In einer Welt, in der die großen Erzählungen fehlen, sucht sich jeder seine eigene. Was hält die Welt im Innersten zusammen, wer oder was bestimmt den Lauf der Dinge? Es kann doch nicht nichts sein. Gott ist vielleicht tot, aber wer ist an seine Stelle getreten?
In unserer Gegenwart fächern sich die Antworten auf diese Frage breit auf. Die einen lassen sich von Astrologen individuelle Horoskope erstellen oder konsultieren dafür Apps wie Co-Star. Andere möchten mithilfe hoher Dosen psychedelischer Substanzen oder durch Meditation zum Kern der Dinge vordringen und lassen sich danach den Rilke-Satz »Die einzige Reise ist die Reise nach innen« (hat er so nie geschrieben) auf den Unterarm tätowieren. Wiederum andere ziehen sich durchgehend schwarz an, legen sich Pentagramm-Ketten um den Hals, rufen in spiritistischen Sitzungen nach den Geistern ihrer Ahnen und posten dann schnell geschnittene Clips ihrer okkulten Erfahrungen unter #witchcore auf Tiktok. Diese Praktiken – es gibt natürlich noch unzählige mehr – sollen den Nebel der als illusionär erfahrenen Wirklichkeit auflösen und die geheime Macht, die über mein und unser aller Schicksal bestimmt, offenbaren: die Sterne, Gaia oder das Eine und Absolute.
Waren Astrologie, transzendentale Meditation oder Séancen seit den 1960er Jahren eher in New-Age-Zirkeln und der esoterischen Szene angesagt, breiteten sie sich über die nächsten Jahrzehnte immer weiter im Mainstream aus und sind heute selbstverständlicher Teil der Pop-und Jugendkultur, der Lifestyle-Industrie und Modewelt. In den vergangenen Jahren griffen High-Fashion-Label wie Gucci, Dior oder Vetements immer wieder auf die okkulte Zeichenwelt zurück. Vielen ist dabei nicht bewusst, dass sie damit einer Lehre nahestehen, die ihren Anfang vor 150 Jahren nahm, und einer Frau, die damals ebenfalls den Okkultismus aus den dunklen Sphären der Geheimwissenschaft in das Licht der breiten Öffentlichkeit hob. Sie entwickelte eine spiritistische Praxis, die einen Stufenweg vorsah. Auf ihm verlässt man nach und nach unsere Wirklichkeit, die durch unsere fehlerhaften Sinne nur als Schatten des eigentlichen Wahren erfahren werden könne, in Richtung einer absoluten Realität, der alles entstammt. Man steigt empor wie aus Platons Höhle. Keine Illusionen mehr, nur noch gleißende, endgültige Wahrhaftigkeit.
Diese Frau hieß Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891), sie war Spross der russisch-deutschen Aristokratie. Schon als Kind soll die Geisterwelt mit ihr kommuniziert haben, sie las Schriften der Freimaurer, es war ihr selbstverständlich, dass sie zu Höherem berufen war.
Blavatsky, von ihren Anhängern HPB genannt, begann mit 18 Jahren eine »spiritual journey«, die sie nach New Orleans führte, wo sie den Voodoo-Kult studierte, im Iran lebte sie mit Sufi-Derwischen, in der Mongolei tauchte sie mit Schamanen ins Jenseits ein, sie reiste nach Ägypten und letztlich nach Indien, um Buddhismus und Hinduismus aus der Nähe kennenzulernen. Zwischendurch hatte sie, nach eigenen Angaben, einen Auftritt mit Clara Schumann, war Matrosin, kämpfte an der Seite Giuseppe Garibaldis für die Unabhängigkeit Italiens. Blavatsky verstand es also, eine Trickster-Biographie zu entwickeln, bei der niemand wusste, was Schein und was Sein war.
Um ihre angebliche Fähigkeit, Verbindungen zum Übersinnlichen herzustellen, weiterzugeben, gründete sie zusammen mit dem Anwalt Henry Olcott 1875 in New York die Theosophische Gesellschaft. Ihre Anhänger beschäftigten sich mit Phänomenen wie der Seelenwanderung, meditierten, um ihr Ego aufzulösen, beschäftigten sich mit hinduistischen und buddhistischen Lehren, aber auch mit okkulten Praktiken wie Telepathie, Auralesen oder dem Verlassen des eigenen Körpers, um zu Astralreisen aufzubrechen.
Blavatsky selbst sah sich als Mittlerin allmächtiger Meister, der »Großen Weißen Bruderschaft«. Mitglieder seien Jesus, Buddha, Pythagoras oder der Hindu-Heilige Manu, die nach ihrem physischen Tod als Geistwesen weiter auf der Erde geblieben waren, jeder mit einer Spezialfähigkeit ausgestattet wie Marvels X-Men. Besonders wichtig für Blavatsky waren die indischen Meister Moray und Koot Hoomi, ihre Mahatmas, die angeblich in einer unterirdischen Stadt in Tibet wohnten. Die beiden flüsterten Blavatsky, so sie selbst, ihre Hauptwerke ein: »Isis Unveiled. A Master-Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology« (1877) und »The Secret Doctrine. The Synthesis of Science, Religion, and Philosophy« (1888). Im Verborgenen kämpfte die Bruderschaft gegen dunkle Mächte, die der Menschheit großen Schaden zufügen wollten. Blavatsky bediente sich bei der Ausformung der Geschichte ausgiebig bei den Mysterien der Rosenkreuzer, die in verschiedenen Romanen, etwa beim Goth-Autor Edward Bulwer-Lytton, unsterblich und mit magischer Superpower gewappnet sind. Es ist letztlich die Geschichte, die in »Krieg der Sterne« oder in Superhelden-Comics immer wieder durchgespielt wird und Grundlage vieler Verschwörungsmythen ist: ein verborgener Kampf zwischen Gut und Böse, von dem die Normalos gar nichts mitbekommen, zwischen Wesen mit außerordentlichen Fähigkeiten.
Blavatskys Bücher wurden, obwohl schwer lesbar, Bestseller und hatten großen Einfluss auf Kunst- und Intellektuellenkreise in Europa und den USA, waren aber auch in vielen anderen Milieus erfolgreich. Sie und die Theosophie brachten einen Zauber zurück, der durch die schnell voranschreitende Industrialisierung und die rationale Deutung der Wirklichkeit durch die Naturwissenschaften verloren zu gehen schien. Unsere Welt sei eben nicht nur durch kühle physikalische Gesetze bestimmt, sondern jeder Stein, jede Pflanze, letztlich jedes Atom besitze ein Bewusstsein. Unsere Umwelt sei beseelt und um Zugang zu ihr zu finden, müsse man sich in einen anderen Bewusstseinszustand versetzen. Etwa durch Meditation oder Spiritismus. Blavatsky setzte mit der Theosophie eine Entwicklung in Gang, die ihr später den Titel »Mutter des New Age« einbrachte, die aber auch schon früher eine starke Wirkung entfaltete. Okkulte Elemente in einer Melange aus Mystik, Neopaganismus (Hexen, Magier, Satanisten), Buddhismus und Yoga waren etwa in den kulturell avancierten Kreisen der 1920er Jahre en vogue. Mel Gordon schreibt in seinem Buch »Voluptuous Panic. The Erotic World of Weimar Berlin«, dass es um diese Zeit in Zentraleuropa über zweihundert mystische Sekten und Geheimgesellschaften gegeben haben soll. Mehr als zwei Millionen Deutsche hätten sich dort mit den Lehren der Rosenkreuzer oder Freimaurern, Astrologie, Gläserrücken oder Sexmagie beschäftigt. Weitere acht Millionen seien informell an den abseitigen Praktiken interessiert gewesen. Ob diese Zahlen stimmen, lässt sich schwer nachprüfen.
Die Theosophie hinterließ zu Beginn des 20. Jahrhundert jedenfalls ihr Signum. In zahlreichen esoterischen Zirkeln, aber auch in der Kunst. Wassily Kandinsky (1866–1944) nennt die Theosophie in seiner kunsttheoretischen Schrift »Das Geistige in der Kunst« (1910) »eine der größten spirituellen Bewegungen« und eine Gegenkraft zu Sozialismus, Kapitalismus, Materialismus und Positivismus. Der Maler Piet Mondrian war Mitglied der niederländischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und der Künstler Max Beckmann zeichnete Entwürfe zur Theosophie, nachdem er Blavatskys »The Secret Doctrine« überaus beeindruckt gelesen hatte. Der Literaturnobelpreisträger William Butler Yeats (1865–1939) war für eine gewisse Zeit Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und Bewunderer Blavatskys, so wie Rudolf Steiner (1861–1925), der dann 1910 seine eigene anthroposophische Gesellschaft gründete.
Zu dessen Anhängerinnen gehörte die schwedische Malerin Hilma af Klint (1862–1944), die in den vergangenen Jahren zu einer Art Kunststar aufgestiegen ist. Seit ihrer Jugend war sie glühende Anhängerin der Theosophie. Af Klint, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Schweden als Landschaftsmalerin bekannt, unterhielt mit vier Frauen einen okkulten Zirkel, den sie »Die Fünf« nannten. In spiritistischen Sitzungen traten sie in Kontakt mit höheren Mächten oder eben Blavatskys »Meistern«. Hilma af Klint malte deren Botschaften in Trance. Es entstanden nonfigurative Bilder in einer Art automatischer Malerei, wie sie später die Surrealisten institutionalisierten. In einer frühen Werkphase versammelte sie noch organische Formen, etwa blütenähnliche Gebilde, auf der Leinwand. Doch bald, etwa in der Reihe »Ur-Chaos« (1906/07), wandte sie sich der reinen Form zu: Zu sehen sind spiralartige Gestalten. Ihre Serien, wie etwa die berühmte Bildfolge »Schwan« (1914), folgen dem Weg vom Gegenstand zur totalen Abstraktion, in der sich das ursprüngliche Objekt in Form und Farben auflöst. Spätere Arbeiten wie der »Standpunkt Buddhas auf der Erde« (1920) verschieben diese Bildwelt, die mit einem okkulten Farb- und Symbolsystem versehen ist, noch einmal in Richtung strenge Geometrie.
Hilma af Klint ging ab dem Jahr 1906 konsequent in die Abstraktion. Also bevor Kandinsky, Piet Mondrian oder Kasimir Malewitsch sich in ihrer Kunst von der sichtbaren Wirklichkeit entfernten und das »Geistige«, wie Kandinsky es beschrieb, erkundeten. Auf ihre Weise malte af Klint jedoch gegenständlich, nur dass sie eben keine sichtbaren Objekte abbildete, sondern geistige Entitäten, die für sie letztlich realer und greifbarer waren, weil sie durch eine Innenschau zu ihr kamen und nicht durch die fehlbaren Sinne vermittelt wurden.
Mit Hilma af Klint schließt sich ein Kreis. Von Blavatsky zu den okkulten Symbolen und Spielereien auf Social Media. Von Theosophie über New Age zu Witchcore. Auf Instagram gibt es über neunundachtzigtausend Beiträge über af Klint, beeindruckend für eine Künstlerin, die in den vergangenen hundert Jahren über weite Strecken nur in anthroposophischen Kreisen anerkannt war. Erst in den 1980er Jahren wurde sie vom Kunstbetrieb entdeckt und erlebte in den zurückliegenden zehn bis fünfzehn Jahren eine nicht enden wollende Konjunktur. In dieser Zeit waren ihr über ein Dutzend große Retrospektiven gewidmet, etwa im Hamburger Bahnhof in Berlin, im Guggenheim New York, im Lenbachhaus München oder in der Art Gallery of New South Wales in Sydney. Sie wird nun als völlig gegenwärtiges Kunstphänomen verhandelt, was nicht nur an ihrer Vorreiterrolle für die abstrakte Kunst liegt. Ihre Bilder sprechen heute gleichermaßen verschiedene Zielgruppen an: Man kann in ihnen Figurationen eines individuellen Spiritualismus sehen oder abstrakte Darstellungen eines ekstatischen Zustandes. Praktizierende von Meditation und Yoga können sich darin genauso wiederfinden wie Anhänger:innen von Mystik und Neopaganismus, die mit Gegenwartskunst sonst nichts am Hut haben. Sie schwärmen genauso von Hilma af Klint wie Vertreter:innen einer aktivistisch betriebenen Kunstgeschichte, der es um Positionen jenseits des männlichen Kanons geht. Alle finden sie in ihren Bildern den Zauber des Jenseitigen, wo eine allumfassende Einheit und Harmonie herrscht. So weit weg vom fragmentierten Erleben der Wirklichkeit zwischen Screens und Newsalert. Endlich Ruhe vor einer durch Krisen aufgerauten Gegenwart, vor den sich beschleunigenden Veränderungen. Sie sind damit durch ein unsichtbares Band mit den Theosophen des beginnenden 20. Jahrhunderts verbunden und deren Sehnsucht nach einer illusionsfreien absoluten Realität.