Das Klavier

Text von Jan Weiler
Kunst von Marc Krause, Fred Lahache, Peter Jaunig über Connected Archives

Lesedauer: 15 Min.

Kein Mensch kommt um die Vorlieben der Eltern herum. Beziehungen zu elterlichen Bezugspersonen verändern uns lebenslang. Die ersten Jahre unseres Lebens wohnen wir mit ihnen unter einem Dach. Frühstücksmarotten, Sportvorlieben oder Lieblingssendungen kreieren dabei unser Lebensumfeld. All das prägt uns, ob wir wollen oder nicht. Was aber, wenn aus Vorlieben Obsessionen werden?
Ein Entrinnen scheint es nicht zu geben. Nicht mal, wenn man drüber lachen kann.

Das von meiner Mutter mit in die Ehe meiner Eltern gebrachte Klavier stand als pechschwarzes Monument des Scheiterns in unserem Wohnzimmer. Nur sehr selten spielte mein Vater darauf. Dann holte er Noten hervor und versuchte sich an etwas von Frédéric Chopin. Aber er war kein besonders guter Pianist und ich glaube, das hat ihn geärgert. Er spielte nämlich nie lange und mit einer gewissen Verdrossenheit, so als wolle er lediglich seine mäßige Begabung noch einmal kontrollieren und bestätigen. Sobald diese ausreichend belegt war – also nach etwa zwei Minuten –, räumte er die Noten weg, klappte den Klavierdeckel zu und legte eine Schallplatte mit einer schönen Symphonie auf, wie um damit die Schallwellen zu vertreiben oder sogar vergessen zu machen, die er kurz zuvor erzeugt hatte. Manchmal dirigierte er zur Schallplattenmusik. Später schenkten wir ihm dafür einen schönen Dirigentenstab aus Elfenbein, aber er hat ihn nie benutzt, jedenfalls nicht, wenn wir dabei waren. Er wäre wohl sehr gerne Musiker geworden, aber es hat sich nicht ergeben, was nicht an seiner mangelnden Begabung lag. Diese hätte er durch Fleiß ausgleichen können. Das machen viele. Zudem wäre vielleicht ein guter Komponist aus ihm geworden, oder ein Musiktheoretiker. Aber aus kleinen Ostberliner Verhältnissen stammend gab es für ihn zu Beginn der sechziger Jahre einfach Wichtigeres als Musik. Mein Vater wurde also Kaufmann und wenn schon nicht Musiker, so doch wenigstens ein fanatischer Liebhaber klassischer Musik. Ersparnisse investierte er in Opernbesuche, später in altarähnliche Stereoanlagen mit Boxen groß wie Hundehütten. Einmal haben wir in einem der Lautsprecher eine tote Maus entdeckt. Ich bin sicher, sie hatte einen Herzinfarkt. Wahrscheinlich durch Richard Wagner.

Mein Vater erwarb tausende von Tonträgern, die er bienenfleißig archivierte, indem er jede Neuerwerbung in eine Art ledergebundenes Handlungsbuch eintrug. Langspielplatten erhielten einen kleinen orangefarbenen Klebepunkt mit einer Laufnummer. Die großen Tonbänder bekamen grüne nummerierte Klebepunkte und die klanglich eingeschränkten Musikkassetten blaue. Solche Punkte klebte er mit denselben Nummern versehen auch in sein Buch, welches alphabetisch geordnet alle Komponisten enthielt, von denen er Werke besaß. Um eine bestimmte Symphonie von Ludwig van Beethoven zu finden, ­musste er nur im Buch nachschlagen, um festzustellen, dass er sie auf dem Tonband (oranger Punkt) Nummer 32 archiviert hatte. Im Buch war auch vermerkt, um welches Orchester mit welchem Dirigenten es sich handelte und wer etwa als Solist oder Sänger mitwirkte. Mein Vater abonnierte die »Hörzu«, weil diese ein umfangreiches Radioprogramm anbot, und ließ eine drehbare Antenne auf dem Dach unseres Hauses installieren, deren Steuergerät im Wohnzimmer neben der Stereoanlage stand und von seinen Kindern zum James-Bond-Spielen missbraucht wurde. Drehte man an dem großen Knopf des Gerätes, erklang ein surrendes Geräusch und die Antenne auf dem Dach drehte sich langsam, geradezu sinister, wie auf geheimen Befehl. Das machte meinen Vater fuchsteufelswild, weil unsere Spielerei seine Versuche torpedierte, die Aufnahme irgendeiner Oper auf klanglich höchstem Niveau durch Feinjustierung der Antenne vorzubereiten. Manchmal schaute ich ihm dabei zu, wie er seine Punkte aufklebte und in seiner Kaufmannsschrift notierte, wer wo was gesungen oder dirigiert hatte. Ich nahm an, es handelte sich bei dieser Verrichtung um etwas Berufliches oder sonst wie Lebenswichtiges, denn er versah diese Tätigkeit mit großem Ernst.

Einmal haben wir in einem der Lautsprecher eine tote Maus entdeckt. Ich bin sicher, sie hatte einen Herzinfarkt. Wahrscheinlich durch Richard Wagner.

Jahrelang hat mein Vater Tonbandkilometer um Tonbandkilometer aufgezeichnet und vor sich hin archiviert, ohne dann allerdings jemals etwas suchen zu müssen. Er wusste ohnehin auswendig, wo er diese oder jene Aufnahme von Dietrich Fischer-Dieskau und Herbert von Karajan oder Georg Solti und René Kollo hatte. Er führte sein Buch dennoch gewissenhaft und immer unzufrieden mit dem Rückstand, der sich kumulierte, sobald er zehn neue Platten kaufte, obwohl er noch acht in den Bestand aufzunehmen hatte. Es ist möglich, dass er seine Sammlung gar nicht für sich selbst, sondern für die Nachwelt oder irgendwelche interessierten Kreise gepflegt hat, die aber nie auf ihn zukamen, weil niemand außerhalb seiner Familie von seinem gigantischen Schallarchiv wusste. Und so war sein Archiv reiner Selbstzweck, was bei vielen Hobbys der Fall ist und die Ursache für das tiefe Glücksempfinden darstellt, das Sammler beim Sammeln umfängt. Das Aufkommen der Compact Disc stürzte ihn später in eine gewisse Verzweiflung, da es nun aufgrund der im Vergleich zur Schallplatte längeren Laufzeit vorkam, dass auf einem Tonträger mehrere Komponisten erschienen. Sollte man die Nummern dann im Buch zweimal vergeben, beispielsweise bei Georg Friedrich Händel und bei Johann Sebastian Bach? Das erschien ihm wohl nicht praktikabel, es unterminierte sein System und anstatt es darauf umzustellen, stellte er es ein. Vielleicht verlor er auch einfach die Lust oder er ahnte, dass mit der CD die meisten seiner Vinylplatten bald wertlos würden, besonders die älteren mit den verrauschten Aufnahmen. Wahrscheinlich führte ein Gedankengang zum anderen. Tatsächlich besitzt er nahezu den ganzen Bestand heute digital. Zuerst kaufte er keine Schallplatten mehr, dann hörte er sie nicht mehr, dann warf er die Kassetten fort und schenkte schließlich das kostbare Tonbandgerät meinem kleinen Bruder, der es im Wesentlichen dazu benutzte, Echo und Hallgeräusche zu erzeugen. 

Natürlich hatte die Sammelleidenschaft meines Vaters etwas Schrulliges, aber das war mir als Kind nicht klar. Ich meinte nur zu bemerken, dass die klassische Musik offensichtlich kein Vergnügen war, sondern eine akut ernste Angelegenheit. Dies spiegelte sich auch im Verhalten meiner Eltern, wenn sie in die Oper oder ins Konzert gingen. Sie waren Abonnenten sowohl in der Deutschen Oper am Rhein als auch bei den Düsseldorfer Symphonikern. Das schien kein Spaß zu sein und man zog sich anständig an, ähnlich wie zu einer Beerdigung. Meine Mutter zerstörte die Würde des Abmarsches dann und wann, indem sie leise ächzte, sie habe keine Lust. Ihre leichte Resignation in diesen Momenten erinnert an den Witz über die Bayreuther Bürgermeistergattin. Diese verlässt im zweiundreißigsten Dienstjahr ihres Mannes nach der Aufführung der »Meistersinger von Nürnberg« das Bayreuther Festspielhaus und seufzt leise: »Jetzt regnet’s auch noch!«

Ich meinte nur zu bemerken, dass die klassische Musik offensichtlich kein Vergnügen war, sondern eine akut ernste Angelegenheit.

Die Begeisterung meines Vaters für ernste Musik, insbesondere übrigens für Gustav Mahler, führte zu einem lexikalischen Musikwissen, mit welchem er dann und wann prahlte, wobei seine Söhne seine Ausführungen mit Gleichmut aufnahmen, aber keineswegs in die von ihm erhofften Begeisterungsstürme ausbrachen. Manchmal sahen wir uns »Erkennen Sie die Melodie?« an, ein Musikquiz, welches in gütiger Strenge von dem gelernten Friseur Ernst Stankovski moderiert wurde. Nach der Titelmelodie (der Ouvertüre zu »Donna Diana« von Emil Nikolaus von Reznicek) folgte ein einigermaßen erschütterndes Ratespiel mit den Themenkreisen »Oper«, »Operette« und »Musical«. Mein Vater wusste praktisch alles, außer im Bereich »Musical«, was er damit begründete, dass Musicals von minderem Wert seien, »West Side Story« vielleicht einmal ausgenommen. Musicals waren für ihn das Letzte, er sammelte so etwas auch nicht. Er besaß zudem nur drei Pop-Schallplatten, die er aber nicht für würdig befand, in seinen Katalog aufgenommen zu werden. Es handelte sich um je eine Platte von Neil Diamond, Simon & Garfunkel und den Beatles. Er fand, das sei zwar im strengen Sinne keine Musik, aber nicht vollkommen unerträglich. Über den in meiner Kindheit enorm populären James Last oder die Schlagermusik der siebziger Jahre äußerte er sich überhaupt nicht. Gar nicht. So etwas existierte für ihn nicht. Es konnte höchstens geschehen, dass er im rheinischen Karneval mit den Füßen zu »Es ist noch Suppe da« wippte, aber auch dies nicht aus Anerkennung, sondern allenfalls irgendwelchen ihm unerklärlichen motorischen Bedürfnissen genügend. Die Ausflüge des Tenors Peter Hofmann in den Bereich der Rockmusik verzieh er ihm nicht, Hofmann war danach bei ihm unten durch. Seine Kennerschaft in Bezug auf klassische Musik veranlasste ihn und meine Mutter zu weiten Reisen, um eine bestimmte Inszenierung oder einen Dirigenten oder ein Orchester zu sehen.

Einmal brachte er von so einer Reise ein sehr merkwürdiges Souvenir mit. Er hatte, das muss kurz vor dessen Tod gewesen sein, zwei Eintrittskarten zu einem Gastspiel des von ihm bewunderten Vladimir Horowitz in Berlin ergattert. Das Konzert, bei dem er im Publikum gesessen hatte, wurde aufgezeichnet und gesendet und mein Vater nahm es bei der Ausstrahlung aus dem Radio auf, klebte ein Pünktlein in sein Archivbuch und schrieb alles hinein, was er hineinschreiben musste. Als die Aufnahme etwa eine Dreiviertelstunde lief, stellte er sich mit erhobenem Zeigefinger mitten ins Wohnzimmer und sagte: »Gleich!« Dann folgte eine ruhige Stelle im Konzert, es vergingen einige Sekunden, in denen er um höchste Aufmerksamkeit bittend die Augenbrauen hob und seine Familie mit weit geöffneten Augen anstarrte. Dann flüsterte er: »Jetzt!« – und zwischen zwei einzelnen Tönen des Horowitz’schen Spiels war ein dezentes, kaum wahrnehmbares Hüsteln zu hören. Das war mein Vater. Er hatte sich in einem legendären Konzert von Vladimir Horowitz verewigt. Er war sozusagen Teil der Aufführung geworden, hatte dieser sein Wasserzeichen eingehüstelt und teilte fortan eines seiner Tonbänder mit einem der größten Pianisten des zwanzigsten Jahrhunderts. Zwar bestand mein Vater darauf, dieses Verbrechen nicht mit Absicht begangen zu haben, sondern Opfer eines kleinen Infektes geworden zu sein, der sich just in jenem Augenblick der Aufführung ohne sein bewusstes Zutun und unter seinem größten Bedauern Geltung verschafft hatte, aber so ganz sicher bin ich da nicht. Schließlich hätte er auch an einer lauteren Stelle husten können und das wäre keinem Menschen aufgefallen. Was mich an der Episode bis heute sehr beeindruckt, ist, dass er auf die tausendstel Sekunde genau wusste, in welchem Takt sein Husten zu hören sein würde.

Die Kenntnisse meines Vaters waren und sind immer noch bemerkenswert und einmal wurde er deswegen in eine Radiosendung zum Thema »Gustav Mahler« eingeladen. Er teilte sein Wissen aber auch gern ungefragt mit seiner Umwelt und ich glaube, dass er insgeheim darauf hoffte, anderen mit seiner Expertise zu helfen, was ihm aber so gut wie nie abgefordert wurde, weil selbst profunde Kenntnisse der Renaissancemusik nun einmal wenig hilfreich sind, wenn man einen Siphon zu wechseln oder eine Waschmaschine anzuschließen hat. Immerhin einmal habe ich ihn gefragt, was mir in der Schule meine einzige Eins im Musikunterricht einbrachte. Das war, als wir ein Referat zu einem Komponisten unserer Wahl halten sollten. Ich wählte dafür Wolfgang Amadeus Mozart aus, weil ich 1978 annahm, dass er leichter zu recherchieren sein würde als zum Beispiel ­Alban Berg oder Jan Pieterszoon Sweelinck. Dieses Referat war die einzige Hausaufgabe, bei der mir mein Vater jemals geholfen hat. Er war ­begeistert von meiner Wahl und setzte sich mit mir an den Esstisch, um mir das Referat in einem eineinhalbstündigen druckreifen Monolog zu diktieren. Er musste währenddessen weder etwas zurücknehmen noch später etwas ergänzen. Er saß einfach da und diktierte mit zwar bebender Begeisterung, aber ruhiger Stimme. Er wusste praktisch alles über Mozart, inklusive der wichtigsten Lebens­daten und Köchelverzeichnis-Nummern. Er unterschied dabei Werke, deren Köchelverzeichnis-Nummer man wissen musste, wie »Die Zauberflöte« (KV 620), dann Werke, deren Nummer man wissen sollte (Symphonie 41 C-Dur, KV 551) und solche, deren Nummer man wissen konnte (19 Menuette für Orchester, KV 103).

Selbst profunde Kenntnisse der Renaissancemusik sind nun einmal wenig hilfreich, wenn man einen Siphon zu wechseln oder eine Waschmaschine anzuschließen hat

Man sollte nun meinen, dass seine drei Söhne – ich bin der mittlere – von der Liebe ihres Vaters zur klassischen Musik sicher angesteckt wurden. Aber das ist zumindest in meinem Fall nicht so gekommen. Und daran ist ausgerechnet mein Vater schuld, was kein Vorwurf sein soll, denn ich entbehre nichts. Natürlich genossen wir eine musikalische Erziehung, ich erhielt Klavierunterricht und jeden Zugang zur Orchestermusik, den man sich denken kann. Doch gerade dies hat letztlich dazu geführt, dass ich mit der klassischen Musik, insbesondere mit der Oper, früh gebrochen habe. Es ist auch nichts mehr zu machen, ich habe es versucht, aber außer ein paar Klavierkonzerten und wenigen Symphonien findet sich in meiner musikalischen Sammlung nichts, was mein Vater für sein Archiv auch nur vage in Betracht gezogen hätte. Wie hat es dazu kommen können?

Meine Eltern entschieden einfach irgendwann, dass es an der Zeit sei, die Jungs in die Welt der Oper einzuführen. Sie wählten dafür »Der Wildschütz« von Albert Lortzing aus, weil die Oper komisch ist und auf der Bühne allerhand passiert. Ich muss ungefähr neun Jahre alt gewesen sein und was ich da sah, hat mir offenbar so gut gefallen, dass ich um mehr bat. Mein glücklicher Vater suchte dann »Die Zauberflöte« aus, ein Werk, das man auch Kindern gut zumuten kann, obwohl die Spieldauer von über zweieinhalb Stunden schon eine gehörige Disziplin abverlangt, die ich nicht aufbrachte und nur unter größten Mühen durchhielt. Es war mir immer ein Rätsel, wie es alte Damen schaffen, stundenlang vollkommen regungslos auf einem schwach gepolsterten Klappsitz zu verbringen. Ich vermag dies bis heute nicht und vermutete schon damals bei den Frauen eine Mischung aus Totenstarre und Angst vor Bestrafung, womit ich vielleicht auch nicht ganz falsch lag. Immerhin gefiel mir die Musik; in dieser Oper befinden sich ja zahlreiche, auch Kindern zugängliche Hits wie »Der Vogelfänger bin ich ja« und »Dies Bildnis ist bezaubernd schön«. Wir waren also auf einem guten Weg. Und dann machte mein Vater einen folgenreichen Fehler, indem er fünf Karten für »Lear« von ­Aribert Reimann kaufte. Ich wurde in meinen dunkelblauen Cordanzug gewickelt und ab ging’s in die Düsseldorfer Oper. Ich war zehn Jahre alt und ahnte nichts Böses. Wir saßen in der ersten Reihe des Oberranges, direkt vor der Brüstung. Auf der Bühne erschienen alte graue Männer und brummten atonal. Schiefe Blitze schossen aus dem Orchestergraben und zerteilten meine Synapsen wie Skalpelle. Frauen schrien, Geigen kreischten. Dann wieder ruhige Phasen, Sprechgesang, tiefste Verstörung. Was auch am Inhalt lag. Das Libretto nach William Shakespeares Vorlage besteht aus allerdüsterster Kost. Da wird verstoßen und gewütet, Irre treten auf, einer wird geblendet, es wird erstochen, vergiftet und erschlagen. Und vor allem wird stundenlang kreuz und quer gesungen, meist vor apokalyptischer Kulisse. Das Orchester unternimmt alle Anstrengungen, dem Publikum bis ins hohe Alter in mahnender Erinnerung zu bleiben, indem es immer wieder bis an die Grenzen der Instrumentenbelastbarkeit aufspielt. Die Bleche der Bläser glühen, Geiger rutschen schwitzend über Griffbretter. Überhaupt nimmt sich die Instrumentierung von »Lear« einigermaßen bombastisch aus, besonders was die Schlagzeuggruppe betrifft. Es rumoren fünf Bongos, fünf Tomtoms, fünf Tempelblocks, drei Schlitztrommeln, eine Rührtrommel, eine Kleine Trommel, eine Große Trommel, dazu noch Becken, vier hohe und drei tiefe Gongs, vier Tamtams sowie hängende Bronzeplatten, Metallfolie, ein Metallblock und ein Holzfass. Ein unfassbarer Radau kommt auf diese Weise zusammen und verbindet sich mit der zumindest für Kinder nicht mehr verständlichen Handlung zu einem verstörenden und vor allem unendlichen Tort.

Phasen größter Verzweiflung und Scham über meine Unverständigkeit wechselten sich ab mit der Hoffnung auf das, was mir bereits an den vorherigen Abenden in der Oper am besten gefallen hatte: Traubensaft.

Nach einer Viertelstunde kapitulierte ich und sah nach unten auf meine Schuhe, wo sich aber nichts tat. Ich musterte die Eltern, die hochkonzentriert lauschten, versuchte an etwas Schönes zu denken, wurde dabei aber immer wieder durch die wechselweise hysterischen und dann wieder tief deprimierten Darbietungen auf der Bühne in den Saal zurückgeholt, wo die Erwachsenen um mich herum wie eine riesige tönerne Armee saßen. Phasen größter Verzweiflung und Scham über meine Unverständigkeit wechselten sich ab mit der Hoffnung auf das, was mir bereits an den vorherigen Abenden in der Oper am besten gefallen hatte: Traubensaft. In der Pause, die ich nun herbeisehnte wie ein Eunuch die Liebe, gab es immer Traubensaft für uns drei Brüder. Wir standen dann wie kleine Erwachsene im Foyer und schlürften diesen wie Rotwein aussehenden Saft, dazu gab es kleine Pumpernickelschnittchen, für die sich meine Mutter fast die ganze Pause über in eine Schlange aus weiteren Frauen stellte, die aber keine Kinder dabeihatten, mit denen man sein Schicksal hätte teilen können. Nur die Aussicht auf den Traubensaft unter dem Kronleuchterlicht des Foyers in der Düsseldorfer Oper hielt mich im ersten Akt von »Lear« am Leben. Traubensaft in kleinen Schlucken. Traubensaft aus einer kleinen überteuerten Flasche. Traubensaft war Lebenssaft. Aber unendlich fern. Ich dachte auch an die Möglichkeit, einen Blinddarmdurchbruch zu simulieren oder einfach ohne jede weitere Erklärung ohnmächtig zu werden, um der Situation zu entfliehen. Schließlich knetete und faltete ich lediglich das Programmheft, welches irgendwann handwarm herunterfiel und zwischen den Beinen meines Vaters zu liegen kam. 

Am Ende habe ich es überlebt und dieser Abend gehört zu den eindrucksvollsten Schockerfahrungen meines Lebens, dem nur die Begegnung mit einem riesigen Stachelrochen gleichkommt, der einmal über mir auftauchte, als ich fast dreißig Jahre später beim Schnorcheln nach Clownfischen suchte, und die eine echte Angststarre in mir auslöste. Ich wollte meinen Vater nicht enttäuschen und habe ihm sicher damals nicht gesagt, dass ich mit »Lear« die grauenhafteste Erfahrung meines ganzen Lebens gemacht hatte, was ich damals ja auch noch gar nicht wissen konnte. Aber noch heute bekomme ich augenblicklich Schweißausbrüche, wenn ich »Lear« höre. Ich habe es für diesen Text ausprobiert und kaufte die Aufnahme der Uraufführung. Aber ich hielt es nicht lange durch. Natürlich ist mir vermittelbar, um welch eine mutige und rhythmisch gerissene Komposition es sich da wohl handelt, wie komplex und anspruchsvoll und modern es in »Lear« zugeht. Aber mein größter Respekt gebührt nicht unbedingt den Sängerinnen und Sängern auf der Bühne, sondern dem Publikum, welches sich darauf einzulassen in der Lage ist. Das ist Schwerstarbeit, zu der ich mich 1978 nicht in der Lage sah und die mir bis heute eine tiefe, eine ganz unbeschreibliche Furcht einflößt. Diese Oper hat in mir ein nicht tilgbares Trauma hinterlassen, ich denke sofort an die Einsamkeit eines kleinen Jungen inmitten dieser Geräuschkulisse, an die Ausweglosigkeit eines kleinen Menschen, der nicht einmal eine Armbanduhr trägt, um die Minuten herunterzuzählen, bis es endlich Traubensaft gibt, an die Gefangenschaft zwischen meinen Eltern. Mein Vater atmete hörbar durch die Nase aus und meine Mutter duftete nach Mutterparfüm, und ich rutschte minütlich tiefer in meinen Sitz, langsam verdorrend, verschrumpelnd und verkümmernd. 

Danach war Schluss. Mein Vater hatte verloren, auf ganzer Linie. Ich wendete mich ab, mehr noch, ich brach rigoros mit der Musik meines Vaters. Psychologen würden mutmaßen, dass es ein Akt adoleszenter Opposition war, denn ich entdeckte meine Hinstimmung zu schneller, lauter und möglichst dilettantischer Musik. Schnelle Achtel, simple Strukturen. Meine bis heute auf das Inbrünstigste verehrte Lieblingsplatte zeigt auf dem Cover einen jungen Mann, der breitbeinig im T-Shirt auf einer Bühne steht und seine Bassgitarre zertrümmert. Für meinen Vater waren meine Vorlieben vollkommen unverständlich. Wenn er mein Zimmer betrat, um mich zu bitten, »das, was du bedauerlicherweise für Musik hältst« leiser zu machen, schüttelte er hernach den Kopf, um mir mitzuteilen, dass diese »elektrifizierten Geräusche« ein großer Irrtum seien. Dabei führt die Instrumentierung von »Lear« geradewegs in ein tiefes Verständnis für das Werk der »Einstürzenden Neubauten« , wenn man dafür bereit ist. War er aber nicht. Mein Missionierungseifer hält sich in Grenzen. Ich will und muss ihn nicht von etwas überzeugen, was ihm nicht liegt. Und auch er hat seine Bemühungen längst eingestellt. Wir frotzeln manchmal über den Geschmack des anderen und er behauptet dann, ich hätte eben leider gar keinen. Ich nicke und gebe ihm recht. Hier und da singe ich allerdings die Arie der Königin der Nacht, worin ich ausgezeichnet bin. Finde ich. Meine Kinder laufen dann weg und der Hund fängt an zu bellen. Aus meinen Brüdern sind übrigens passable Musiker geworden, Gitarre und Schlagzeug. Ich spiele ebenfalls Schlagzeug, aber nicht besonders gut. Ich bin ein richtiger Rummelplatzdrummer. Das schwarze Klavier steht inzwischen bei uns. Mein Vater hat sowieso nicht mehr darauf gespielt. Nun sitzt meine Tochter daran. Sie spielt wunderschön und nun schon im vierten Jahr. Als mein Vater einmal zu Besuch war und seine Enkelin hörte, war er sehr gerührt. Er hob die Augenbrauen, drehte sich zu mir und sagte gefasst: »Dann ist doch noch Hoffnung.« 

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