Bahnhof in Terlan erst mit drei Stunden Verspätung. Es war bereits stockfinster. Als einziger Passagier stieg ich aus und sah in dem dichten Schneegestöber die Hand kaum vor Augen. Ich versuchte, das Resort telefonisch zu erreichen, doch eine Verbindung ließ sich nicht herstellen. Plötzlich sah ich, zunächst schemenhaft, dann immer deutlicher, eine gedrungene, winzige Gestalt auf mich zukommen. »Verzeihung?«, rief ich ihr zu, da war sie schon ganz dicht an mich herangetreten, lächelte und streckte die Hand nach meinem Gepäck aus.

»Darf ich?« Der Mann war beinahe so breit wie hoch, er erinnerte mich an einen Zwerg. Ich nickte.

»Schön, dass Sie es geschafft haben. Wir haben uns bereits Sorgen gemacht«, sagte er mit einer gepressten Stimme, in seinem Bart glitzerten ein paar Eiszapfen.  »Wenn Sie mir bitte folgen wollen? Es ist nicht weit.«

Mit festem Schritt stapfte er voraus, meine Reisetasche über seine rechte Schulter geworfen, das dichte Fell seiner Kapuze wippte vor mir auf und ab.

»Sie haben hier aber nicht seit drei Stunden auf mich gewartet?«, rief ich ihm zu und lachte, und er drehte sich um und lachte nur zurück, da erreichten wir die schmale Straße. »Bitte verzeihen Sie die Umstände.« Er deutete auf einen uralten roten Fiat Panda, der mit laufendem Motor im gelben Licht einer Laterne stand. »Mit schwereren Autos kommen wir nicht gut durch die Serpentinen.« »Natürlich«, antwortete ich und zwängte mich auf die Rückbank, während der kleine Mann meine Tasche im Kofferraum verstaute.

Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde. Draußen vor dem Fenster war nicht das Geringste zu erkennen. Mein Fahrer sprach kein Wort mehr, und auch ich stellte keine Fragen. Einmal stöhnte er leise und riss hektisch das Lenkrad herum, ohne dass das Auto eine besondere Wende gemacht hätte. Erst jetzt bemerkte ich, dass mit seinem linken Arm etwas nicht stimmte. Er lenkte und schaltete nur mit der rechten Hand. Wir glitten dahin. Ich hatte mich in losen Gedanken verloren, als wir wie aus dem Nichts zum Stehen kamen und im Scheinwerferlicht des Fiat ein schweres Eisentor aufschwang. Vor uns lag die hell erleuchtete Einfahrt einer Tiefgarage, die unmittelbar in den Berg hineinführte.

Noch in dem Moment, da ich aus dem Wagen stieg, nahm mich eine Ärztin im weißen Kittel in Empfang. Sie führte mich aus der kargen Garage hinaus in ein Treppenhaus und weiter ins Atrium. Überall knarzte das Holz, das Licht war warm und wohlig, es duftete nach Zirbe und aromatischen Ölen.

»Im Namen von Professor Trinkl heiße ich Sie herzlich willkommen. Hatten Sie eine gute Reise?« Ich lächelte verkniffen.

»Sie haben gleich Gelegenheit, sich auszuruhen«, sagte sie. »Wir müssen nur noch rasch einen Blick auf Sie werfen. Es geht auch ganz schnell.«

In einer Art Aufnahmezimmer legte ich hinter einem Paravent meine Kleidung ab und gab sie mitsamt meinen Wertgegenständen in eine weiße Kunststoffbox. Auch mein Telefon durfte ich nicht bei mir behalten. Stattdessen fand ich später auf dem Sekretär meiner Hütte einen Füllfederhalter, mit dem ich rund um die Uhr Nachricht und Empfänger auf einen Bogen Papier notieren konnte, um, sobald eine Antwort vorlag, diese, ebenfalls handschriftlich, zugestellt zu bekommen.

 Lediglich meine goldene Armbanduhr behielt ich an – Imogen hatte sie mir vor ein paar Jahren gekauft, eine kleine Überraschung, und ich hatte sie seither kein einziges Mal abgelegt. Ich streifte die bereitliegende Unterwäsche aus angenehm weicher Baumwollgaze über und trat halb nackt hinter dem Paravent hervor.

Ich durchlief ein Belastungs-EKG sowie eine Koloskopie, eine Assistentin maß meinen Puls und Blutdruck und schloss mich zur Überprüfung der Lungenfunktion an eine mit zahlreichen Schläuchen und Pumpen versehene Maschine an. Schließlich schoben mich zwei Pfleger der Länge nach in einen Kernspintomographen. Nachdem ich all diese Tests hatte über mich ergehen lassen, gab ich eine Harn- und Stuhlprobe ab, wurde für die erste Nacht mit zwei Sensoren an den Schläfen versehen, und zuallerletzt nahm man mir drei Ampullen Blut ab, sodass mir beim Aufstehen kurz schwarz vor Augen wurde.

»Damit haben Sie das Unangenehmste auch schon hinter sich«, sagte die Ärztin mit einem Lächeln, »ab jetzt geht es nur noch bergauf. « Und dann gingen wir gemeinsam meine Termine für die kommenden sieben Tage durch. Ein straffer Zeitplan der Säuberung und Regeneration lag vor mir, der – wie sie es ausdrückte – vollständigen Neuorganisation meiner Selbstheilungskräfte.

Es fiel mir schwer, mich auf all ihre Erklärungen zu konzentrieren. Doch ich nickte verständig, tat nach der langen Reise ganz einfach, was sie von mir verlangte, und verschwand im Anschluss an ein leichtes Abendessen, bei dem ich nur etwas gedünstete Forelle und zwei kleine Salzkartoffeln zu mir nahm, in meine Holzhütte, wo mich bereits eine handschriftliche Nachricht von Imogen erwartete.

Wenn du das hier liest, hast du schon viel geschafft. Ich bin unglaublich stolz auf dich. Die Leute sagen, Professor Trinkl könne zaubern. Es heißt, er blicke direkt in die Menschen hinein und nehme sie als sie SELBST wahr! Bitte lass es einfach geschehen. Und dann kommst du geheilt wieder zurück. Abgemacht?

Nichts versetzte mich zu jener Zeit in größere Panik als die Vorstellung, jemand könnte in mich hineinsehen. Trotzdem machte ich mich gleich an eine Antwort und schrieb, einerseits, weil es der Wahrheit entsprach, andererseits, weil ich wusste, dass Imogen es von mir erwartete, zwei kurze Sätze auf das bereitliegende Papier:

Ich liebe dich. Und: Das werde ich.

Die erste Nacht im San Vita verbrachte ich in gewohnter Nervosität. Ich fand in dem riesigen Zirbenholzbett, unter den schweren, gestärkten Oberbetten, keine Ruhe. Mitten in der Nacht wachte ich auf, und nach ein paar Momenten der Orientierung nahm ich die Beißschiene aus dem Mund, ging barfuß über die warmen Holzdielen zum Fenster und schaute hinaus in die eisklare Nacht.

Hier und da flackerte noch Licht in den anderen Hütten, die sich rund um einen kleinen, vermutlich künstlich angelegten See reihten. Aus ihren Schornsteinen stieg dünner Rauch auf, sonst regte sich weit und breit nichts. Der Schneefall hatte ausgesetzt, ein greller Vollmond stand hoch am Himmel, nur ganz langsam zogen einzelne Wolken an ihm vorbei, und erst jetzt erkannte ich, dass das Resort von dichtem Wald umgeben war. Alles im San Vita war zur Ruhe gekommen. Ich warf mir eine Wolldecke über, schlüpfte in die samtenen Hausschuhe und trat hinaus auf die Terrasse. Mein Atem schlug aus. Irgendwo rief ein Kauz. Dann wieder Stille. Ich verlor mich in Gedanken, als ich plötzlich ein Knacken im Unterholz hörte. Etwas kam langsam aus dem Wald und näherte sich über die geschlossene Schneedecke dem Haupthaus. Ich sah eine dunkle Gestalt, die ein totes Tier hinter sich herzog und dabei eine tiefe Spur hinterließ. Vor einem der Seitenflügel blieb sie stehen, öffnete eine in den Boden eingelassene Tür und verschwand die Treppe hinunter – und ich meinte zu hören, wie der Kopf des Tieres Stufe für Stufe dumpf auf Beton schlug. Erst kurz vor Sonnenaufgang schlief ich noch einmal ein.

 

 

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