Gabi ist mit den Fotos nicht zufrieden. Sie taucht mit geschlossenen Augen unter Wasser und behutsam wieder auf, dabei legt sie ihren Kopf in den Nacken. Ihre schwarzen Haare liegen frisch schimmernd über den akzentuierten Schlüsselbeinen und fließen ihr in einem glatten Strom den Rücken hinunter. Sie zieht das nasse Feinrippunterhemd fest nach unten und strafft es wie eine zweite Haut. Dieses Mal achtet sie sorgfältig darauf, dabei nicht die Sicht auf ihren Po in dem schwarzen Bikinihöschen zu verdecken. Jetzt noch einen Träger verschieben, um die Tanline freizulegen. Nach einem prüfenden Blick auf ihre Brüste beginnt sie, der Kameralinse verschiedene Posen anzubieten.
Mike bewundert, wie sie die Außenwelt ausblenden kann. Es ist zwar noch früh morgens, aber auf dem Badegerüst am Diana-Felsen ist schon reger Betrieb. Golden Ager absolvieren ihre Morgenroutine und schwimmen in kräftigen Zügen dem Horizont entgegen. Ein muskulöses Männchen mit Glatze macht Gymnastik. Es strotzt seinem Alter und bewegt sich wie ein junger Turner. Ein dünner Spargel campiert neben drei Grazien. Er macht einen Annäherungsversuch und platziert seine Gitarre in ihrem Hoheitsgebiet. Dabei wirkt er so sexy wie ein evangelischer Religionslehrer, der fest daran glaubt, die Herzen beim Singen zu gewinnen.
Danke für diesen guten Morgen. Danke für diesen neuen Tag. Mike summt ein Lied aus der Schulzeit, wie ein Schatten springt der Text von der Wand seines Unterbewusstseins und tanzt durch seinen Kopf. Danke für diesen guten Morgen. Danke für diesen neuen Tag. Im Rhythmus der Melodie spannt er Trizeps und Bauchmuskulatur an. Während er Gabi fotografiert, kneift er die Arschbacken zusammen, um bei den jungen Italienerinnen einen günstigen Eindruck zu machen.
Unter die Einheimischen mischen sich die Frühaufsteher aus Hotels, Fremdenzimmern und privaten Unterkünften. Er hört Französisch, Deutsch, Spanisch und Russisch. Die Russen hatte er vorhin schon mit bösen Blicken bestraft. Seit der Invasion in die Ukraine stehen sie bei ihm automatisch unter Generalverdacht. Auf der Treppe zum Wasser entwickelt sich ein Stau. Hinter Gabis Hinterteil reihen sich Badende auf, die unterschiedlich zufrieden in den schwachen Wogen treiben, sich an Gottes Natur erfreuen und geduldig darauf warten, dass sie, also Gabi, die Badeleiter freigibt. Einige Herrschaften scheinen zu hoffen, dass der Augenblick verweilt, Mike wird es latent unangenehm. So ungesittet am Strand, das fühlt sich nicht richtig an. In Spanien und Frankreich sind die Frauen oben ohne. In Albanien sind die Strände menschenleer. In Italien ist das wieder anders. Wieso eigentlich? Der Papst? Die Kirche? Die Sexualmoral? An den alten Griechen oder an den Römern kann es nicht liegen, die haben es bunt getrieben. Sei’s drum. Andere Länder, andere Sitten. Andere Titten, hatte Ludwig immer gesagt, »Andere Länder, andere Titten«. Von wegen Titten. Mike will Gabis Nippelshow beenden und legt sich demonstrativ ins Zeug, Gabi mit einer Bilderflut aus verschiedenen Einstellungen zu befriedigen.
It’s a wrap. Er liegt auf dem Rücken und denkt an das römische Reich. Das Wort Solarium lässt ihn träumen. Solche Begriffe leben in Italien einfach fort. Solarium. Er denkt an die Römer, die hier die griechische Kolonie eroberten. An den römischen Legionär, der Archimedes erschlug.
»Störe meine Kreise nicht«, waren seine letzten Worte. Zu Schulzeiten hatte Mike es geliebt, das Zitat auf dem Pausenhof auszupacken. »Störe meine Kreise nicht, Ludwig!« klingt so viel besser als »Geh scheiß’n, Wiggerl«. Seine Gedanken schlingern. Er bräunt sich gerne. Vitamin D. Außerdem steht es ihm einfach besser. Er ist halt ein südländischer Typ. Bleich geht gar nicht, da sieht er aus wie eine Leiche. Im Winter geht er daher ins Solarium nordischer Art, mit künstlicher Bestrahlung, Augenschutz, Lendenschurz und Zehn-Minuten-Taktung. Unter der Sonne Siziliens gefällt es ihm natürlich viel besser. Er denkt an seine Freunde in Wien, die sich gerade durch herbstliches Sauwetter quälen. Er freut sich tierisch. Da hat es ihn besser getroffen. Wer hätte das damals gedacht, nach der Matura? Seine Kameraden sind grau geworden. Je besser der Notenschnitt, desto schwerer hat es sie erwischt. Sie quälen sich durch ihre Berufe in Kanzleien, Großraumbüros und Kreativstudios. Sie haben Kinder, Autos, Häuser und keinen aufregenden Sex mehr. Sie sind alt geworden. Er ist jung geblieben. Sein Undercut ist frisch rasiert, seine ironischen Tattoos vermehren sich, seine Haut ist gut geölt und vergilbt nicht.
Neben ihm wird Gabi unruhig. Sie fängt an, ihre Sachen zusammenzulegen und in ihrem Strandbeutel zu verstauen. Mike würde lieber ausgiebig schwimmen gehen, aber er weiß, dass da nichts zu machen ist. Er dreht ihr noch eine Zigarette an, um sich ein bisschen Zeit zu erkaufen. Aber nur die eine, sagt sie. Mit angezogenen Beinen kaut sie Kaugummi und raucht gleichzeitig. Schwermütig blickt er auf das Meer. Die steigende Sonne lässt es glitzern. Er spürt eine Verbindung mit den Zeiten. So schön die Pausen auch sein mögen, Gabi hat ja recht. Sie sind hier zum Arbeiten. Workation.
In der Mittagspause gehen sie zum Markt. Schnell treiben sie in einem Touristenstrom, der aus dem Nichts entspringt und sie mitreißt. Gerade waren sie noch am Apollon-Tempel und haben sich die alten Steine angeschaut, jetzt sind sie Teil einer Herde, die sich selbst durch den Markt schleust. Nicht jeder Stand in der Ladenzeile ist offen, aber drei Marktschreier genügen, um sagenhaften Lärm und Betriebsamkeit zu entfachen. Weil Gabi und Mike einen produktiven Vormittag verbracht haben, lassen sie sich Zeit. Sie halten bei einem Händler, der seine Austern mit Diego Maradona bewirbt und für jede Bestellung einen Plastikbecher Hauswein verspricht. Gabi und Mike sind sich einig: Work hard, play hard. Nach zwei Runden Austern erwähnt Gabi, dass sie heute sonst noch nichts gegessen hatte. Mit dem Wein wird es Mike zunehmend egal, dass er keine italienische Grammatik beherrscht, dass er im Grunde genommen keine zwanzig Worte Italienisch kann. Auf Italo-Spanisch redet er fröhlich auf den Händler und seinen Standnachbarn ein, einen Zwerg, der mit Heilkräutern handelt und einen Dialekt spricht, den außerhalb seines Bergdorfs sowieso niemand versteht. Gabi entschuldigt sich und übergibt sich ein paar Schritte weiter in einer schmalen Seitengasse. Sie wischt sich den Mund mit einer Serviette ab, nimmt einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche und kehrt zu den neuen Freunden zurück, als Mike eine dritte Runde Wein mit einer symbolischen Auster bestellen will. Gerade rechtzeitig brüllt sie ihm ins Ohr, was ihr soeben passiert ist und dass sie jetzt gerne den Aperitivo abschließen würde. Nicht mehr ganz so laut fügt sie hinzu, dass es jetzt an der Zeit sei, im Lokal eine schöne Flasche Weißwein zu bestellen. aufreizend flüsternd: einen Grillo. Eiskalt. Mike findet den Vorschlag großartig. Gabi mag zwar eine zierliche Mädchenfrau sein, aber hart im Nehmen ist sie. Das gefällt ihm. Sie lassen sich auf einer Terrasse auf der Marktgasse nieder. Zum Grillo bestellen sie ein Fritto Misto und eine Carbonara di Mare. Interessiert beobachten sie das Treiben: »C’est très touristique«, sagen Franzosen, »Do you have fish?« fragen Amerikaner den Kellner, der zwischen Fischauslage und Frutti-di-Mare-Dekoration steht. Untereinander unterhalten sie sich ausufernd über ihre »Gelato«-Erfahrung. Die Deutschen schweigen, um nicht als Touristen aufzufallen. Sie spielen Italiener, die Rolle ihres Lebens, und glauben, sie fallen nicht auf.
Dann teilt sich das Meer und ein Kreuzfahrtschiff-Kapitän tritt auf die Bühne. »Capitano Schettino auf Freigang«, scherzt Mike. Der Herr der Meere stolziert in seiner schneeweißen Galauniform umher und versucht, den Mädchen schöne Augen zu machen. Auch Gabi steuert er an, die seine Blicke nicht nur erwidert, sie fixiert ihn geradezu, leckt mit ihrer Zungenspitze über ihre Oberlippe und überschlägt die Beine so langsam, dass er ihr Höschen mehrere Semester studieren könnte. Nervös dreht Schettino ab. Mike und Gabi lachen herzlich und bestellen sich jeweils noch ein Glas Weißwein. Weil es halt so schön ist.
Das Gefängnis von Bourbon liegt verlassen neben dem Markt am Rande von Graziella, dem ehemaligen Fischerviertel, wo die Kleinkriminellen in Ruhestand gegangen sind und Leute aus dem Norden ein Häuschen erworben haben, die nun ihrerseits im Rentenalter den Süden gentrifizieren. Die Lage und die Dimensionen des freistehenden Objekts sind spektakulär. Der Grundriss ist ein Rechteck mit einer Seitenlänge von vierzig mal fünfundvierzig Metern. Die dreistöckige Ruine erreicht eine Höhe von fünfundzwanzig Metern. Es wurde 1854 fertiggestellt und war zeitweise eines der modernsten und fortschrittlichsten Gefängnisse in Europa, bis es das Erdbeben Santa Lucia 1990 aus dem Dienst beförderte. Die Einheimischen nennen es »Casa cu n’occhiu« (Haus mit einem Auge), da es nach den Prinzipien des britischen Philosophen Jeremy Bentham geplant wurde. Eine polygonale Struktur mit einem Wachturm in der Mitte ermöglichte dem Aufseher ständige Kontrolle, ohne dass die Insassen bemerkten, dass sie beobachtet wurden.
Mike braucht nicht viel Fantasie, um das Potenzial zu erkennen. Weißwein zum Mittagessen und ein geschulter Blick in die unmittelbare Nachbarschaft genügen: Es sind nur wenige Meter vom Markt. Die Yachten der Gäste könnten gleich dahinter im Hafen anlegen. In der Ferne reihen sich die Basilica Santuario Madonna delle Lacrime und der Etna am Horizont vor der Bucht auf. Den makellosen Meerblick stört nur die Parkgarage, mit einer Begrünung könnte man das Problem aber ästhetisch lösen und sich zudem ein ökologisches Image verschaffen. Vielleicht sogar eine Sehenswürdigkeit schaffen und einen Kakteenpark platzieren, der die Anlagen auf Ischia oder Lanzarote alt aussehen lässt? Mit den richtigen Mitteln sollte es auch möglich sein, einen Beachclub am Dock zu installieren. Dort könnten die Gäste direkt mit ihren Beibooten ankommen. Und durch einen Tunnel in das Hotel gelangen, abgeschirmt von der Außenwelt. Hollywood will nicht gesehen werden. Hotel Pannottico. A Luxury Resort. Mikes Begeisterung kennt keine Grenzen.
Erst als sie durch ein Loch im rostigen Stahlzaun klettern, bemerken Mike und Gabi die beiden französischen Geschäftsmänner, die sich auch Zutritt zu dem Areal verschafft haben und sich angeregt, von Geldströmen und Reichtümern halluzinierend, unterhalten. Sie sind sicherlich nicht die ersten Immobilienentwickler, die die Beute wittern und hier herumdelirieren. In ihren gut betuchten Anzügen und den akkurat gescheitelten, geföhnten Frisuren wirken sie wie Boten aus einer anderen Welt.
Grußlos und entschlossen geht Mike an den beiden Haifischen vorbei zum Haupttor. Gabi wiegt kurz ihre Hüften für die Frenchies, dann beginnt sie, vorsichtig über Scherben und Schutt tippelnd, Mike zu folgen. Er ist ungewöhnlich unruhig. Eigentlich mag er Lost Places und den speziellen Nervenkitzel, der sich dort einstellt. Der Location-Check im leerstehenden Gefängnis lässt ihn schaudern. Was für Verbrechen mochten die Insassen wohl begangen haben? Wen diese Wände eingesperrt haben, um die Gesellschaft zu schützen? Wer sonst geht durch das Tor ein und aus, seitdem es ausgehängt ist und offensteht? Mit tiefen Atemzügen kann er das Ohnmachtsgefühl überwinden und zwängt sich durch den offenen Türspalt ins Innere. Im gedämpften Licht tappt er einige Meter in das Gebäude, bevor er an einer Stelle stehen bleibt, von der Durchbrüche in Räume führen, die wiederum in andere Räume führen, die in andere Räume führen. Er schaltet seine Handytaschenlampe an und mustert die unübersichtliche Lage. Vor ihm führt der Flur wahrscheinlich zum Treppenhaus. Links fühlt sich besser an. Wegen des direkten Tageslichteinfalls wirkt es weniger unheimlich. Er klettert über Müll und Geröll in den ersten Raum. Am Boden befinden sich Spuren eines Lagerfeuers. Leere Konservendosen und Bierflaschen sind in einer Ecke verteilt. An der Wand entdeckt er ein Graffito: »SEMBRA CHE HO IL CA**O LUNGO 1m«. Daneben illustriert ein Riesenschwanz den Spruch. Mike muss schmunzeln. Für diesen Hinweis reicht sein Italienisch.
Geräusche lassen ihn aufschrecken. Hinter ihm ist jemand. Ruckartig fährt er um sich und sieht, wie Gabi sich in den Raum tastet. Erleichtert atmet er auf. Ach, du bist es – für Location-Checks solltest du vielleicht besser keine Stöckelschuhe tragen. Schau dir das Graffito an, da steht »Es scheint, dass ich einen meterlangen Schwanz habe«. Auch das Tageslicht ist super hier. Er lacht. Da könnte man schon was machen, oder? Gabi nickt passiv. Sie teilt seine Leidenschaft für Ruinenbegehungen nicht, folgt ihm aber, schließlich sind sie ein Team und der Erfolg spricht für sich. Dort, wo er hofft, etwas zu entdecken, fürchtet sie sich aber insgeheim davor, etwas zu entdecken.
Und dann hören sie Geräusche. Woher sie kommen, können sie nicht feststellen. Verstört schauen sie in alle Richtungen. Dabei sehen sie aus wie zwei Rehe im Scheinwerferlicht eines Autos, das sie im nächsten Augenblick überfahren wird. Fallen im ersten Stock Katzen fauchend übereinander her, sind es Seufzer aus der Vergangenheit, oder ist es nur die Meeresbrise, welche die Ruine klappern lässt? Will man die Ursache überhaupt kennen? Raus hier, flüstert Gabi. Ja genug, wir sind fertig hier, lass uns Kaffeetrinken gehen. Mike versucht, lässig zu bleiben, dabei hat er Angst vor seinem eigenen Schatten.
After Work. Mike und Gabi unternehmen eine Bootsexkursion. Ihre Kollegin Rosa hat empfohlen, mit einem umgerüsteten Fischerboot einen Ausflug an die Küste der Isola di Siracusa zu machen. Sie treffen sich am Hafen. Rosa sieht großartig aus, ihre dicken, braunen Locken springen in Spiralen in alle Himmelsrichtungen, in der Mitte ihr fröhliches Gesicht mit den smaragdgrünen Augen. Ihr Badeanzug hat einen tiefen Rückenausschnitt und legt ein schönes Muster Muttermale frei, darüber trägt sie eine knappe Jeansshorts. Mike kann ihr partout nicht zustimmen, nein, ihre Zwillinge haben diesen Körper nicht zerstört. Gemeinsam gehen sie an Bord. Rosa hat sie auf die Gästeliste gesetzt, daher können sie ohne Fahrschein passieren. Sie steigen über eine Leiter auf Deck und suchen sich einen Platz. Gabi legt sich in eine Hängematte, die parallel zur Reling gespannt ist. Rosa und Mike sitzen auf bunten Campingstühlen. Gemeinsam bilden sie einen geschlossenen Kreis. Das Boot legt ab.
Im Seegang baumelt Gabi metronomisch in der Hängematte. Die Sonnenbrille steht ihr schief im Gesicht und sie wirkt etwas zerzaust. Sie erklärt Rosa, dass sich das ja schon beinahe wie die Black Mamba anfühlt, ein Fahrgeschäft auf dem Prater, und schlägt vor, besser eine Flasche Weißwein zu bestellen, so sei das ja nicht auszuhalten. Mike geht unter Deck, um den Wein, drei Plastikgläser und einen Kühler zu holen. Auf dem Weg mustert er die restlichen Passagiere. Zwei Familien haben ein größeres Camp errichtet. Die beiden Buben daddeln am Smartphone. Die Eltern unterhalten sich laut und leider auf Deutsch.In Berlin sind Herbstferien. Investment-Talk. Um das zu unterstreichen, trägt eine Frau sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift »BITCOIN«. Starkes Statement, denkt sich Mike. Und fragt sich, ob wohl ihre Kinder ihren Körper auf dem Gewissen haben oder sie schon immer ein Nilpferd war? Bodyshaming. Mike schämt sich. Manche Dinge erträgt er einfach nicht und fährt aus seiner Haut. Nicht okay. Kinderlärm ist so ein Trigger. Oder Unordnung. Offene Schranktüren, der falsche Tisch im richtigen Restaurant oder dieses lässige Genie der BITCOIN-Bros. Die Kryptokumpels spüren seine Feindseligkeit nicht und rufen sich ungehemmt weitere Buzzwords zu, während sie Flaschenbier trinken.
In der Hängematte neben ihnen schläft ein Typ. Mike beneidet seine Gelassenheit und nimmt sich vor, sich eine Scheibe davon abzuschneiden. Während er den Wein einschenkt, kommt er aus seinen Gedanken zurück und versucht sich aus den Bruchstücken des Gesprächs der Ladys einen Reim zu machen. Rosa erklärt: Wer laufen konnte, hat Sizilien verlassen. Zurück bleiben nur die, die es nicht geschafft haben zu fliehen. Oder die in die Unterwelt gehen. Selbst die Nymphe Arethusa hat dort, durch ihren unterirdischen Flussverlauf, weitreichende Verbindungen. Gabi lacht etwas zu laut. Mike merkt, dass sie auch keinen Schimmer hat, was das mit Nymphen zu tun hat. Rosa führt aus, dass leider auch nur diejenigen hinzukommen und sich hier ansiedeln, die aus guten Gründen vor ihrer Heimat fliehen und den brain drain mit ihren zweifelhaften Biographien schwer auffangen können. Sobald sie also laufen kann, sobald ihre zwölfjährigen Zwillinge volljährig sind, wird auch sie weg sein. Das hat sie sich geschworen. Sie würde am liebsten nach New York ziehen. Aber auch Wien interessiert sie, ob es denn stimmt, dass dort die Lebensqualität so hoch sei, jedes Jahr wieder liest sie in der Zeitung diese Liste der lebenswertesten Städte und fragt sich, was das bedeuten mag, lebenswert.
Mike verteilt die Gläser. Erst jetzt bemerkt Rosa ihn, unter der kubistischen Sonnenbrille erröten ihre Wangen. Sie besinnt sich darauf, Berufliches von Privatem zu trennen, und lenkt das Gespräch zum Immobilienmarkt und seinen lokalen Eigenheiten. Dafür zeigt sie auf die Küstenlinie von Isola, an der sie, weniger als vierhundert Metern entfernt, entlangschippern. Seht her, genau genommen ist es ein Naturschutzgebiet. Bebaut ist es ja offensichtlich trotzdem. Wie man gut sehen kann. Aus der Vogelperspektive, vom Land und vom Wasser. Noch besser: ohne Auflagen! Keine Einschränkungen. Illegal, scheißegal. Ihr solltet euch die verlassene Ferienanlage an der Punta della Mola ansehen. Diese Ruinen warten auf eine Inszenierung. Sie zwinkert den beiden zu. Seht ihr den Pool da? Mike und Gabi folgen ihrem Zeigefinger mit den Augen: An einer Klippe hängt das Kopfende eines Schwimmbeckens. Die Kante ist unter der Last eingeknickt, ein Teil des Pools ist mit ihr abgebrochen und abgestürzt. Hinter dem ausgetrockneten, zerbrochenen Becken krallt sich die Villa auf dem Felsen fest und verteidigt Träume mit Meerblick. So sieht ein Infinitypool aus, wenn man den richtigen Fixer kennt. Das sollte das Symbol Siziliens sein, das auf die Flagge gehört. Nicht diese dreibeinige Gestalt, aus deren Vagina ein Kopf rausschaut.
Sie ankern vor der Küste und hängen die Badeleiter ins Wasser. Als Mike die Planke betritt, hat er noch immer das Wort Vagina in seinen Ohren, genau so, wie es Rosa mit ihrem breiten italienischen Akzent auf Englisch über die Lippen kam. Vagina. Er federt im Seegang auf und ab. Vagina. Am höchsten Punkt springt er ab und setzt einen makellosen Köpfer an. Splash. Vagina. Wieder an Deck holt er die zweite Flasche Wein. Auf Deck legt ein DJ Italo-Disco und Ibiza-House auf. Die BITCOIN-Bros und -Schwestern tanzen losgelöst. Als Donatella Milanis »Ci Stai?« angespielt wird, zieht Rosa Mike aus der Hängematte, um Gabi und ihr zu folgen. Barfuß und in nasser Badekleidung kreisen sie tanzend um sich. Rosa erwischt Mike, wie er sie beobachtet, mit softer Begier. Sie lächelt ihn an, dann dreht sie sich weiter und schreit den Refrain über das Ionische Meer in den Nahen Osten. Der DJ liest die Signale. Als Nächstes erklingt eine Hymne von Rihanna, Rosa und Gabi explodieren gleichzeitig. Sie liegen sich in den Armen und schmettern: »’Cause I didn’t mean to hurt him / Coulda been somebody’s son / And I took his heart when I pulled out that gun / Rum-pum-pum-pum / Rum-pum-pum-pum / Rum-pum-pum-pum / Man down …«
Mikes Seele ist in Schwingung. Damit angefangen hatte sie, als sie in der Abenddämmerung nach Ortygia zurückgekehrt waren. Vor der Hafeneinfahrt lag ein Boot der zivilen Seerettung mit spanischer Flagge. Unweit von zwei italienischen Fregatten. Im Westen ging die rote Sonne über Isola unter, im Osten flog ein Schwarm Stare fantastische Formationen über der Arethusa-Quelle. An der Promenade standen Paare. Ineinander verschlungen blickten sie auf den Sonnenuntergang oder fotografierten sich gegenseitig.
Wenig später liegt das Boot im Hafen vertäut. Rosa hat sich mit einem flüchtigen Kuss auf die Wangen von Gabi und Mike verabschiedet und ist mit ihrem Scooter losgeknattert. In dem Tempo wird sie eine Weile brauchen, um über die Landstraße nach Augusta zu gelangen, um bei ihren Eltern das Abendessen und Ratschläge fürs Leben zu bekommen, die Zwillinge mit nach Hause zu nehmen und ins Bett zu stecken. Mike und Gabi sitzen vor einer Bar an der Arethusa-Quelle und starren in das Lichtspiel, das die rote Sonne in der Abenddämmerung hinterließ. Wieder ein Tag weniger auf der Erde. Gerade hatte Mike die Nachricht erhalten, dass sein bester Freund Vater geworden war. Baby geht’s gut. Frau geht’s gut. Alles gut. Schon wieder verpasst Mike etwas Monumentales, weil er auf Dienstreise ist. Ein afrikanischer Straßenhändler spürt sein plötzliches Unglück und tut das, was ihn das Leben gelehrt hat: Er macht das Beste draus und macht geschäftliche Avancen. Diese Powerbank porta fortuna! Echt, die Powerbank bringt Glück? Aber ja doch! Lachend gibt Mike ihm einen Euro. Der Afrikaner lächelt ihn breit an und zieht weiter.
Vor ihnen hält eine zur Rikscha umgerüstete Ape. Auf der Rückbank sitzen zwei amerikanische Senioren in amerikanischen Seniorenuniformen: Er trägt dieses Granddaddy-Nike-Modell, Bermudas und ein weites Polohemd. Sie eine kurze Leggings, ON-Turnschuhe, ein Trägershirt und eine Schirmmütze, die ihren Fahrer wie einen Golf-Caddy aussehen lassen würde, wenn er nicht so vor Sprezzatura strotzen würde. Mit der Sonnenbrille in den zurückgegelten Haaren beugt er sich über sein Telefon und spricht lange auf Italienisch hinein. Als er fertig ist, dreht er sich zu seinen Passagieren auf der Rückbank und lässt die englische Übersetzung abspielen: Arethusa war einst eine wunderschöne Nymphe, die sich gern der Jagd und dem Sport hingab. An einem heißen, sonnigen Tag stieg sie in den Fluss Alpheios, um darin zu baden. Dabei wurde sie von dem gleichnamigen Flussgott überrascht und bedrängt. Auf ihrer Flucht konnte Arethusa die Göttin Artemis um Hilfe bitten. Artemis verwandelte die verzweifelte Nymphe in eine Quelle, deren Bächlein unter der Peloponnes und unter dem Meer hindurchfloss und auf der Halbinsel Ortygia, einem Teil von Syrakus, wieder austrat. Die weibliche Maschinenstimme wird von einem Anruf unterbrochen, den der Fremdenführer auf Lautsprecher entgegennimmt. Pronto! Er dreht das Zündschloss und tuckert, einhändig lenkend, einhändig telefonierend, mit seinen Touristen ab. Auf dem Heck der Ape ist eine Werbetafel montiert: Ortygia Ape Experience. Touren in allen Sprachen!
Gabi war müde und ist schon allein ins Apartment gewankt. Nach dem Saufen in der Sonne hat sie der Campari-Soda paniert und sie bekam die Bootsfahrt nicht mehr aus den Beinen. Anders Mike, der jetzt voll in Fahrt ist, wie in einer Schiffschaukel überschlägt sich seine Freude. Niemand kann diese Kräfte bremsen, sie müssen sich auspendeln oder abstürzen. Seine Prozession führt ihn zu einem Lebensmittelladen bei der Cala Rossa, der am Lungomare drei Tische aufgestellt hat und dort abends kaltes Bier in Flaschen verkauft. Der Sohn der Besitzerin grüßt den hungrigen Wolf wie einen alten Freund und stellt ihm eine große Flasche Moretti hin. Mopeds und Fußgänger machen den Corso, wirklich jeder Einheimische grüßt den Händler, er antwortet mit Handzeichen, es ist ihm sichtlich unangenehm. Dorfdepp? Maskottchen? Mit mildem Blick und Achselzucken scheint er Mikes Gedanken zu kommentieren. Das Bier ist eine herrliche Erfrischung, Mike nimmt zwei tiefe Schlucke und ist wiederhergestellt.
Neben ihm sitzt ein Spanier von der Seerettung. Der Print auf der Brust seines Achselshirts stellt klar, dass es sich bei ihm um einen echten Antifaschisten handelt. Ein antifaschistischer Matrose also, der gerade versucht, bei zwei jungen Amerikanerinnen einen Stich zu machen, indem er ihnen erklärt, wie man den Nahostkonflikt lösen kann. Um mit einem Ohr zu lauschen, muss Mike nur leise trinken. Was er da zu hören bekommt, überrascht ihn wenig: postkolonialer Freiheitskampf. Israelischer Genozid. Westliche Unterdrückung. Palästinensische Opfer. Unterkomplexe Zusammenhänge und inkohärente Argumentation. Na ja, denkt sich Mike, dieser Manolo ist halt nicht die hellste Leuchte. Komisch, eigentlich verträgt er keine dummdreisten, antisemitischen Aktivisten. Erst neulich musste er in Wien seine Dealerin canceln, weil sie auf Instagram ständig würdelose Lügen und Hetze verbreitet hat. Schweren Herzens, das schon, aber Anstand und Moral waren ihm wichtiger als Kokain und Ecstasy. Mit Manolo verhält es sich anders: Mike ist ein wenig eifersüchtig. Menschen vor dem Ertrinken retten. Humanismus gegen globale Ungerechtigkeit. Das macht Sinn. Manolos Leben hat einen Zweck. Sein Beruf ist seine Berufung. Manolo muss keinen Ablass betreiben, keine Spenden tätigen, keine Almosen verteilen. Manolo schläft auch so gut.
Mike hat enorme Kopfschmerzen. Sein Schädel steht unter Hochdruck. Er braucht einen Augenblick, um das Zimmer zu erkennen, in dem er gerade aufwacht und sich bemüht, die Augen offenzuhalten. Wie war er nach Hause gekommen? Warum liegt er in einem nassen Bett? Sein Körper brennt. Er entdeckt Schürfwunden am rechten Unterarm, einen blauen Fleck am Oberschenkel und angeschwollene Kratzer am Knöchel. Seine Haut ist salzig. Mit diesen Indizien kommen die Erinnerungsfetzen zögerlich an die Oberfläche. Er war im Mondlicht schwimmen. Vollmond. Er war eins mit dem Meer. Es drang in ihn ein. Sein Rauschen drang in ihn ein. Schwerelos. Sorgenfrei. Mit jedem Tauchgang wollte er länger unter Wasser bleiben. Er drang in das Meer ein. Sein Rausch drang in das Meer ein. Als er am Ende aus dem Wasser steigen wollte, warf ihn der Seegang gegen die Wellenbrecher. Oder der Rausch. Er hatte den Aufprall kaum gespürt.
Nachricht von Gabi: Wo bleibst du, Hase? Heute letzter Tag. Raus aus dem Bett! Mike schlurft in die Küche. Er bereitet Kaffee und schluckt eine Achthundert-Milligramm-Ibuprofen mit einem Glas heißem, abgekochtem Wasser. Gestern war geil, heute fühlt sich Mike wie in einer leeren Badewanne, aus der gerade das Wasser abgeflossen ist. Unbehagen. Er startet seine Morgenroutine: Frühstück – Proteinshake für den Body – Liegestützen und Sit-ups, Typ Käfigkämpfer – und greift dann nach seiner Badekleidung, um zur Plattform am Felsen aufzubrechen. Blitzartig erinnert er sich an den Spanier. Er packt seine Badesachen, um im Meer zu schwimmen, in dem Menschen ertrinken. Was für Spaßbremsen. Er wirft die Badetasche über die Schulter und öffnet die Tür. Eine diffuse Ahnung hält ihn zurück und lässt ihn kehrtmachen. Mike klappt hastig seinen Laptop auf. Wo sind die Dateien? Schlagartig friert er. Zum ersten Mal in Sizilien. WO sind die Dateien? Der Ordner ist leer. Okay. Mike versucht, nicht panisch zu werden. Er holt die Speicherkarte und stochert sie in den Eingang. Kalter Schweiß auf der Stirn. Shit, auch der Speicher ist leer. Natürlich ist er leer, er hat ihn gestern selbst gelöscht. Als er aufspringt, um seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, rutscht ihm die Badetasche vom Arm. Er knallt seinen Kopf frontal gegen die Fliesen. Einmal. Zweimal. Dreimal. FUCK. Obwohl der Schmerz ihm Linderung bringt, hört er auf, bevor seine Stirn aufplatzt. Stattdessen schmeißt er einen Stuhl durch die Wohnung und räumt die Plastikdecke in einem Zug vom Tisch ab. Der Laptop fliegt auf den Boden. Unbeirrt reißt er ein kleines Ölgemälde, ein naives Stillleben, von der Wand, um es an die gegenüberliegende Wand zu schleudern.
FUCK. Was für ein Fiasko. Die Arbeit von fünf Tagen: verloren. Volle fünf Tage Produktion: futsch. Zehntausend Euro: pulverisiert. FUCK FUCK FUCK. BeBebend holt er sich einen Beutel Eis aus dem Eisfach, um seine Stirn zu kühlen. Mühsam beruhigt er sich. Er zwingt sich, vorwärts zu denken. Was bleibt ihm auch anderes übrig? Er muss den Flug umbuchen und das Airbnb verlängern. Sofern es nicht schon vermietet ist. Und er muss wieder ran: acht Stunden Sex mindestens. Ob Rosa überhaupt Zeit hat, nochmal den Dreier zu drehen? Sie muss sich doch unter der Woche um ihre Zwillinge kümmern. Okay, zur Not kann sie sie mitbringen und sie sollen im Nebenzimmer spielen. Wichtiger ist, dass sie ihnen eine Rabatt gibt oder es am besten umsonst macht. Das Budget reicht nicht mehr. Niemals. Cazzo. Sein Schwanz hat sich gerade erholt. Schon beim Gedanken zu ficken, zieht es ihm die Hoden zusammen. Unbezahlte Überstunden tun weh.