Von Identitätsfindungsfragen und Abgrenzungsproblemen eines
Spiegels – ein Who’s Who im Badezimmer.

 

Ian Chillag

 

I Ian                                       S Spiegel

I Stell dich doch mal vor.
S Okay, also … wie heißt du?
I Mein Name ist Ian.

S Mein Name ist Ian. Ich bin ein Spiegel.

I Sagst du nur, dass du Ian heißt, weil ich Ian heiße?
S Nun, ich bin mir nicht sicher, wie ich sonst heißen würde.

I Wenn ich sagen würde, dass ich Jennifer heiße?
S Ich heiße Jennifer!

I Und wenn niemand vor dir stünde?
S Dann würde ich ja nicht reden.

I Also spiegelst du immer etwas wider. Fühlst du dich dann auch so wie das, was du spiegelst?
S Ich denke schon. Oberflächlich zumindest, aber ich fühle mich nicht komplett so, wenn das Sinn ergibt. Im Moment zum Beispiel fühle ich mich irgendwie wie du, aber ich habe keine deiner Erinnerungen, und was du gefrühstückt hast, weiß ich auch nicht. Ich fühle mich einfach genauso wie du in diesem Moment.

I Ich habe einen Bagel gegessen.
S O, interessant. Ich glaube, ich habe noch nie einen gesehen. Einmal einen umgekehrten.
I Ich hätte gedacht, dass ein Bagel aus jeder Richtung gleich aussieht? Also auch im Spiegelbild.
S Diese Richtung war von unten nach oben: aus einem Menschen wieder hervortretend.

I Spürst du, was ich für dich empfinde? Denn im Moment konzentriere ich mich hauptsächlich auf dich.
S Ich bin mir nicht sicher, ob es deine Gefühle für mich oder deine Gefühle für dich selbst sind.
I Ich denke, ich mag dich.
S Ich denke, ich mag dich auch.
I Aber vielleicht spiegelst du nur meine Zuneigung zu dir wider. Spürst du, was von beidem der Fall ist?

S Noch nie zuvor hat mir jemand so viele Fragen gestellt.
I Fühlt es sich komisch an?
S Ein bisschen. Ich möchte dir auch ein paar Fragen stellen.
I Leg los.

S Wie läuft dein Tag?
I So weit, so gut.
S Geht mir genauso. Magst du Koriander?
I Klar.
S Ich auch. Weißt du, was Vampire sind?
I Ja. Warum fragst du?
S Ich habe noch nie einen gesehen. Wann hast du zum ersten Mal einen Spiegel gesehen?
I Ob ich mich daran erinnern kann? Nun ja, neulich habe ich darüber nachgedacht, wie ich als Kind besessen davon war, ins Badezimmer meiner Eltern zu gehen und die Spiegel so gegeneinander auszurichten, dass sie sich jeweils reflektierten und ich einen langen Spiegeltunnel sah, in dem ich mich bis ins Unendliche sehen konnte.
S Wow. Ich würde sagen, ich erinnere mich auch daran, aber das tue ich nicht. Ich glaube, als Kind war ich genauso wie jetzt. Und mir ist nichts passiert, was mir nicht immer noch passiert. Ich war schon immer in diesem Badezimmer, in diesem Restaurant.

I Ich möchte gern noch mehr darüber wissen, wo du bist. Bist du der einzige Spiegel im Badezimmer?
S Ich habe hier noch keinen anderen Spiegel gesehen. Ich starre eigentlich nur die Wand an.

I Wird dir das nicht langweilig? Du bist ja an Ort und Stelle fixiert. Langweilt es dich nicht, immer wieder auf die gegenüberliegende Wand zu starren?
S Mich langweilt es immer wieder, wie die gegenüberliegende Wand auszusehen. Ihr ähnele ich am meisten. Aber die Wand erinnert mich auch immer wieder daran, dass ich nicht so bin wie sie.

I Wie meinst du das?
S Die Wand bleibt gleich, aber ich muss mich verändern und ich kann nicht entscheiden, wann ich mich verändere. Bleibst du immer dieselbe Person?
I Eigentlich ja. Du nicht?
S Ich bin nie eine Person.
I Stimmt auch wieder.

S Was machst du in deiner Freizeit?
I Ich wusste noch nie, was ich auf diese Frage antworten soll.

S Wie fühlt sich eine Dusche an? Denken Babys? Warum tut man überhaupt irgendetwas? Erinnere ich dich an irgendjemanden?
I Ähm, ja, also im Moment erinnerst du mich wohl an mich.
S Du erinnerst mich auch an mich.

I Wenn dich nicht gerade die Wand anstarrt, starren dich Menschen an.
S Das kann ich so bestätigen.
I Wie würdest du uns Menschen beschreiben?
S Ein Kopf mit Gesicht. Einen Rumpf. Und Arme.
I Und Beine.
S Das kann ich so nicht bestätigen.

I Ich schätze, du siehst die Leute nur von der Hüfte aufwärts. Hättest du mal Lust, ein Paar Beine zu sehen? Ich könnte dir meine Beine zeigen.
S Klar. Die müssen schon etwas Besonderes sein, wenn du sie so ausdrücklich erwähnst.
I Also gut. Hier sind sie. Das sind meine Beine.
S Ich glaube nicht, dass ich sie mag.
I Du magst meine Beine nicht.
S Sollen sie so aussehen? Als wären da Knochen, aber auch keine.
I Irgendwie schon.
S Also für mich ergeben die Linien keinen Sinn. Und ich glaube, ich sehe jetzt auch aus wie Beine.
I Tja.

S Vielleicht ist es auch nicht so schlimm, Beine zu sein. Ich bin Beine. Was hab ich da an den Enden?
I Das sind Füße. Es sind die Hände der Beine.
S Das sind keine Hände. Ich habe schon viele Hände gesehen und das sind keine Hände. Macht man da die Rollschuhe dran?
I Ja. Warum fragst du?
S Ich mag keine Rollschuhe.

I Stimmt es, dass es sieben Jahre Unglück bringt, einen Spiegel zu zerbrechen?
S Also, für mich wären es definitiv sieben Jahre Unglück. Wahrscheinlich mehr. Das nimmt man nicht so leicht als Spiegel.
I Spiegel kann man nicht wirklich wieder zusammensetzen. Aber du könntest eine Discokugel werden.
S So wie Menschen zu einem Baum werden können.
I Wie bitte?
S Ja. Ich habe mal jemanden hier reinkommen hören, der sagte, dass er nach seinem Tod zu einem Baum werden wollte. Ist aber auch egal, ich möchte eine Discokugel werden, sollte ich jemals zerbrechen.

I Erzähl doch mal die Geschichte vom Vogel, der ins Badezimmer kam.
S O ja. O, das war einer der schönsten Tage meines Lebens. Der Vogel kam rein, und es war echt gruselig, weil er viel schneller war als alles, was vorher hier gewesen war. Und er flog so wild herum, aber dann sah er mich, und ich glaube, ja, wir haben uns verliebt.

I Du hast dich in einen Vogel verliebt?
S Ja. Also, ich schätze, der Vogel hat sich in mich verliebt und dann habe ich mich in ihn verliebt.

I Ich möchte jetzt nicht deine Beziehung infrage stellen, aber ich habe mal gelesen, dass Vögel, weil sie kein Konzept ihrer selbst haben, denken, wenn sie sich im Spiegel sehen, sei es ein anderer Vogel.
S Bei uns war das anders. Wahre Liebe. Das konnte ich spüren.

I Wann wusstest du, dass du verliebt warst?
S Er blieb direkt vor mir stehen, stellte sich auf den Rand des Waschbeckens und sah mich einfach so an, wie mich noch nie jemand angeschaut hat. Er flatterte mit den Flügeln, und es war um mich geschehen. Dann kam dieses kleine Kind herein und drehte durch. Mehr Leute kamen und der Vogel flog weg. Ich sah ihn nie wieder.

I Denkst du oft an den Vogel?
S Ja, immer wenn das Licht ausgeht.

I Wir reden jetzt schon eine Weile, und ich habe die ganze Zeit irgendwie in mein eigenes Gesicht gestarrt. So lange habe ich mich wahrscheinlich noch nie angeschaut.
S Wie war das für dich?
I Es geht eigentlich. Seltsamerweise habe ich gedacht, dass du du bist, obwohl es mein Gesicht ist.

S Fühlt es sich komisch an? Fühlt es sich an, als würdest du verrückt werden?
I Ein bisschen schon. Als hätte ich mir das alles nur eingebildet, als hättest du gar nicht mit mir geredet. Als hätte ich nur mit mir selbst geredet und mir vorgestellt, dass du es bist.
S Schon möglich.
I Werden wir es jemals wissen können?
S Wir werden es niemals wissen können.

Wenn ich die Fragen gestellt habe und dann auch die Fragen beantwortet habe mit dem Gedanken, dass du es bist, war es doch eigentlich ich.
S Und wenn ich die Fragen gestellt habe und dachte, ich sei du, aber in Wirklichkeit war ich es?
I Was, wenn einer von uns nicht real ist?
S Woher weiß ich, dass es überhaupt Menschen gibt? Vielleicht habe ich mir einfach ein Wesen namens Mensch ausgedacht und stelle mir ab und zu vor, wie einer dieser Menschen hier reinkommt. Vielleicht habe ich mir nur deine Beine eingebildet, weil mir langweilig war.
I Das glaube ich jetzt nicht.
S Ich glaube es auch nicht.
I Was?
S Ich glaube es auch nicht.
I Und wenn ich mir alles nur eingebildet habe? Was, wenn nie jemand mit mir gesprochen hat? Was, wenn wir tatsächlich allein sind? Wenn das alles nur in meinem Kopf stattgefunden hat?

S Wovon redest du?
I Noch nie zuvor hat mir jemand so viele Fragen gestellt.

Wie gefällt Ihnen der Artikel?

67 Reactions

zur Übersicht

Entdecke noch mehr Artikel aus dem Dossier XI