Der Alte lag auf dem schwarzen Felsen wie ein nasses, sattes Frage­zeichen und dachte über nichts Besonderes nach. Das war sein be­vorzugtes Denken: das über nichts Besonderes. Im Lauf seines Lebens war er ganz gut darin geworden, nicht so viel zu denken, eine Fertig­keit, auf die er stolz war, denn früher hatte er sich Geschichten und Gedanken einverleibt wie andere Leute Algenkraut und sie dann zerkaut und genüsslich verdaut. Geschichten und Gedanken können einen immer wieder glücklich machen, Algen nur einmal.

Der Alte war stolz auf seinen kühlen Kopf und gerade war der be­sonders kühl, denn er hatte sich heute beim Tauchgang in den Abgrund gleiten lassen, um an die nährstoffreichen roten Algen zu gelangen, die nur in den tieferen Stellen des Meeres wuchsen und nicht im Be­reich von Ebbe und Flut, wo die Futtersuche ein Spaziergang war. Fünfundzwanzig Minuten hatte sein Tauchgang gedauert, in zwanzig Meter Tiefe war er vorgestoßen, nicht schlecht für einen wie ihn, wie er fand. Zufrieden lag er jetzt da, rund und ein bisschen steif vor Kälte. Er erwartete die Sonne wie einen guten Freund, der oft zu spät kommt, dafür aber immer etwas Süßes mitbringt.

Hach je, dachte der Alte, als der erste Sonnenstrahl ihm über den Rücken strich und ein wohliges Kribbeln hinterließ: Sonne schließt bekanntlich den Magen. Und während sich seine Beine langsam wie­der daran erinnerten, was als Reptilienbein zu tun ist, und während der salzige Wind ihm gemurmelte Geschichten von den anderen Felsen zutrug, atmete er tief ein, dann noch länger aus und beschloss, dass heute kein Tag für Eile war. Und morgen wahrscheinlich auch nicht.

Er blinzelte langsam, so wie einer das tut, der ganz sichergehen will, dass die Welt auch wirklich noch da ist und nicht nur ein besonders schöner Traum aus Algen, Sonne und Salzwasser. Der Felsen unter ihm war hart und er war auch hart erkämpft. Nicht schön, aber sein Reich. Er dachte bei sich: Du bist heute hier und das ist genug.

Endlich strahlte die Sonne ihr belebendes Infrarot auf und in seine Schuppen und machte auch die tieferen Zellschichten seines Leibes wieder weich. Und während die Wärme Zentimeter für Zentimeter in seinen Bauch kroch, stellte er fest, dass das Leben manchmal genau so sein sollte, wie es war. Ein paar Tropfen Meerwasser perlten noch von seiner Stirn und erinnerten ihn daran, wie ein paar junge Sardinen beim Tauchen erschrocken zur Seite geflattert waren. Er wusste ja selbst, wie schrecklich er aussah. Dabei fraß er doch nur Grünzeug!

Endlich konnte er sich wieder bewegen, aber er wollte es nicht. Ein­fach weil es schöner war, noch ein wenig stillzuliegen. Die Augen fielen ihm zu. Vielleicht gründete die oft herbeizitierte Altersweisheit in einer Art Altersträgheit? Dass einer wie er besonders weise er­scheint, obwohl er einfach nur zu müde ist, etwas zur Unterhaltung beizusteuern? Müdigkeit, ja, das traf es wohl ganz gut, er war müde vom Leben und er war des Lebens müde.

Seit er aus dem Ei geschlüpft war, hatte er zwanzig Regenzeiten er­lebt. Verglichen mit dem Rest der Kolonie ein geradezu historisches Alter. Er war der Alterspräsident der Großfamilie hier auf San Cristó­bal, allerdings war das kein Titel, der zu irgendetwas befähigte. Der Alte genoss weder besonders hohes Ansehen noch irgendwelche Macht, ganz im Gegenteil: Er rangierte am unteren Ende der Hack­ordnung, weil ... ach ja, weil, weil, weil. Lange Geschichte.

Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und er schätzte an­hand ihrer Geschwindigkeit ab, wie lange es wohl noch dauern möge, bis die Heizung wieder funktionierte. Er blickte an sich herab, um zu begutachten, wie es seinem Hinterteil ging, und nahm im Augenwinkel etwas Grünes und etwas Rotes an seinem Bauch wahr. Verdammt, verdammt! Jetzt war er hellwach.

Die Färbung signalisierte ihm, dass die Balzsaison wieder losgehen würde. Nichts hasste er mehr als das Balzen. Er betrachtete seine Flanken genauer: Kein Zweifel, sie schimmerten grün und rot. Wie oft hatte er das schon erlebt? Die Natur legte ihm das bunte Hochzeits­kostüm an und er musste es ertragen.

Kurz erinnerte er sich daran, wie er jung gewesen war und nachts davon geträumt hatte, sich endlich mit den anderen zu messen und dann paaren zu dürfen. Wie er seinen Bauch untersucht hatte, ob denn endlich das Grün und das Rot erschiene, das zeigt, dass man sich mit den anderen Männchen anlegen darf. Und heute? Heute konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt eine Aus­einandersetzung gewonnen hatte.

Er war alt, ihm war kalt, er war müde und alles in ihm sträubte sich vor Widerwillen – und doch musste er sich selbst dabei zusehen, wie er einen Fuß vor den anderen setzte und seine Krallen nach Halt im schroffen Gestein suchten. Der Alte kannte das biologische Programm, das ihn wie ferngesteuert bewegte, und konnte doch nichts dagegen tun. So wie ihn der Hunger ins kalte Meer jagte, schickte ihn der Trieb in den Zweikampf.

Seinen Gegner sah er schon von Weitem. Wie stolz er dastand, der grünste und röteste von allen und der stärkste und längste des ge­samten Archipels obendrein. Er sah seinen Endgegner vor sich und ihm schauerte. Bringen wir’s hinter uns, diesen albernen Karneval, dachte er und spritzte zur Provokation einen Strahl salziges Wasser aus seinem linken Luftloch in Richtung des Jungen.

Der Junge begann zu nicken. Erst langsam, dann schnell. Kopf auf, Kopf ab. Der Alte antwortete mit aggressivem Krächzen, das Maul weit geöffnet. Sie starrten sich an wie durch eine unsichtbare Glas­scheibe getrennt. Der Junge sprang vor, ein kurzer Tanz aus Drohen, Anrennen, Stillstand. Jetzt nickte der Alte, erst langsam, dann schnell.

Es war keine Angst, weshalb der Alte den Kampf verabscheute. Es konnte ja nichts passieren, der Kampf der Meeresechsen des Gala­pagos-Archipels war stark ritualisiert und ging niemals tödlich aus. Wie bei Wölfen endete jedes Kräftemessen in einer Demutshaltung, mit der sich der Schwächere für alle sichtbar dem Stärkeren unter­warf. Da war keine Angst bei dem Alten. Nur Scham.

Die wiederkehrenden Enttäuschungen über die Demütigungen im Schaukampf äußerten sich beim Alten in lebhaften Fantasien, uralte Kränkungen füllten seine Tagträume. In den Tiefen seiner Seele blub­berte ein unterseeischer Vulkan, heiß und rot quoll die Magma des Hasses hervor, kühlte ab und versteinerte. Dann sah er einen Blitz, so hell, dass selbst die schwarzen Felsen transparent wurden. Dem Blitz folgte ein Donner, so laut, dass er all seine Wut hätte hineinbrüllen können.

Ein Orkan verwandelte das Wasser in weißen Schaum, in dem man nicht schwimmen konnte, doch die Brandung war diesmal nicht auf das Wasser beschränkt, der Meeresboden, das Land, selbst der Himmel, alles wellte sich und brandete. Und dann fing er an zu wach­sen. Er wurde größer und größer, bis sich sein Haupt aus dem Meer erhob, er wuchs weiter, bis sein Kopf die Insel überragte und er die Haie fressen konnte wie junge Sardinen. Er berauschte sich an seiner Macht und Körpergröße, drehte sich um und trat dabei versehentlich ein Inselchen platt, auf dem zum Glück niemand nistete. Dann schaute er sich um und begann zu schwimmen, in Richtung eines Ortes, den die Menschen Tokio nennen, aber das war Zufall.

Verdammt, dachte der Alte, warum jetzt, warum ausgerechnet jetzt? Hör auf zu träumen, konzentriere dich, achte auf deinen Atem, fixiere den Gegner! Der Alte schüttelte sich innerlich, was der Junge als selten gesehene Drohgebärde interpretierte. Der Junge senkte den Kopf, der Alte tat es ihm nach. Stirn an Stirn standen sie da und rieben die Knochenplatten ihres Vorderkopfes aneinander. Doch irgendetwas war anders.

»Warum drückst du nicht richtig?«,

fragte der Alte.

»Ich bin nicht ganz bei der Sache«,

sagte der Junge und drückte ein bisschen fester, aber nicht sehr lange, dann ließ er wieder nach.

»Das merke ich«,

sagte der Alte. »Was ist los mit dir?«

Der Junge druckste herum: »Ich war gestern, also, von gestern auf heute, ja, war ich abwesend.«

Das war dem Alten schon am Abend zuvor nicht entgangen, dass da ein Revier längere Zeit verwaist war, vielleicht, weil ein Tauchgang tragisch ausgegangen war, der Hai, der Hai, der tödliche Hai, und dass die Weibchen seit Stunden ohne ihren Beschützer dasaßen, den größten und stärksten von allen, und dass er, in seiner Einsiedelei sitzend, mit dem Gedanken gespielt hatte, sich für mindestens eine Nacht in dieses fremde Revier zu begeben und die Zuneigung und Anschmiegsamkeit der weiblichen Wesen zu genießen, ihre Wärme und, ja, ihre Liebe.

»Was war los?«,

fragte der Alte.

»Ach, gestern, um die Mittagszeit, haben sie mich gepackt. Ich weiß nicht, wer oder was. Plötzlich spürte ich den Griff hinter den Vorderbeinen. Ich konnte kaum noch atmen. Ich zappelte, aber es half nicht. Der Griff schmerzte nicht, aber er war fest und viel, viel stärker als ich. Es war kein Maul, da waren keine Zähne wie beim Haifisch.«

Der Alte hörte zu, so gut es ging. Er musste ja gleichzeitig verarbeiten, dass das Ritual nicht funktionierte, wenn einer der Rivalen nicht rich­tig drückte. Etwas daran war gänzlich neu für ihn: der Stärkere zu sein.

»Es ist mir so unglaublich peinlich«,

sagte der Junge, »aber ich fürchte, mich haben Außerirdische entführt. Bitte lach jetzt nicht.«

»Ich kann gerade nicht lachen, weil ich damit beschäftigt bin, ag­gressiv zu erscheinen«,

sagte der Alte. »Also: Sie haben gesprochen von De, En und A, von Sequenzen und Mikrosatelliten und Biomarkern und Tests und Trara und ich habe die Wörter gehört, aber ich habe sie nicht verstanden.«

»Das ist Wissenschaft«,

sagte der Alte. »Naturwissenschaft, um genau zu sein«.

Der Junge hörte nun gänzlich auf zu drücken und nahm ein paar Millimeter Abstand: »Naturwissenschaft?«

»Das waren keine Außerirdischen, das waren Menschen.«

Der Junge legte den Kopf zur Seite:

»Menschen?«

Er dachte so lange nach, bis die Individuen der Kolonie, die das Spek­takel beobachteten, sich zu wundern begannen.

»Heißt das, dass es sie wirklich gibt, die Außerweltlichen?«,

fragte der Junge, »dass es nicht nur Mythen sind, die keiner mehr glaubt, wenn die Alten sie erzählen? Und stimmt es, dass sie nur nach den schöns­ten und stärksten Exemplaren greifen und dass der, der gegriffen wurde, nur selten zurückkehrt?«

Der Alte überlegte und sagte dann nur:

»Kurz gesagt: ja.«

»Und die lange Antwort?«,

forderte der Junge.

»Die Menschen kommen schon seit vielen Generationen hierher. Erst brachten sie die Ratten, dann wollten sie uns erforschen. Auch mich haben sie einmal erforscht. Sie haben mich mit einer Schlinge an einer Stange gefangen …«

»Genau wie bei mir!«,

rief der Junge dazwischen.

»Sie haben mich gemessen und gewogen und mir mit einer Nadel in den Schwanz gestochen.«

»Wie bei mir! Genau wie bei mir!«

Der Junge wurde wieder kampflustig ob der neu entdeckten Gemein­samkeit. Er senkte sein Haupt und der Alte tat es ihm nach. Aus dem wechselseitigen Druck und Gegendruck, aus Anspannung und Ent­spannung, entstand eine Art Tanz.

»Wir müssen etwas gegen die Menschen tun«,

sagte der Junge. »Sie haben uns die Ratten ge­bracht. Die Ratten!«

»Und die Katzen. Und die Hunde.«

»Die auch!?«,

rief der Junge und war der Verzweiflung nahe.

»Wir müssen die Menschen in ihre Schranken weisen! Wir müs­sen etwas gegen sie tun! Lass uns zu Godzilla beten, damit er die Menschen vernichtet und ihre Städte in Schutt und Asche legt!«

Der Alte wurde langsam müde. Natürlich nicht vom vielen Denken, sondern vom vielen Drücken. »Bei dir ist ganz schön was ver­knotet im Kopf«,

sagte er. »Du glaubst nicht an die Geschich­ten von den Außerweltlichen, aber du glaubst an den Mythos von Godzilla.«

Godzilla, erklärte der Alte, sei nur ein Film, eine Fiktion, eine Fantasie wie ein Traum, sich bewegende Bilder, nicht mehr:

»Godzilla ist nicht echt. Er wird uns nicht retten vor den Men­schen. Friedliche Koexistenz mit den Menschen wird uns retten. Das zu erkennen gehört zum Er­wachsenwerden dazu, mein jun­ger Freund. Und jetzt lass uns den Kampf beenden.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage, es ist gerade sehr spannend«,

entgegnete der Junge. Und um den Alten ein wenig zu ärgern, war er es nun, der Salzwasser aus einem seiner Nasenlöcher spritzte.

»Godzilla ist nicht echt. Wir sind echt!«,

rief der Alte. »Und höre auf, von der Rache zu träumen, denn Rache in der Fan­tasie kommt wieder und wieder und wieder. Sie bewirkt nichts und vergiftet nur langsam das Gemüt.«

Der Alte spürte, dass der Abschied von Godzilla, dem Retter, den Jungen ganz schön mitnahm.

»Weißt du«,

versuchte er ihn zu trösten, »Godzilla ist zwar nicht echt, aber er ist berühmt. Auch bei den Men­schen. Und wir, wir hier auf dieser Insel standen einst Pate für die­se wunderbare Imagination. Es gab einen Filmemacher namens Roland Emmerich, der hat seinen Godzilla nach uns gestaltet. Wenn du es so willst, sind wir Meeresechsen Godzillas echte Eltern.«

Der Junge wollte das nicht schlucken. Er kaute auf der Idee herum und fand sie ungenießbar. »Wie können wir echte Eltern von etwas Unechtem sein?«,

fragte er.

Der Alte begann zu überlegen und nach einem passenden Argument zu suchen. Im Kopf schrieb er bereits einen Essay zu dem Thema. Man könnte ihn mit »Eine Ontologie des Imaginären« überschreiben, dachte er bei sich, und darin die Frage stellen, wo die Grenze liegt, ab der eine Idee sich in der Wirklichkeit manifestiert. Godzilla als fiktive Figur ist reine Idee, klar, Godzilla als Actionfigur dagegen ziemlich real. Wird etwas erst dann wirklich, wenn es Folgen in der realen Welt hat, oder genügt dafür bereits eine Art kollektiver Anerkennung des Phänomens? Und was, wenn man in Betracht zöge, dass …

»Jetzt drückst du aber auch nicht mehr so richtig«,

sagte der Junge.

»Das liegt daran, dass ich auch gerade etwas abgelenkt bin, so wie du vorhin von deinen Gedan­ken an die Außerirdischen«,

sagte der Alte und ihm wurde klar, dass er dem Jungen das mit der Ontologie nicht zumuten konnte.

Der Junge war nicht der hellste, fand der Alte, aber er hatte ein gutes Herz. Und so konnte er nicht umhin, sich einzugestehen, dass er sich langsam mit ihm anfreundete.

»Ich will dir ein Geheimnis verra­ten«,

sagte der Alte. »Etwas, das ich noch nie jemandem erzählen konnte.«

»Und warum erzählst du es dann mir?«,

fragte der Junge.

»Weil ich keine Nachkommen ha­be«,

sagte der Alte. »Ich habe niemanden, dem ich die Geschichte weitergeben kann.«

»Da bin ich aber gespannt.«

Der Alte begann zu erzählen.

»Vor vierundzwanzig Generationen wurde mein Urvater, der auch der deine ist, von einem Mann ins Meer geschleudert, wieder und wieder, insgesamt zehn Mal. Und er ging immer wieder zurück an seinen Platz. Der Mann, der ihn warf, hieß Charles Darwin und schrieb nach diesem Erlebnis sein wichtigstes Buch über die Ent­stehung der Arten. Vor zwölf Ge­nerationen wurde mein Urvater, der auch der deine ist, von einem Mann beobachtet, der sich für unsere Kämpfe interessierte. Der Mann, der ihn beobachtete, hieß Irenäus Eibl-Eibesfeldt, begrün­dete danach die Wissenschaft des menschlichen Verhaltens und schrieb mehrere Bücher über unsere Inseln. Ich selbst, der nicht dein Vater bin, aber das ist jetzt auch schon egal, wurde vor zehn Regenzeiten von einem Mann untersucht, der unter anderem eine Blutprobe von mir nahm. Der Mann der das tat, heißt Sebastian Steinfartz. Er lehrt an der Univer­sität Leipzig und hat zusammen mit seinen Freunden (Aurélien Miralles, Amy MacLeod, Ariel Rodríguez, Alejandro Ibáñez, Gustavo Jiménez-Uzcategui, Galo Quezada und Miguel Vence) herausgefunden, dass wir Mee­resechsen hier auf San Cristóbal eine eigene Unterart sind. Mein Professor hat uns, dir und mir und allen hier, einen neuen Namen ge­geben. Wir sind eine eigene Sub­spezies und als solche absolut erhaltenswert nach sämtlichen internationalen Natur- und Arten­schutzabkommen, die die Men­schen unter sich ausgemacht haben.«

Dem Jungen schwirrte der Kopf. »Ja, und wie heißen wir jetzt?«,

fragte er.

»Wir heißen ...«

Der Alte räusperte sich vornehm. »Wir heißen amblyrhynchus cris­tatus godzilla.«

»Wir heißen Godzilla? Das ist ein Witz, oder?«

Der Junge spuckte eine kleine Salzwasserfontäne absichtlich am Alten vorbei. »Und das ist jetzt echt? Das ist unser echter Name?«

»Kein Witz. Das ist unser echter Name, wie er in den Büchern der Menschen steht. Aus Menschen­sicht ist das so echt, wie es echter nicht geht.«

»Erzähl mir mehr davon«,

sagte der Junge.

»Ja, gern, aber das ständige Drü­cken geht langsam über meine Kräfte«,

sagte der Alte.

»Ich will auch nicht länger gegen dich kämpfen. Ich will gegen die Menschen kämpfen.«

»Junger Mann, wenn du jetzt nicht endlich richtig gegen mich kämpfst, wirst du dein Revier ver­lieren.«

»Alter Mann, hör auf zu kämpfen und lass uns stattdessen zusam­men ins Revier gehen.«

»Zwei Männchen in einem Revier, das ist gegen jede Natur«,

sagte der Alte.

»Weißt du was?«,

entgegnete der Junge, »pfeif’ auf die Natur!«

Und so geschah etwas, das die Galapagos-Inseln noch nicht gesehen hatten: Seite an Seite spazierten zwei mächtige Meeresechsen hoch erhobenen Hauptes zum nun gemeinsamen Revier.

Der Alte nahm Platz in der Mitte des Reviers, in dem Weibchen und diverse Jungtiere neben-, über- und aufeinander lagen wie eine Hor­de bekiffter Hippies. Er genoss es, unter Seinesgleichen zu sein, er genoss die Wärme der Sonne, die ihm hier viel wärmer erschien als in seiner Einsiedelei. Und es löste sich endlich die vergessen ge­glaubte Enttäuschung, die darin wurzelte, dass er stets als Verlierer vom Platz gegangen war, dass er nie derjenige gewesen war, der erwählt wurde. Nie wieder würde er sich die Geschichte erzählen müssen, um wie viel angenehmer es doch sei, allein auf den schwar­zen Steinen zu liegen als neben einem Weibchen, jetzt, wo er ein fremdes Bein am Hals spürte und einen fremden Hals auf dem eige­nen Rücken. So viel angenehmer war es doch, sich als Siegermänn­chen zu fühlen.

Eine aus der Gruppe zwinkerte ihm zu, während der Junge seine Nase rümpfte – als verstecktes Zeichen einer Zustimmung oder als Signal der Gleichgültigkeit oder der Zufriedenheit mit der Gesamt­situation.

Der Alte konnte sein Glück kaum fassen. Vielleicht würde er jetzt seinen ersten Nachkommen zeugen? Wenn alles klappt, wenn seine müden Knochen mitmachten und wenn die Ratten hinterher nicht das Gelege fraßen.

»Ich geh’ mal was futtern. Oder anders ausgedrückt: ich tauch’ dann mal ab!«,

sagte der Junge und überließ den Alten der Obhut seiner Partnerinnen.

Der Alte blickte in die Runde und überlegte, welche der zwanzig An­wesenden wohl die Stärkste wäre. Bei welcher er sicher sein konnte, dass sie den später folgenden Kampf gegen eine Rivalin um den besten Eiablageplatz gewinnen würde. Der im Gegensatz zum Schau­kampf der Männchen ernst war und blutig enden konnte.

Ach, egal, es würde sich schon etwas ergeben, man muss doch nur der Natur ihren Lauf lassen, dachte der Alte.

»Auf die Naturwissenschaft«,

rief er und stellte fest, dass das als Schlachtruf nicht besonders gut ankam. Er überlegte kurz, stellte sich auf die Hinterbeine und brüllte: »Godzilla! Ich heiße Godzilla!«

Und dann ging es los.

 

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Cover art:
Ugo Rondinone
dreams and dramas, 2001
Nein, acrylic glass, translucent foil, aluminium 
390 x 950 x 10cm

Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul