»Opa, wer sind denn eigentlich die Leute, mit denen du da auf dem Foto am Tischkicker stehst? Waren das deine Freunde?«

»Das? Nee. Das waren Arbeitskollegen.«

»Und die Männer, mit denen du auf dem anderen Bild Polonaise tanzt?«

»Das waren auch Arbeitskollegen.«

»Hattest du keine Freunde, Opa?«

»Äh ... doch. Obwohl. Na ja, so viel Zeit blieb für Freunde und Fami­lie damals nicht. Das war schon viel Stress im Büro. Neun Stunden arbeiten und dann noch gemütlich mit den Kollegen Club-Mate trinken und kickern … Hm ja, das klingt heute vielleicht seltsam. Aber das war halt damals so, im frühen 21. Jahrhundert. Wir haben das gar nicht hinterfragt. Getränke und Snacks waren umsonst, die Stimmung war super und Fitnessgeräte gab’s auch.«

Zeitgenössische Phänomene, die für einen nennenswerten Teil der Gesellschaft als normal und selbstverständlich gelten, lassen sich auch als Mythen der Gegenwart kennzeichnen, oder mit einem Wort des französischen Philosophen Roland Barthes als »Alltagsmythen«. Jede Zeit hat ihre Mythen. So wie wir schon heute ungläubig auf die frühere Begeisterung für die »autogerechte Stadt« oder die »Haus­frauenehe« des 20. Jahrhunderts zurückblicken, werden kommende Generationen über die Vermischung von Arbeit und Privatleben staunen.

In den nuller Jahren dieses Jahrhunderts schwappte der Geist der »New Work« nach Deutschland. Flexiblere, lockerere Arbeitsverhält­nisse der Start-up-Kultur setzten sich durch, insbesondere in großen Firmen und Agenturen, also in privilegierten Jobs. Ziel der Bosse war und ist es, den Mitarbeiter:innen ein so angenehmes und per­sönliches Arbeitsumfeld zu bieten, dass diese sich als Teil einer großen »Familie« fühlen und sich emotional ans Unternehmen binden. Natürlich geht das zeitlich zulasten des klassischen Privatlebens.

Mit ein wenig Distanz betrachtet, klingt das verrückt und widersinnig. 

Sicher ist es schön, sich mit einzelnen Kolleg:innen anzufreunden – aber doch nicht mit allen! Warum dann nicht gleich den Heiligabend mit der ganzen Belegschaft feiern? Dieses Phänomen werde ich lieber nicht googeln, aus Angst, dass es das im Silicon Valley bereits gibt. Der Feierabend ist doch traditionell dafür da, sich von den Kolleg:innen zu erholen, sie mal NICHT zu sehen. Klar gab es auch in der Vergangenheit Formen der Vermischung von Arbeit und Pri­vatleben, wenn ein Lehrling bei der Familie seines Meisters wohnte oder ganze Arbeitersiedlungen auf dem Werksgelände standen, aber noch nie zuvor wurde dies so euphorisch als etwas Erstrebens­wertes und Positives gefeiert wie in diesem Jahrhundert.

Doch dann kam Corona. Homeoffice wurde notgedrungen beliebt. Seit wenigen Jahren scheint sich tendenziell wieder ein distanzierte­res, pragmatischeres Verhältnis zum eigenen Arbeitgeber durchzu­setzen. Erste Tischkicker verstauben in Gemeinschaftsräumen. Im Team gepflegte Büropflanzen – auch sie Teil der »großen Familie« – welken dahin wie die einst glorreichen Start-ups. In den »After-Work-Clubs« versaufen die vor der Pleite stehenden Betreiber die letzten Cocktailreste allein. In wenigen Jahrzehnten werden wir die Vermi­schung von Arbeit und Privatem vermutlich vollends seltsam finden. Gern stelle ich mir eine Museumsausstellung zu diesem Thema vor. »Per Glücksgalopp durch den Job« oder »Ackern und Gackern« könnte sie heißen. Herzstück der Fotos und Videoinstallationen wären dabei all die abertausenden bizarren »Firmenläufe«. Im Jahr 2040 werden junge Menschen kopfschüttelnd und kichernd davor stehen: »Guckt mal, wie sie sich nach dem Marathon alle umarmen – iiih, die Arbeitskolleg:innen!« Es sind junge Menschen, die abends lieber mit den früheren Schulfreund:innen Cocktails kippen gehen.

 

Alltagsmythen sind Gegebenheiten, die einem überhaupt nicht als zeitspezifisch auffallen. So wie es den meisten Leuten unter fünfund­dreißig Jahren gar nicht bewusst ist, dass die Flut an »Selfies« etwas historisch vollkommen Neuartiges ist. Im Fotoalbum meiner Groß­mutter sehe ich auf den schwarz-weißen Bildern fast nur Landschaf­ten und Städte. Eher selten befindet sich dort auch mal eine Person oder eine Gruppe. Klein und irgendwie verloren wirkend, stehen sie zwischen majestätischen Gebäuden oder Bäumen herum. Auch mei­ne selbst geschossenen Bilder aus den achtziger Jahren sind nahe­zu menschenlos. Jede Person hätte darin gestört. Warum den Eiffel­turm oder das azurblaue Wasser des Mittelmeers mit Körperteilen verdecken? Gute Frage: Was wäre eigentlich gewesen, wenn der Selfie-Trend schon vor Jahrhunderten verbreitet wäre? Auf den Ge­mälden eines Caspar David Friedrich wären all die stimmungsvollen Felsen und knorrigen Bäume gar nicht richtig zu sehen. Da lobe ich mir den berühmten »Wanderer über dem Nebelmeer«, der eher dezent und nur von hinten sichtbar ist. Übrigens auch eine spannende Trend­möglichkeit – sich per Selbstauslöser von hinten abzulichten.

Mit dem Siegeszug der hochwertigen Smartphone-Kameras und der gleichzeitigen Allgegenwart von Social Media wurden die Men­schen auf den Fotos vor zwanzig Jahren plötzlich größer und größer, und immer öfter war die fotografierende Person selber zu sehen. Ob das Bild nun wirklich selbst geschossen wurde oder von einer anderen Person aus der Nähe fotografiert, ist eigentlich egal: We­sentlich ist, dass der eigene Körper, insbesondere das Gesicht, das Foto dominiert. Seither ist kein Motiv beliebter als die eigene Visage, gern gefiltert und bearbeitet. Urlaubsorte und Stadtsilhouetten de­gradiert zu Kulissen, zu nichtigen Felsspitzen und fragmentierten Hausfassaden. Wie seltsam, wenn man darüber nachdenkt: Das spannende Musikfestival wird vom eigenen Gesicht überdeckt, ob­wohl man dies doch eh zur Genüge kennt. Und wenn überhaupt Gesichter, warum dann nicht wenigstens völlig fremde – flüchtig und verstohlen auf den Straßen fotografiert?

Obwohl ein noch junges Phänomen, hat sich die Selfie-Kultur bereits mehrfach gewandelt. Das gern verlachte »Duckface« ist einer »Antiduckface«-Bewegung gewichen. Das Ende dieses zeit­genössischen Mythos ist noch lange nicht in Sicht, aber die Gegen­bewegungen mehren sich. Vor allem bei jungen Frauen sind Ritu­ale populär, einander per »No-Filter-Apps« unbearbeitete Schnappschüsse zuzuschicken. Oder gleich Einwegkameras zu verwenden. Spannend wäre auch, wenn sich der Selfie-Trend weg vom Gesicht, hin zu anderen, bisher stiefmütterlich fotografierten Körperteilen verlagern würde, etwa zu den Füßen. Auch hier sind die Möglichkeiten der Inszenierung zahllos: eingerollte oder ge­spreizte Zehen, metallic türkis lackierte oder ungefeilte Nägel, oder gar, authentisch und unbearbeitet, ein Füßie direkt nach dem Aufwachen. 2017 wurde das Wort Selfie in den Duden aufgenom­men. Wann wird es daraus wieder verschwinden? Ich tippe auf das Jahr 2053.

»Hä, warum hast du dich denn früher immer selber fotografiert, Oma? Hattest du keine Freundinnen?«

Gute Frage.

 

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Cover art:
Ugo Rondinone
dreams and dramas, 2001
Nein, acrylic glass, translucent foil, aluminium 
390 x 950 x 10cm

Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul