ABRISS DEUTSCHLAND
T Vera Schroeder
K Lewis Rossignol
T Vera Schroeder
K Lewis Rossignol
Ich fuhr mit dem Zug nach Schweden, wir waren pünktlich, bis die Grenzleute viel zu laut und viel zu früh an den Schlafwagen pochten und ich herausfiel aus dem Bett und nicht mehr hineinfand. Ich empfehle Menschen, mit mir zu reisen. Die Deutsche Bahn, in der ich reise, kommt nicht zu spät. Ich empfehle überhaupt, vor dem Einsteigen »Verkehrte Welt« zu spielen und erst wieder aufzuhören, wenn Sie ausgestiegen sind. Sie kennen das von Ihren Kindern: Alles, was geschieht, wird dabei umgekehrt. Und Sie gucken einfach zur Abwechslung mal liebevoll auf diese Welt. Im Zug ist es leicht. Die Menschen reden im Zug miteinander, nirgendwo sonst reden sie so miteinander, Koffer hochhelfen, Stecker rankommen, Jena-Paradies kennen, QR-Code größer ziehen, sie reden kreuz und quer, und Reden, das steht fest, ist eine hervorragende Erfindung. Piccolo-Omi redet mit Heimwegsoldaten, redet mit Mutti mit dampfenden Wollsocken, redet mit Bauchfrei, redet mit Handybanker, redet mit »Kaffee? Snacks?«. Wo gibt’s denn so was noch? Am meisten reden und witzeln die Menschen, wenn die Verspätungsdurchsage kommt. Wenn sie gut ist, die Durchsage, lachen sie richtig. Bald teilen sie Leberwurstschnitten. Irgendwann Decken, Schuhe, Deos, dicke Ladekabelstecker, weil die Steckdosen viel zu ausgeleiert sind für die leichten Handydinger, viel zu ausgeleiert und viel zu voller Hautschuppen. Je länger es dauert, desto mehr Lachen und Teilen und Verschwören. Würde man sie ewig drin lassen, im stillstehenden Gang des Toilettendufts, sie würden anfangen, sich aus den Deckelfolien der Chili-sin-carne-Boxen Alu-Hüte zu basteln und sich alle gemeinsam mit einem neuen Schnupfen-Virus anstecken, gegen den eh keine Impfung mehr hilft, sie würden Gedichte schreiben und die Nibelungen neu erfinden mit Piccolo-Omi als Brunhild und Handybanker heißt eh Günther, eines Tages würde man sie finden, vielleicht die letzten Überlebenden, weil kein Fenster mehr zu öffnen ist in so einem Zug und das kann, das wird auch ein Vorteil sein.
Wir halten uns, wir alle, aus Prinzip, viel zu lange mit der Deutschen Bahn auf, jetzt ist es schon wieder passiert, wir sollten weiter, gibt ja mehr Infrastruktur, die hierzulande zu Grabe getragen werden darf. Über Preise möchte ich nicht reden, Schoko-Preise, Restaurantpreise, Mietpreise, Reisepreise, Sockenpreise, die Preise haben eine Meise und eigentlich ist nur Fliegen noch immer richtig billig, für den Heimweg aus Stockholm stieg ich in ein Flugzeug, weil es nicht anders ging, haha, das sage ich jetzt auch wieder, »weil es nicht anders ging«, nach fünf Jahren ohne Flugzeug, aber für das Klima, ich dachte, ich wär Avantgarde, aber jetzt bin ich einfach nur die Dumme, weil die Klima-Krise ist doch vorbeigegangen, wer hätte das gedacht. Die Dürre, das ist die Dürre der anderen. Sechzig Euro hat das Flugzeug von Stockholm nach Hamburg gekostet, dreißig hab ich noch mal am Flughafen für einen Salat mit Granatapfel ausgegeben. Wenigstens Salat. Ah, Salat: Da haben wir den Salat. Wir haben jetzt also eine Welt, in der nix mehr einfach ist, und was machen wir daraus? Richtig, nix. Nix mehr machen, weil nix mehr einfach, immerhin Handy, da kann man nix falsch machen oder der andere sieht nix, was man Falsches macht. Greta Thunberg segelt nach Gaza, weil alles am Arsch ist in Gaza, weil die Bilder einen killen und nix zu machen für jemanden wie Greta nix geht. Und dann sitzt man am Handy und googelt die Mitreisenden und findet Thiago, Lagerfeuergitarrenskills drei minus, der im Februar auf der Beerdigung von Hassan Nasrallah weinte und um einen Hisbollah-Chef zu weinen ist nix gut, das weiß jede, und deswegen muss man auch nix machen, wie Greta das macht. Wie viel Augenzu darf Protest? Wie viel Augenzu ist es, nicht zu protestieren? Warum finden wir, also wir Schlauen, wir Elite, wir Zeitungsleserinnen und Operngänger, wir Zähnebleicherinnen und Hochschulabgänger und Gemeinsames-Haushaltskonto-Besitzerinnen, wir gesittetes Publikum, dass wir wissen, wo die roten Linien verlaufen, wo man sitzen bleiben darf und sich abgrenzen und skeptisch den Kopf schütteln und weiteressen? Oder wo man genau das tun muss? Oder wie naiv darf ich sein? Ich weiß nix. Ich kann nur Demo, wenn niemand was singt, was ich scheiße finde. Deswegen demonstriere ich nicht. Das ist kein Serientitel, das ist Deutschland. Das Land der Dichter und Verrenker. Ich höre zweiunddreißig Podcast-Folgen »Über Israel und Palästina sprechen« und habe doch nichts verstanden. Ich weiß, diese Ausrede ist billig.
Einmal ging ich im Wald spazieren und es war Frühsommer, aber es war schon sehr grün und in einer Lichtung begegnete mir mein Großvater. Mein Großvater war Nazi, er blieb auch Nazi, als das Dritte Reich vorbei war, und als ich achtzehn wurde, schenkte er mir ein NPD-Zeitungs-Abo zum Geburtstag und die guckte aus unserem Briefkasten in unserem Wohnhaus im Münchner Speckgürtel heraus. Aus einem von all den vielen Briefschlitzen blitzte die Parteizeitung und meine Mutter rastete aus und dann wurde wieder nicht über Politik gesprochen. Letztens fragte mich mein Sohn, der jetzt auch bald achtzehn ist, warum der Uropa, von dem ich erzählte, dass er mir erzählte, nicht ohne Stolz, dass er im Wald im Krieg Menschen erschossen hatte, warum dieser Uropa nicht im Gefängnis war, fragte der Sohn, weil wenn man jemanden ermordet, dann kommt man ja ins Gefängnis, lebenslänglich, so ist es doch. Ich versuchte, es zu erklären, und erklärte es nicht, weil was gibt es da zu erklären, es ist nicht erklärbar, es ist eigentlich, ach, uneigentlich ein Abgrund. Diesem Großvater begegnete ich nun in der Waldlichtung. Er saß da auf einem schlichten Holzstuhl, so wie man sie aus dem Wirtshaus kennt, unter der Sitzfläche dieses Holzstuhls ist ein Hakenkreuz eingraviert, ich weiß das, ich kenne diesen Stuhl, er stand bei den Großeltern im Keller und als Kinder sind wir immer Hakenkreuze gucken gegangen in diesen Keller. Der Großvater will etwas sagen, er öffnet den Mund, immer wieder, aber es kommen keine Laute heraus. Er sieht mich, ich bin mir nicht sicher, ob er mich erkennt, aber ich übergebe mich trotzdem, neben eine Eiche, natürlich. Ich mochte das schwarze Brot, das sie Pumpernickel nannten, nie.
Sprechen wäre nicht schön gewesen, aber es wäre gewesen. So ist nichts gesagt und alles in mir. »Meine palästinensischen Freunde sind alle am Ende / Meine jüdischen Freunde, sie trauern mit Ängsten / Meine kurdischen Leute sind dauernd am Kämpfen / Meine Schwarzen Freunde suchen immer noch Verständnis / Alle anderen Freunde sind irgendwo dazwischen. Wir fühlen das gleiche, doch trauern im Stillen / Mir fällt das Lachen schwer, uns geht es allen beschissen / Ja, uns geht es allen beschissen« singt Ebow, die Große, in ihrem Song »Free«. »Sie sagen nie wieder / Doch es passiert wieder«.
Ich höre diesen Song im Zug mit den teuren neuen Kopfhörern und es gibt nichts Schöneres, als Zug zu fahren und diesen Song zu hören. Okay, Hoffnung, zum Schluss, das wollen sie alle. Die Chefinnen, die Redakteure, die Lesenden, das Publikum, die Kinder, die Tiere, ja sogar der Hund will vielleicht Hoffnung. »Was macht Ihnen Hoffnung?« ist keine Frage, es ist eine Panikerklärung, Hoffnung ist ein Verb, würde Greta sagen, ich sage, nimm Mut statt Hoffnung, Mut kannst du selbst. Mut ist Angst plus Bewegung. Aber wohin, wohin bewegen wir uns? Und wenn sich alle immer weiter in verschiedene Richtungen bewegen, treffen wir uns dann irgendwann wieder? Ist das garantiert?