Natürlich hatte die Sammelleidenschaft meines Vaters etwas Schrulliges, aber das war mir als Kind nicht klar. Ich meinte nur zu bemerken, dass die klassische Musik offensichtlich kein Vergnügen war, sondern eine akut ernste Angelegenheit. Dies spiegelte sich auch im Verhalten meiner Eltern, wenn sie in die Oper oder ins Konzert gingen. Sie waren Abonnenten sowohl in der Deutschen Oper am Rhein als auch bei den Düsseldorfer Symphonikern. Das schien kein Spaß zu sein und man zog sich anständig an, ähnlich wie zu einer Beerdigung. Meine Mutter zerstörte die Würde des Abmarsches dann und wann, indem sie leise ächzte, sie habe keine Lust. Ihre leichte Resignation in diesen Momenten erinnert an den Witz über die Bayreuther Bürgermeistergattin. Diese verlässt im zweiundreißigsten Dienstjahr ihres Mannes nach der Aufführung der »Meistersinger von Nürnberg« das Bayreuther Festspielhaus und seufzt leise: »Jetzt regnet’s auch noch!«
Ich meinte nur zu bemerken, dass die klassische Musik offensichtlich kein Vergnügen war, sondern eine akut ernste Angelegenheit.
Die Begeisterung meines Vaters für ernste Musik, insbesondere übrigens für Gustav Mahler, führte zu einem lexikalischen Musikwissen, mit welchem er dann und wann prahlte, wobei seine Söhne seine Ausführungen mit Gleichmut aufnahmen, aber keineswegs in die von ihm erhofften Begeisterungsstürme ausbrachen. Manchmal sahen wir uns »Erkennen Sie die Melodie?« an, ein Musikquiz, welches in gütiger Strenge von dem gelernten Friseur Ernst Stankovski moderiert wurde. Nach der Titelmelodie (der Ouvertüre zu »Donna Diana« von Emil Nikolaus von Reznicek) folgte ein einigermaßen erschütterndes Ratespiel mit den Themenkreisen »Oper«, »Operette« und »Musical«. Mein Vater wusste praktisch alles, außer im Bereich »Musical«, was er damit begründete, dass Musicals von minderem Wert seien, »West Side Story« vielleicht einmal ausgenommen. Musicals waren für ihn das Letzte, er sammelte so etwas auch nicht. Er besaß zudem nur drei Pop-Schallplatten, die er aber nicht für würdig befand, in seinen Katalog aufgenommen zu werden. Es handelte sich um je eine Platte von Neil Diamond, Simon & Garfunkel und den Beatles. Er fand, das sei zwar im strengen Sinne keine Musik, aber nicht vollkommen unerträglich. Über den in meiner Kindheit enorm populären James Last oder die Schlagermusik der siebziger Jahre äußerte er sich überhaupt nicht. Gar nicht. So etwas existierte für ihn nicht. Es konnte höchstens geschehen, dass er im rheinischen Karneval mit den Füßen zu »Es ist noch Suppe da« wippte, aber auch dies nicht aus Anerkennung, sondern allenfalls irgendwelchen ihm unerklärlichen motorischen Bedürfnissen genügend. Die Ausflüge des Tenors Peter Hofmann in den Bereich der Rockmusik verzieh er ihm nicht, Hofmann war danach bei ihm unten durch. Seine Kennerschaft in Bezug auf klassische Musik veranlasste ihn und meine Mutter zu weiten Reisen, um eine bestimmte Inszenierung oder einen Dirigenten oder ein Orchester zu sehen.
Einmal brachte er von so einer Reise ein sehr merkwürdiges Souvenir mit. Er hatte, das muss kurz vor dessen Tod gewesen sein, zwei Eintrittskarten zu einem Gastspiel des von ihm bewunderten Vladimir Horowitz in Berlin ergattert. Das Konzert, bei dem er im Publikum gesessen hatte, wurde aufgezeichnet und gesendet und mein Vater nahm es bei der Ausstrahlung aus dem Radio auf, klebte ein Pünktlein in sein Archivbuch und schrieb alles hinein, was er hineinschreiben musste. Als die Aufnahme etwa eine Dreiviertelstunde lief, stellte er sich mit erhobenem Zeigefinger mitten ins Wohnzimmer und sagte: »Gleich!« Dann folgte eine ruhige Stelle im Konzert, es vergingen einige Sekunden, in denen er um höchste Aufmerksamkeit bittend die Augenbrauen hob und seine Familie mit weit geöffneten Augen anstarrte. Dann flüsterte er: »Jetzt!« – und zwischen zwei einzelnen Tönen des Horowitz’schen Spiels war ein dezentes, kaum wahrnehmbares Hüsteln zu hören. Das war mein Vater. Er hatte sich in einem legendären Konzert von Vladimir Horowitz verewigt. Er war sozusagen Teil der Aufführung geworden, hatte dieser sein Wasserzeichen eingehüstelt und teilte fortan eines seiner Tonbänder mit einem der größten Pianisten des zwanzigsten Jahrhunderts. Zwar bestand mein Vater darauf, dieses Verbrechen nicht mit Absicht begangen zu haben, sondern Opfer eines kleinen Infektes geworden zu sein, der sich just in jenem Augenblick der Aufführung ohne sein bewusstes Zutun und unter seinem größten Bedauern Geltung verschafft hatte, aber so ganz sicher bin ich da nicht. Schließlich hätte er auch an einer lauteren Stelle husten können und das wäre keinem Menschen aufgefallen. Was mich an der Episode bis heute sehr beeindruckt, ist, dass er auf die tausendstel Sekunde genau wusste, in welchem Takt sein Husten zu hören sein würde.