Ihre Verlorengegangenheit

Demenz ist eine enorme gesellschaftliche Herausforderung, die in dieser kaum einen Platz hat. Was passiert, wenn der Geist verschwindet und vom Mensch nur noch der Körper bleibt? Die Autorin Cornelia Deichmann schildert ihre sehr persönlichen Erfahrungen mit dem Abschied und dem Krankheitsverlauf ihrer Mutter.

Fotografie: David Avazzadeh

Text von Cornelia Deichmann

Lesedauer: ca. 8 Min.

Zucchini. Schon wieder Zucchini. Dass mit meiner Mutter etwas nicht stimmte, machte ich an grünem Gemüse fest. Sie hatte immer gut gekocht, deutsche Hausmannskost und raffinierte französische Gerichte. Und jetzt gab es jedes Wochenende, wenn ich sie besuchte: Zucchini. Gekochte Zucchini und nichts dazu. »Die sind gesund«, sagte sie. Neunundsiebzig Jahre alt war sie damals.

Inzwischen ist sie fünfundachtzig Jahre alt und lebt im Münchner Speckgürtel in dem Haus, das ihr Mann, mein Vater, Anfang der sechziger Jahre gekauft hatte. Der Vater ist vor vielen Jahren gestorben, seitdem wohnt sie allein. Er hinterließ ihr das Haus mit dem großen Garten sowie eine ordentliche Witwenrente, die ihr Reisen, Shoppen, Museumsbesuche und einen Gärtner erlaubte und der es auch zu verdanken ist, dass sie immer noch dort sein kann und nicht in einem Heim vor sich hinvegetieren muss. Meine Mutter ist an Demenz erkrankt. Sie ist laut einer Studie der Deutschen Alzheimer Gesellschaft eine von rund eins Komma acht Millionen Menschen, die aktuell in Deutschland davon betroffen sind.

Der Anfang war hart. Irgendwann merkte sie, dass mit ihrem Kopf etwas nicht stimmte. Es war eine schleichende Reduzierung ihrer Wahrnehmung. Sie, die belesen war, immer informiert über das politische Geschehen, reflektiert und gebildet. »Helmut Kohl ist Bundeskanzler, nein, was ist nur los mit mir.« Zehn Mal am Tag rief sie den Gärtner an. Sie fing wieder an zu rauchen. Das hatte sie vor dreißig Jahren aufgegeben, jetzt qualmte sie drei Schachteln am Tag, die sie sich von einem Taxifahrer bringen ließ; begleitet von Mittelchen gegen Vergesslichkeit, Muskelschwund, zum Aufbau der Darmflora und zum Abführen, die bei den öffentlich-rechtlichen Sendern vor den Nachrichten beworben werden. Dutzende Röhrchen und Schächtelchen waren es, die sie überall im Haus verteilt hatte.

Sie ließ sich gehen. Ihr immer noch volles Haar, das sie, seit ich denken kann, täglich zu einem kunstvollen Beehive aufgetürmt trug, stand kreuz und quer vom Kopf ab. Sie schminkte sich die Augenbrauen zu dicken schwarzen Balken. Die stets gepflegte Mutter trug ausgelatschte Espadrilles, die sie früher nur im Garten angezogen hatte, und eine Fleecejacke. Wo sie die nur herhatte? Einmal gab sie dreihundertfünfzig Euro für den Scherenschleifer aus, der jährlich an der Haustüre klingelte. Jedes Messer, jede Nagelschere ließ sie schärfen. Ein anderes Mal fand ich drei angebrannte Töpfe. Um ein Unglück zu verhindern, stellte ich nach meinen Besuchen das Gas ab. Sie bemerkte es nicht.

Pflegegrad 1: Geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit. Bestätigt von einem Gutachter der Krankenkasse

Ich organisierte eine Dame über die Malteser, die täglich für vier Stunden vorbeikam: kochen, putzen, gemeinsam essen. Morgens, mittags und abends erschien jemand, der ihr die Medikamente verabreichte: Blutverdünner, Magnesium, ein Mittel gegen ihre Bauchspeicheldrüsenprobleme, mit denen sie seit Jahren zu kämpfen hatte. Ich übernahm die Gartenarbeit, denn der junge Mann, der sich darum kümmerte, hatte das Weite gesucht. Zwanzig Telefonate am Tag waren zu viel gewesen. Noch war meine Mutter mobil und lief rastlos durch Haus und Garten. Doch ihre Welt schrumpfte. Das Grundstück zu verlassen, kam für sie nicht mehr infrage. Früher fuhr sie, die keinen Führerschein besaß, leidenschaftlich gern mit dem Fahrrad oder spazierte mit mir stundenlang über die angrenzenden Felder. Jetzt waren das Haus und der Garten ihr Kokon.

Pflegegrad 2: Erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

Unsere Gespräche wurden einseitiger: »Wo sind meine Zigaretten? Wo ist mein Kaffee?« Stundenlang saß sie in der Küche, die Beine übereinandergeschlagen, rauchte, schwieg, zündete sich die Zigaretten am Gasherd an, weil das Feuerzeug verschwunden war. Überall klebten gelbe Zettel: Mülltonnen rausbringen, Zucchini kaufen, kochen, Gärtner anrufen. Letzteres konnte sie nicht, weil ich das Büchlein mit den Telefonnummern versteckt hatte. Auf Fragen bekam ich keine Antwort mehr. Tippel, tippel, tippel, schlurf klangen jetzt ihre Schritte, wenn sie auf die Toilette ging. Meine Mutter wurde immer weniger. Sie fiel in sich zusammen, so kam es mir vor. Von aufrechten ein Meter zweiundsiebzig auf gekrümmte ein Meter achtundsechzig. Die Hausärztin hatte sie gemessen.

Eine Vierundzwanzig-Stunden-Betreuung musste her. Ich habe einen Job, für den ich öfter unterwegs bin, bei ihr leben und sie pflegen, das schaffe ich nicht. Erst kam Manuela, drei Monate später Jovanka, dann Maria und Ana. Liebevolle Frauen aus Rumänien, die über einen lokalen Pflegedienst vermittelt wurden. Bei Mutter hießen alle Manuela, bis heute. Sie kochten, sie putzten und sie sorgten dafür, dass Mutter sich wäscht, dass sie isst und trinkt. Die eine mochte sie, die andere nicht. Dann schüttete sie den Kaffee auf den Boden und spuckte das Essen aus. »Ich mag die nicht«, zischte sie mir zu. Die Mutter war nie bösartig gewesen, nun kehrte sie eine Seite heraus, die ich an ihr nicht kannte. »Sei nicht so garstig«, sagte ich zu ihr. Sie schaute mich mit leeren Augen an und warf die Kaffeetasse auf den Boden. »Nachts«, so erzählte es die derzeitige Pflegekraft, »schleicht Ihre Mutter durch das Haus«.

Ich sprach mit einer Bekannten, die einen Verein gegründet hatte, der sich um Angehörige von Demenzkranken kümmert. »Geh normal mit ihr um«, empfahl sie, »und schimpf nicht mit ihr«. Ich bemerkte die Verzweiflung, die meine Mutter überkommen hatte. Auch wenn sie das nicht ausdrücken konnte. Es war der Blick, der immer mehr nach innen gekehrt war. Wusste sie, was sie sprach, was sie tat? Oder nicht? Einmal sagte sie, dass sie nicht mehr leben möchte. Ihre Hausärztin diagnostizierte eine leichte Depression und addierte ein stimmungsaufhellendes Psychopharmakon zum Medikamentencocktail. Ein Medikament, das die Krankheit aufhalten könnte, gibt es bis heute nicht.

Wir schauten gemeinsam die Tagesschau an. Früher führten wir Diskussionen über Politiker. Jetzt rief Mutter: »Wer sind diese scheußlichen Menschen?« Tags drauf ein lichter Moment, als eine Freundin von ihr zu Besuch kam. Mutter bestand darauf, ein schönes Kleid zu tragen. Ich bürstete ihr Haar. Das ließ sie nur von mir zu, denn sie wollte nicht, dass die Pflegerinnen sie berühren. Sie spielte die perfekte Gastgeberin. Ich kochte Tee und Kaffee und servierte den mitgebrachten Kuchen. Mutter tat so, als würde sie die Fragen ihrer Freundin verstehen. »Ja, ja«, sagte sie, »ja, du hast ja recht.« Die Menge an Zigaretten, die sie jetzt rauchte, sprengten das Budget. Ich setzte sie auf kalten Entzug. »Der Taxifahrer kommt gleich und bringt welche«, war meine Standardantwort auf ihre immer wiederkehrende Frage: »Wo sind meine Zigaretten?« Im nächsten Moment hatte sie vergessen, dass sie rauchen wollte.

Pflegegrad 3: Schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

Mutter hat jetzt einen imaginären Freund. Er heißt Piddi. Piddi kommt, Piddi kümmert sich um den Garten, Piddi bringt Zigaretten. »Er ist ein gutaussehender, lieber Junge«, sagte sie, als ich wissen wollte, wer dieser Piddi sei. »Leider sehr unzuverlässig. Er raucht mir immer die Zigaretten weg.« Bei meinem nächsten Besuch war Piddi tot. »Überfahren«, konstatierte sie eiskalt. »Aber morgen kommt er wieder.«

Als ich sie das nächste Mal sah, war Mutter aufgewühlt. »Mein Vater kommt zu Besuch. Ich muss das Bett beziehen. Ich fahre zu ihm. Morgen kommt er, ich muss das Bett beziehen.« Sie beginnt eine Reise in die Vergangenheit, die bei Demenzkranken ab einem bestimmten Stadium in der Gegenwart stattfindet. »Go with the Flow«, sagte meine Bekannte, die Demenzberaterin.

Mutter und ich blätterten zusammen in Fotoalben. Darin Menschen, die ich nicht kannte, die sie aber alle beim Namen nannte. Ich kaufte ein Memory-Spiel. »Da sind Nashörner auf der Terrasse«, lenkte sie ab. Im Vertuschen ihrer neuen Realität hatte sie ein meisterhaftes Talent entwickelt. Vielleicht sah sie ja Dinge, die in meiner Welt nicht vorkommen? Ich stellte mir ihre Welt schön vor.

Pflegegrad 4: Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

Mutter kann nicht mehr allein auf die Toilette gehen. Geschweige denn die Treppen in den ersten Stock zu ihrem Schlafzimmer hochsteigen. Einmal fiel sie nachts aus ihrem Bett. Die Frau, die sie betreute, fand sie am Morgen auf dem Fußboden. Sie tat sich mit dem Gehen schwer, konnte ihre Bewegungen nur noch schlecht koordinieren. Ihr Leben ist jetzt so reduziert wie das eines Babys. Über die Krankenkasse organisierte ich einen Rollator, einen Rollstuhl und ein Pflegebett, das ich im Wohnzimmer aufstellte. Auf zwei kleinen Tischen arrangierte ich die Fotos, die in ihrem Schlafzimmer auf der Kommode standen, und versuchte eine gewohnte Umgebung nachzubilden, wie in dem Film »Good bye, Lenin«. Es war ein allmähliches Good bye von ihrem Leben. Es war ihr egal.

Eine Phase der Sprachlosigkeit begann. Sie schlief viel. Wenn sie wach war, saß sie mit leeren Augen in einem Liegesessel, den ich bei Ebay aufgetan hatte und der sich per Fernbedienung rauf und runter bewegen ließ. Sie zeigte kaum noch eine Reaktion, wenn sie mich sah. Ich stellte mir vor, dass sie sich freut, wenn ich da bin. Zweimal die Woche kam jetzt ein Physiotherapeut, einmal im Monat eine Fußpflegerin. Piddi, ihr imaginärer Freund, ist verschwunden, wie auch die Erinnerung an die längst Verstorbenen auf den Fotos.

Pflegegrad 5: Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Pflegeanforderungen

Im Garten blühen die Tulpen. »Wo ist der Weihnachtsbaum?«, fragt meine Mutter. Edit, die sie Manuela nennt, hat ihr die Haare zum Zopf geflochten und ein Stück Kuchen in kleine Stücke geschnitten. Genug zu essen zu bekommen, ist jetzt Mutters Sorge. Auf meine Frage »Wie geht es dir?« erhalte ich keine Antwort. Das Leben geht sie nichts mehr an. Manchmal wenn ich komme, liegt sie starr auf dem Rücken im Bett und führt Selbstgespräche. Leise murmelnd, in ganzen Sätzen. Ich setze mich neben sie auf einen Stuhl. »Ich muss Stoff kaufen für das Hochzeitskleid«, sagt sie, »eine Schneiderin finden, die Nähmaschine vom Speicher holen, nasse Gardinen im Keller aufhängen, Hans-Christian war da, was muss ich für die Reise einpacken? Wir müssen Zigaretten kaufen, den Weihnachtsbaum schmücken und die Rosen gießen. Ich muss in die Stadt und Schuhe kaufen. Ich habe Hunger.« Sie erinnert mich an ein kleines Kind, das sich in den Schlaf singt. Ich komme jetzt häufiger vorbei. In ihren Selbstgesprächen finde ich manchmal Spuren von der Mutter von einst, der Selbstbestimmten, der Selbstbewussten. Wer weiß, wie lange noch. Vielleicht werden Mutters Selbstgespräche bald enden. Bis dahin tröste ich mich damit, ihnen zu lauschen.

 

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