Club 27: Früher Tod, ewige Jugend
Was haben Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Jim Morrison und Amy Winehouse gemeinsam? Sie alle beeinflussten die Musik ihrer Generation – und sie alle starben mit siebenundzwanzig Jahren. Über den Mythos des Club 27.
»Wen die Götter lieben, der stirbt jung«, wusste der griechische Dramatiker Menander und meinte damit zum Beispiel Eurydike, Medausa oder Achilles: ein früher, ruhmreicher Tod, als Folge dessen die Unsterblichkeit ewige Jugend und bis in alle Ewigkeit eine tipptopp-bildliche Darstellung garantiert, nämlich immer gesund, jung und schön. Was in der Antike als tragische Wendung oder heroische Entscheidung galt, zieht sich in der Moderne als düsteres wie faszinierendes Phänomen der Popkultur fort: der Club 27.
Zwischen dem 3. Juli 1969 und dem 3. Juli 1971 – einem Zeitraum von ziemlich exakt zwei Jahren – starben vier der einflussreichsten Musiker ihrer Generation, alle im Alter von siebenundzwanzig Jahren, alle eines unnatürlichen Todes. Kann das Zufall sein? Tod mit siebenundzwanzig. In der Blüte ihres Lebens! So viele Jahre hätten sie noch vor sich gehabt. Wer weiß, was sie alles geschaffen hätten. Auch unglaublich: wie viel bedeutende, bewegende, revolutionäre, schöne, wegweisende Musik sie in diesem Alter bereits geschaffen hatten. Als hätten sie geahnt, dass ihnen nicht viel Zeit auf Erden bleibt. Als hätten sie schon ganz früh gewusst, dass die Götter sie lieben.
DIE MITGLIEDER DES UNHEIMLICHEN CLUBS
Brian Jones war der erste des Clubs. Wem der Name nichts sagt: Er war ein begnadeter Gitarrist, Gründungsmitglied der Rolling Stones und nahm so viele Drogen, dass er immer wieder die Tourneen der Stones durcheinanderbrachte, weil er nicht auftreten konnte, bis er schließlich gefeuert wurde. (Das muss man auch erst mal hinkriegen: so viele Drogen zu nehmen, dass es selbst Keith Richards zu bunt wird.) Am 3. Juli 1969 war er bereits ein Ex-Stone und ertrank im Swimmingpool in seinem Haus in Sussex. Offiziell – denn sein Tod wurde nie ganz geklärt und es scheint möglich, dass er von einem Bauunternehmer, der sich ebenfalls im Swimmingpool befand und mit dem er im Clinch lag, ermordet wurde.
Jimi Hendrix, der wohl legendärste Gitarrist aller Zeiten, erstickte am 18. September 1970 in einem Londoner Hotel an seinem eigenen Erbrochenen. Er war siebenundzwanzig Jahre alt. Seine letzten aufgezeichneten Worte waren: »I need help bad, man«. Das bezog sich auf seinen ausufernden Drogenkonsum; in der Nacht vor seinem Tod hatte er allerdings Rotwein mit Schlaftabletten gemischt. Auch in diesem Fall gibt es glaubwürdige Theorien, die von Selbstmord beziehungsweise Mord handeln.
Janis Joplin starb am 4. Oktober 1970 an einer Heroin-Überdosis im Landmark Motel in Hollywood. Ihr linker Arm wies vierzehn Einstiche auf. Nur drei Tage zuvor hatte sie spontan »Mercedes Benz« a cappella im Studio eingespielt: eine geradezu testamentarische Aufnahme.
Jim Morrison wurde am 3. Juli 1971 tot in seiner Pariser Badewanne aufgefunden, genau zwei Jahre nach Brian Jones’ Tod. Der Frontman der Doors war geradezu besessen von Todesvisionen und hatte seinen eigenen Tod mehrfach vorausgesagt, in Gesprächen mit Freunden, aber auch in Liedern wie diesem:
This is the end
Beautiful friend
This is the end
My only friend, the end
Of our elaborate plans, the end
Of everything that stands, the end
No safety or surprise, the end
I’ll never look into your eyes again
Can you picture what will be?
So limitless and free
Desperately in need
Of some stranger’s hand
In a desperate land
Lost in a Roman wilderness of pain
And all the children are insane
All the children are insane
Waiting for the summer rain, yeah
Der Begriff »Club 27« entstand jedoch erst 1994, als Kurt Cobain sich mit einer Schrotflinte das Leben nahm. Seine Mutter soll daraufhin gesagt haben: »I told him not to join that stupid club.« Mit diesen Worten verwandelte sich eine Reihe tragischer Zufälle in einen kulturellen Mythos, der bis heute nachwirkt. Kurt Cobain schoss sich am 5. April 1994 in seinem Gewächshaus in Seattle eine Kugel in den Kopf. Auch seine Texte waren voller Verweise auf Depression und Selbstzerstörung. In »Come As You Are« sang er: »And I swear that I don’t have a gun« – Zeilen, die den Mythos nur noch verstärkten.
Amy Winehouse starb am 23. Juli 2011 an einer Alkoholvergiftung. Die vorerst letzte prominente Ergänzung des Clubs thematisierte in ihren Songs ihre Suchtprobleme und selbstzerstörerischen Tendenzen. Auch ihr Tod wirkte wie die Erfüllung ihrer eigenen düsteren Prophezeiungen, die sie in Interviews und Liedern immer wieder geäußert hatte.
Weitere bekannte Namen, die mit siebenundzwanzig Jahren starben: Jean-Michel Basquiat, der geniale Graffiti-Künstler, der 1988 an einer Überdosis starb; Richey Edwards von den Manic Street Preachers, der 1995 verschwand und für tot erklärt wurde; Kristen Pfaff von Hole, die kurz nach Cobains Tod ebenfalls einer Überdosis erlag. Alle vereint durch das Alter bei ihrem Todes und die Intensität ihres kurzen Schaffens.
DIE PROPHETEN IHRES EIGENEN UNTERGANGS
Das Faszinierende an den Mitgliedern des Club 27 ist, dass viele von ihnen ihren frühen Tod in ihrer Musik thematisierten, als hätten sie eine dunkle Vorahnung gehabt. Morrison war obsessiv von der Nähe zwischen Eros und Thanatos fasziniert und sprach in Interviews immer wieder über den Tod. Cobain sang vom Schmerz des Daseins und der Sehnsucht nach Erlösung. Winehouse sagte »No, no, no« zu Rehab und machte ihre Selbstzerstörung zum zentralen Thema ihrer Kunst.
Und: Die Clubmitglieder hatten mit einer Intensität gelebt und gearbeitet, als hätten sie gewusst, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Ihre Songs wurden posthum zu Abschiedsbriefen. Sie kondensierten ganze Lebensspannen in wenige Jahre höchster kreativer Aktivität. So schufen sie ihren eigenen Mythos. Insofern gehören sie vielleicht zu Recht in einen Club der ganz wenigen Auserwählten.
MYTHOS UND JUGEND: DIE EXPLOSIVE VERBINDUNG
Der Begriff des Mythos ist hier zentral. Ein Mythos stiftet schließlich kollektive Bedeutung und transportiert emotionale Wahrheiten, die jenseits empirischer Fakten liegen. Der Club-27-Mythos verbindet die archaische Vorstellung vom frühen Tod der Auserwählten mit der spezifisch modernen Obsession für ewige Jugend. Denn Jugend wird nicht nur als Lebensphase, sondern als Zustand der Möglichkeit verstanden. Sie symbolisiert Authentizität, Rebellion, ungezähmte Kreativität und eine Art existenzieller Reinheit. Die Jugend ist der Ort, an dem Träume noch nicht von der Realität korrumpiert wurden, an dem die Kunst noch nicht dem Kommerz geopfert wurde. In dieser Logik wird der Tod mit siebenundzwanzig zur perfekten Vollendung: Man stirbt auf dem Höhepunkt der kreativen Potenz, bevor die Desillusionierung einsetzt.
DAS GEGENBILD: DIE ÜBERLEBENDEN
Richtig interessant wird der Mythos erst im Kontrast zu denen, die überlebten und alterten. Nehmen wir etwa Marlene Dietrich, die große Diva des 20. Jahrhunderts, die sich in ihren letzten Jahrzehnten vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. »Ich wurde zu Tode fotografiert«, antwortete sie Maximilian Schell, als er sie für seine Dokumentation nur auf Tonband aufnehmen durfte. Ihre Tochter Maria Riva erklärte später: »Sie hatte es einfach satt, Marlene Dietrich zu sein.« Ähnlich erging es Greta Garbo, die bereits mit sechsunddreißig Jahren ihrer Filmkarriere den Rücken kehrte und fortan als Einsiedlerin in New York lebte. »I want to be alone«: Dieser Satz aus »Grand Hotel« wurde zu ihrem Lebensmotto.
Diese Frauen wählten den sozialen Tod, um dem physischen zu entgehen. Sie verstanden intuitiv, was die Mitglieder des Club 27 nicht begriffen: dass der Mythos der ewigen Jugend ein Käfig ist, aus dem es nur zwei Ausgänge gibt – den Tod oder die Verweigerung.
DER MYTHOS ALS KULTURELLE DROGE
Der Club 27 ist ein Symptom unserer Zeit. In einer Kultur, die Jugend fetischisiert und Altern pathologisiert, wird der frühe Tod zur letzten authentischen Geste.
Und das zeigt auch, wie toxisch dieser Mythos ist: Er romantisiert die Selbstzerstörung und suggeriert jungen Künstlern, dass wahre Kunst nur durch Leiden entstehen kann. Er ignoriert die banale Wahrheit, dass die meisten großen Künstler der Geschichte ein langes, produktives Leben führten: von Patti Smith bis Louise Bourgeois, von Michelangelo bis Pablo Picasso, von Marina Abramović bis Montserrat Caballé, von Johann Sebastian Bach bis Giuseppe Verdi, von Joni Mitchell bis Georgia O’Keeffe, von Gerhard Richter bis Johann Wolfgang von Goethe.
Dennoch übt der Club 27 weiterhin eine ungebrochene Faszination aus. Vielleicht weil er in einer Welt der Beliebigkeit und Austauschbarkeit das Versprechen absoluter Bedeutung macht. Seine Mitglieder sind Märtyrer der Kunst, die ihr Leben für die Musik und auch ihren Lifestyle opferten: So zumindest will es der Mythos.
Die Wahrheit ist prosaischer und tragischer zugleich: Es waren junge Menschen mit enormem Talent und ebenso enormen Problemen. Ihr früher Tod hat nichts Poetisches an sich. Dennoch werden wir sie immer nur als junge Menschen in Erinnerung behalten. Keine alte Amy Winehouse wird auf Tiktok je peinlich sein, kein plautzbäuchiger Kurt Cobain seine Midlife-Crisis öffentlich ausleben.
Und so wirkt der Mythos weiter, weil er etwas Grundmenschliches anspricht: die Sehnsucht nach Bedeutung, nach einem Leben, das mehr sein möge als die Summe seiner Tage. »Wen die Götter lieben, der stirbt jung« wird zur tröstlichen Lüge, die wir uns erzählen, um den Tod junger Menschen mental zu verknuspern und ihm nachträglich zumindest etwas Sinn zu verleihen.