Die Unwirklichkeit der Welt, sie kann uns schon am Frühstückstisch heimsuchen.
Ich meine, for real: Nehmen wir an, auf dem Tisch stehen zwei Marmeladengläser, Erdbeere und Kirsche. Beide unangetastet und beide zweihundertfünfzig Gramm schwer, aber ein Glas ist von einer anderen Marke und deshalb kleiner als das andere. Wenn wir nun beide Gläser gleichzeitig anheben – was absolut realistisch ist, an unserem imaginären Frühstückstisch gibt es zwei Brötchenhälften und wir wollen uns marmeladensortentechnisch auf keinen Fall einschränken –, wird uns das kleinere Glas schwerer vorkommen als das Größere.

Was ist echt, was bilden wir uns ein?
Während wir noch mit dem Zerschneiden des Brötchens beschäftigt waren, hat unser Körpergedächtnis bereits vorgeplant. Zum Anheben des kleineren Glases wurde weniger Kraft einkalkuliert als für das größere – nach dem Motto: Kleine Sachen sind leicht, große schwer, das haben wir schon immer so gemacht. Dass beide Gläser in Wirklichkeit gleich schwer sind, überrascht unseren Körper so sehr, dass er das kleine Zweihundertfünfzig-Gramm-Glas SUPERanstrengend findet. Und zwar nur deswegen, weil es kleiner ist. In der Wahrnehmungspsychologie nennt man das Charpentier’sche Täuschung. Oder auch Größen-Gewichts-Täuschung. Please try this at home.

Bilden wir uns ein, was echt ist?
Die Geschichte mit den Marmeladengläsern mag als Party-Anekdote funktionieren, sie hat aber auch das Zeug dazu, uns in eine Existenzkrise Descartes’schen Ausmaßes zu befördern. Wenn uns unsere Wahrnehmung schon beim morgendlichen Brötchenschmieren hinters Licht führt, kann im Grunde die ganze Welt, wie wir sie kennen, eine Täuschung sein. Theoretisch könnten wir einfach in Wassertanks eingebaute Gehirne sein, die eine komplette Welt inklusive Kirschmarmelade herbeihalluzinieren. Auf nichts ist Verlass. Also, außer auf uns selbst vielleicht: Ich denke, also bin ich. Okay, aber taugt das Denken, die Vernunft überhaupt noch dazu, so etwas wie Wahrheit zu schaffen? Ist Vernunft noch der Common Ground für ein gemeinsames Verständnis der Welt? Das kann man schon mal infrage stellen. Ich meine: Gucken wir uns doch mal um. So richtig unerschütterliche Wahrheiten scheint es kaum mehr zu geben.

Ist echt, was wir uns einbilden?
Der Papst in übergroßer weißer Daunenjacke und Cross Chain um den Hals. Drip-Level unendlich. Die Tatsache, dass wir echt lang gebraucht haben, um darauf zu kommen, dass es sich bei dem Bild um ein Fake handelt, ist nicht sehr ermutigend. Vor allem, wenn man die Geschwindigkeit berücksichtigt, in der die künstliche Intelligenz, die das Papst-Abbild geschaffen hat, zu lernen in der Lage ist. Wir können davon ausgehen, dass es immer unbequemer werden wird, echte Nachrichten von falschen zu unterscheiden. Und wir wären keine Menschen, würden wir nicht den Weg des geringsten Widerstandes bevorzugen. Die Versuchung ist groß, sich als Maßstab dafür, ob eine Nachricht echt oder unecht ist, auf so was wie ein Bauchgefühl zu verlassen. Was empfinde ich, wenn ich eine Nachricht lese? Fühlt sie sich echt an? Oder ist vielleicht nur das Gefühl, das sie in mir auslöst, echt? Dann wird es schon passen – oder?

Ist es echt eine Einbildung?
Freilich, jemand wie Jean Baudrillard wird da nur müde mit den Schulten zucken. Für den Philosophen wurde das Reale eh bereits unwiederbringlich durch Zeichen des Realen ersetzt. Instagram or it didn’t happen. Oder: In einer Welt, in der wir schon beim Marmeladenkauf gezwungen sind, andächtig ganze Regalmeter entlangzuschreiten, auf der Suche nach Resonanz in unserem Innersten auf irgendwelche Gläschen, Verpackungen, Werbeversprechen, ist uns sowieso nicht mehr zu helfen. Aber was sollen wir machen? Hochglanz, Oberfläche, Narrative sind a hell of a drug. Weil, ganz ehrlich: Es funktioniert. Das Glück, das mir das Marmeladenglas beim Kauf verspricht: Ich kann es tatsächlich spüren.

Wirklich, was bilden wir uns ein?
Ich zerstör’ Illusionen wie Dieter Bohlen. Hat der Rapper Seyed mal gesagt. Dieter, hilf uns! Wie kommen wir raus aus dem Karussell der Illusionen? Der Soziologe Andreas Reckwitz hat immerhin ein Buch mit dem Titel »Das Ende der Illusionen« geschrieben. Die größte Illusion, sagt er, sei der Glaube an den immerwährenden Fortschritt der westlichen Gesellschaften. Aber es gibt Hoffnung. Der Weg zu so etwas wie dem Wahren, Schönen, Guten ist nicht versperrt. Und die Richtung ist: Solidarität und gemeinschaftliche Verantwortung für die Gesellschaft. Das wäre wirklich mal was Neues. Ist aber nur möglich, wenn wir uns von all den glänzenden, oberflächlichen Illusionen verabschieden und den Traum von der perfekten Welt durch Konsum und Technik aufgeben. Marmeladengläser werden uns dann immer noch ungleich schwer vorkommen, je nach Größe. Aber es wäre uns egal, was auf dem Etikett steht. Klingt doch eigentlich gut, oder?

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