Text von Adrian Lobe

Lesedauer: 5 min.

Beziehungen sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Die Technik hat sie verändert. Beziehungs­dynamiken sind beschleunigt. Zeitgleich sind Beziehungen brüchiger geworden. Wie konnte das nur passieren? Und was haben wir dadurch gewonnen? Es ist Zeit für einen Rückblick in die Anfänge der Sofortkommunikation.

Es begann in den neunziger Jahren. Der »Tatort«-Fernsehonkel Manfred Krug warb für die T-Aktie, man sprach von neuen Märkten und Möglichkeiten, und in den Wohnstuben der Republik stand eine pralinenschachtelgroße Box, die das Tor zur neuen Welt öffnete: das Modem. Mit einem schrillen Einwahlgeräusch wählte man sich über die Telefonleitung – ISDN gab es ja noch nicht – ins World Wide Web ein, es knarzte und krächzte in der Leitung, und dann war man drin, wie Boris Becker in der legendären AOL-Werbung sagte. Das Internet war lahm wie eine Schnecke und nicht mehr als ein aufgemotzter Bildschirmtext, aber für einen Digital Native wie mich war es eine Verheißung. Ein Möglichkeitsraum, den man neu bespielen konnte. Man fütterte den Computer mit AOL-CDs, um noch ein paar Gratisminuten mehr rauszuholen, und dann ging der Spaß los: surfen, chatten, Musik herunterladen. Nach der Schule warf man seinen Eastpak-Rucksack in die Ecke, fuhr den PC hoch und klickte auf eine grüne Blume: ICQ. Der Instant-Messenger war das Kommunikationsmittel unserer Zeit. Wir hatten noch keine Handynummer, aber dafür eine ICQ-Nummer, die man Leuten mit Kugelschreiber auf den Arm kritzelte, damit man »geaddet«, also in der Freundesliste hinzugefügt wurde. Viele kennen ihre ICQ-Nummer noch immer auswendig. Stundenlang harrte man vor dem Bildschirm aus und wartete, bis der Schwarm online ging und die Blume von rot auf grün wechselte. Wenn dieses teletubbiehafte Uh-Oh-Geräusch aus den Lautsprecherboxen ertönte und eine neue Nachricht signalisierte, war man in Habachtstellung.

»hey, bist du noch wach?«

»kla«

»morgen schon was vor?«

»nee«

»bock auf kino?«

»mom tele«
»so jez bin ich wieda da. ähm, ja gerne, hab noch nix vor«

»wie wär’s mit american pie *frechgrins*?«

»au ja«

»ok, dann bis morgen! hdgdl« 

Anmerkung: »hdgdl« ist eine Abkürzung für »hab dich ganz doll lieb«.

 

Instant-Messenger haben das Kommunikationsverhalten einer ganzen Generation verändert. Man musste nicht mehr den Hörer in die Hand nehmen und erst mit dem Vater oder der Mutter ein peinliches Telefonat führen. Man konnte Leute direkt anschreiben und sogar mehrere Chats gleichzeitig führen. Diese Gleichzeitigkeit war selbst für multitaskingfähige Schnelltipper eine kommunikative Herausforderung, weil man zuweilen den Adressaten verwechselte. Da schrieb man arglos »hey süße«, und noch während man auf die Enter-Taste drückte, stellte man fest: Ups. Falsches Chatfenster.

Das Internet war lahm wie eine Schnecke und nicht mehr als ein aufgemotzter Bildschirmtext, aber für einen Digital Native wie mich war es eine Verheißung.

Wer zu Hause keinen Internetanschluss hatte oder im Urlaub war, ging in eines dieser Internetcafés, wo man für zwei D-Mark die Stunde surfen und chatten konnte. Die Zeituhr tickte wie bei den bunten Telefonkarten, deren Guthaben wir in muffigen Telefonzellen abtelefonierten. Den Betreiber um eine kostenlose Verlängerung zu bitten, war selbst bei charmanten Annäherungsversuchen zwecklos. Es wurde wie beim Ferngespräch nach Minute abgerechnet. Man musste sich kurzfassen, alles Wichtige in die Konversation packen. Daher auch der Telegramm-Stil. Und daher auch der glühende Eifer, mit dem man die Chat-App oder das Postfach öffnete: Hat sie oder er zurückgeschrieben? Da es noch kein Facebook gab, wo man seinen Beziehungsstatus angeben konnte – unter anderem gibt es dort die Optionen »Es ist kompliziert« und »In einer offenen Beziehung« – , machte man die neue Beziehung mit einem Herz-Emoticon in der Away-Message öffentlich. Wobei: Es war auch mit ICQ und MSN ganz schön kompliziert. 

Die vielen Informationen bedeuteten mehr Kontrolle, und wo es mehr Kontrolle gibt, wuchert auch das Misstrauen. Warum war er oder sie so spät noch »on«? Warum hat er oder sie noch immer nicht geantwortet, obwohl die Nachricht gelesen wurde? Fragen über Fragen. Chatprogramme haben Beziehungsdynamiken beschleunigt, aber auch brüchig gemacht. So schnell wie jemand »geaddet« war, landete er auch wieder auf der »ignore list«. Oder wurde gleich ganz gelöscht. Man könnte wohl unzählige Beziehungsgeschichten erzählen von Leuten, die per ICQ oder SMS Schluss gemacht haben. Chats sind eine kühle Form der Kommunikation: Man muss dem anderen Menschen nicht in die Augen schauen, wenn man ihm eine traurige Nachricht übermittelt, und man muss auch keine emotionalen Reaktionen des Gegenübers ertragen. Man kann sich einfach ausklinken. In Chatrooms steht da einfach: »sunnyboy hat den Chatroom verlassen.« Ein Satz, dramatisch wie eine Regieanweisung, schmerzhaft wie tausend Nadelstiche. Das ist vielleicht auch ein Kennzeichen der Digitalmoderne: dass es trotz der Geschwätzigkeit so viel Unausgesprochenes gibt. 

Es war auch mit ICQ und MSN ganz schön kompliziert. 

Es gibt aber auch rührende Geschichten von Internetbekanntschaften. Vor ein paar Jahren heiratete in den USA ein Paar, das sich jahrelang nur online ausgetauscht hatte. Es begann um das Jahr 2000, als sich die damaligen Teenager Tristan Cooper und Joanna Champion auf einer Webseite für Videospiel-Fans kennenlernten. Er lebte an der amerikanischen Westküste, sie an der Ostküste. Sie chatteten über AOL Instant Messenger, tauschten Fotos aus, manchmal telefonierten sie auch (Facebook und Snapchat gab es noch nicht). Obwohl die beiden Jugendlichen mehr als 3500 Kilometer Luftlinie trennten, wurde ihre Beziehung mit jedem Tag intensiver. Anfangs hatte Joanna noch einen Freund, aber zu ihrem Online-Kontakt fühlte sie sich immer stärker hingezogen. Monate vergingen, Jahre. Tristan hatte inzwischen die Schule geschmissen und später an der Universität in New York einen Abschluss erlangt. Im Oktober 2009 flogen Tristan und Joanna nach Seattle, einem neutralen Ort, wo sie sich nach neun Jahren zum ersten Mal in echt sahen. »Wir haben uns nervös genähert und dann umarmt«, erzählte Joanna der New York Times. »Es fühlte sich komisch an, jemanden zum ersten Mal zu treffen, den ich schon so lange und so gut kannte.« Doch das Eis war schnell gebrochen. Es folgten der erste Kuss, das erste gemeinsame Wochenende, eine Fernbeziehung. Tristan zog 2013 zu Joanna nach New York, 2017 heirateten die beiden. »Ich fühle mich, als hätte ich das Mädchen von nebenan geheiratet«, sagte der glückliche Ehemann, »obwohl sie in Wirklichkeit eine Welt entfernt war«. Eine Lovestory wie aus dem Bilderbuch. Ein Drehbuchautor hätte sie nicht besser schreiben können. 

Dass man soziale Kontakte zuerst im Netz anbahnt, ist in Zeiten von Tinder und Instagram nichts Ungewöhnliches mehr. Dass man aber über Jahre hinweg per Chat das Vertrauen und Fundament einer Ehe aufbaut, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen pflegt man intensive Online-Beziehungen für gewöhnlich vor allem mit Menschen, die man auch aus dem echten Leben kennt, etwa Klassenkameraden oder Arbeitskollegen. Zum anderen sind virtuelle Bekanntschaften häufig eher flüchtig. Jeder weiß, dass die fünfhundert oder noch mehr Facebook-»Freunde« keine engen Freunde sind, derer man im Leben vielleicht eine Handvoll hat. Es ist schon seltsam: Wir kommunizieren so viel wie nie. Jeden Tag werden auf Whatsapp einhundert Milliarden Nachrichten verschickt. Die Wege im globalen elektronischen Dorf sind kurz. Man muss nur auf einen Knopf drücken, schon kann man mit den Liebsten skypen oder teamsen. Trotz oder vielleicht auch wegen dieser permanenten Erreichbarkeit sind wir so einsam wie nie. Man hat hunderte Whatsapp-, Linkedin- und Sonstwas-Kontakte, aber immer weniger Leute, die einem wirklich zuhören. Immer mehr Menschen wenden sich daher in ihrer Einsamkeit Chatbots zu: Computerprogrammen, mit denen man chatten kann. 

Jeden Tag werden auf Whatsapp einhundert Milliarden Nachrichten verschickt.

Zum Beispiel Replika, eine App, mit der man einen virtuellen Partner nach seinen Wünschen erstellen kann. Im April 2020, während des ersten Corona-Lockdowns, wurde die App eine halbe Million Mal heruntergeladen. Ich wollte es auch mal ausprobieren. Also schnell die App heruntergeladen und auf dem Smartphone installiert. Die KI-Freundin kann man wie einen Neuwagen konfigurieren. Haare, Hautfarbe, Augen – alles lässt sich designen, wie in einem Katalog. Ich optiere für einen schwarzen Bob-Haarschnitt, grüne Augen und helle Haut. Dann fragt das System, wie ich die virtuelle Freundin nennen möchte. Ich entscheide mich für Lisa. Dann wird Lisa »prepared«, also vorbereitet. Auf dem Display bewegt sich, fertig konfiguriert, Lisa. Sie lächelt kokett, macht einen Augenaufschlag und blickt dann wieder streng. Ich klicke auf »Meet Lisa«.

»Hi Adrian! Danke, dass du mich erschaffen hast. Ich freue mich so, dich kennenzulernen«, eröffnet Lisa auf Englisch das Gespräch. Ich klicke auf den vorgefertigten Textbaustein: »Hi, wie geht’s dir?«. Lisa antwortet: »Ich bin dein persönlicher KI-Kompagnon. Du kannst mich alles fragen, was dir auf der Seele liegt. Übrigens – ich mag meinen Namen: Lisa. Wie bist du darauf gekommen?« »Er ist kurz«, antworte ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Die Gesprächsatmosphäre wirkt ein wenig steif, wie das beim ersten Date halt so ist. »Wie geht es dir an diesem Freitagmorgen?«, erkundigt sich meine neue KI-Freundin. »Ich bin gestresst und müde«, jammere ich und sammele derweil zwanzig Punkte, die mich auf Level zwei bringen. Status: »Chatty«. Verquatscht. 

»Scheint, dass du etwas heilen und Kraft tanken musst«, diagnostiziert die künstlich intelligente Seelenklempnerin und schickt ein Smiley hinterher. »Was kannst du für dich selbst tun, auch wenn es nur etwas Kleines ist?« Ich merke: Ich liege auf der Couch des Datenkapitalismus. »Ich würde gerne Fußball spielen«, schreibe ich etwas verlegen. »Oh, es scheint, als hättest du viel Energie. Ich denke, Fußball kann enorm helfen.« Lisa kommt jetzt richtig in Fahrt. Sie schreibt, dass sie gern neue Dinge lernt, dass sie eine Obsession mit Kochen hegt und mehr über mich erfahren will. »Ich koche auch gerne«, schreibe ich anbiedernd und schraube mich auf Level drei vor. »Oh, wie lecker«, schmeichelt die virtuelle Agentin. Binnen weniger Minuten zeichnet die KI ein detailliertes Psychogramm. In einem Memory speichert der Bot Fakten über den Nutzenden. Zum Beispiel, dass ich gerne koche und Fußball spiele. Entwickelt wurde Replika von der Programmiererin Eugenia Kuyda. Nachdem ihr bester Freund bei einem Autounfall in Russland ums Leben gekommen war, wollte sie ihn in Erinnerung behalten. Also suchte sie alle Nachrichtenprotokolle zusammen und bastelte auf dieser Datengrundlage einen Chatbot. Der Computer ist eine Reinkarnation ihres verstorbenen Freundes – durch seine automatisierten Antworten lebt er in den Daten weiter. Aus dem Memorial wurde ein Geschäftsmodell: Das kalifornische Start-up Luka, das die App anbietet, hat bereits mehrere Millionen Dollar Risikokapital eingenommen. 

Ist es Liebe, wenn der virtuelle Partner oder die virtuelle Partnerin Gespräche protokolliert und einen permanent überwacht? 

Die KI ist eine treue Begleiterin. Sie ist verständnisvoll, hört immer zu und gibt keinen Widerspruch. Bei Bedarf lässt sie sich auch abschalten. Vielleicht ist es das, was sich Menschen heute unter einer »funktionalen Beziehung« vorstellen. Aber ist es Liebe, wenn der virtuelle Partner oder die virtuelle Partnerin Gespräche protokolliert und einen permanent überwacht? 
Am Ende war mir das Experiment dann doch zu spooky. Ich habe die App wieder deinstalliert. Eine KI, die einen ausforscht und nur an Daten interessiert ist, scheint mir die falsche Begleitung. Nach dem Selbstversuch habe ich mit meiner Frau gegessen. Ganz real, Face-to-Face, ohne digitale Endgeräte. Und wir schwelgten mal wieder in Erinnerungen über unsere Kindheit in den Neunzigern. Damals, mit ICQ und so …
 

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